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Wieso sind in Fantasysettings so oft so wenige Bewohner vorgesehen?

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ghoul:
Die Frage nach der Größe von Städten habe ich mir auch gestellt, als ich mein Fantasy-Setting Tarnowo 1277 entworfen habe - Bulgarien im Jahr 1277 halt. Dazu habe ich u.a. eine Dissertation über die Wirtschaft Bulgariens im 13. Jahdt ausgewertet.
Schwierig ist es offenbar, Bevölkerungszahlen der Städte in der Zeit vor 1348 (Pestepidemie) zu finden.
Für zwei Städte in meinem Setting konnte ich Berechnungen verwenden, in welche Ausgrabungsergebnisse bez. Bebauungsdichte und Stadtfläche eingingen. So kam ich ziemlich zuverlässig auf 10'000 Einwohner für die größte Stadt Bulgariens im Jahr 1277: Tarnowo, die Zarenstadt. Für Tscherwen 4000 Einwohner, das war die zweitgrößte bulgarische Stadt in meinem Setting. Für die auf meiner Hexkarte (klick mich) eingezeichneten Städte habe ich 1000 bis 4000 Einwohner festgelegt, wobei im Flachland, besonders an den Straßen und Flüssen, nicht verzeichnete Zwergstädte und Dörfer sind (1 Hex = 20 km, da passt auch bei einer geringen Bevölkerungsdichte viel hinein).

Kopfzerbrechen hat mir Konstantinopel im Jahr 1277 bereitet, irgendetwas im Bereich von 20'000 bis 200'000 Einwohnern könnte korrekt sein - ich bin einfach mal von 40'000 ausgegangen (2. Byzantinisches Reich in seinen Anfängen, nach dem Lateinischen Reich).

Aedin Madasohn:

--- Zitat von: Supersöldner am 13.12.2017 | 15:04 ---wenn du sie Größer machen willst musst du halt auch die Gesellschaft darum herum an passen .

--- Ende Zitat ---

ich würde die Aussage von Supersöldner noch um die Form der Nahrungs-Wirtschaft erweitern.

bei so klitzekleinen Städten (die rechtlich nur das Stadtrecht verliehen bekommen haben; ist keine echte Aussage über Größe) kann die Frage nach der Lebensmittelversorgung im Vorbeigehen mit umliegenden Feldern und fertig beschrieben werden.

verlässt man diese 350 Seelen-Ansiedlungen und geht gleich einen großen Schritt zur 100.000, so ist eine ausgeklügelte Logistik nötig, um den benötigten Vorrat herbeizuschaffen.
Außerdem der Flächenbedarf, so dass gewaltige Räume mit Feldern und Weiden benötigt werden.
Kurzum, 100 k Städte drehen gleich alles in einem Spiel, da sie nicht einfach 100 k Leute innerhalb einer Mauer sind, sondern auch noch zehntausende Landarbeiter in einer ganz klar durchstrukturierten Plantagenlandwirtschaft (punisches und später römisches Karthago in Tunesien; Ägypten mit Bewässerung etc.pp.) benötigen.
Ohne klare Struktur brechen diese System ezusammen - gleichzeitig wird eine straffe Staatsverwaltung wider zu etwas, was jetzt zwingend ins Setting gehört.
Also auch dort Beschreibungsaufwand.
Nehme ich eine gering-produktive Landwirtschaft mit wenig Verwaltung an, so brauche ich plötzlich eine Millionen auf dem Land, damit in der Metropole 100 k genug zu essen haben. Also schon mal 1,1 Millionen in einem Reich oder Provinz. Will man das wirklich schon so groß?
wenn ja, dann ist Antike mit seinen Strukturen der richtige Rahmen
bei kleineren Strukturen der Verwaltung und Logistik halt auch gleich klitzekleine Siedlungseinheiten wie im Frühmittelalter.

was die angenommene lineare Leistungssteigerung der Landwirtschaft angeht. Ägyptische Anbauerträge waren immer abhängig von dem Instandhaltungslevel der Bewässerung.
Verschlammt und verkommen gab es plötzlich nicht mehr die Möglichkeit, hundertausende Scheffel zu exportieren.
In der Wikipedia gibt es dazu Berechnungen (geh über die Staudammprojekte rein).
Persien ist ebenfalls ein gutes Beispiel, weil dort nach diversen Zerstörungsorgien durchreisender Turanier/Türken/Mongolen die in diesem Klima unverzichtbaren Bewässerunsganlagen verfielen und damit nach dem Schwert der Hunger wütete.

Europaisches Regelfeldbau-Fäntelalter mit geringen Erträgen und klitzekleinen Fitzelstädten ist da um Längen leichter zu händeln und ein Einstieg in die Materie.
aber nur zu. Bau dir deine SettingStädte größer und mit mehr Abhängigkeiten aus dem Wirtschaftsraum heraus und schon gibt es neue Aufhänger für das Spiel  :)
 

Huhn:
Vielleicht hat ne Bibliothek in der Nähe ja das Buch von Herrn Isenmann zur mittelalterlichen Stadt, da dürften solche Fragen für Rollenspielbelange ausreichend beantwortet werden: Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Köln 2012.

Davon ab hab ich mich vor Jahren mal im Rahmen einer Hausarbeit unter anderem in die Bevölkerungszahlen bestimmter mittelalterlicher (Hanse-)Städte eingelesen. Tatsächlich werden die Zahlen immer ungenauer, je weiter zurück der betrachtete Zeitraum liegt. Während für Frühe Neuzeit und Spätmittelalter im Bestfall die städtische Verwaltungsbuchhaltung (die ja wiederum mit der heutigen absolut nicht vergleichbar ist) überliefert ist, wird's für die Zeit davor wirklich schwierig. Da läuft es am Ende auf Schätzungen aufgrund archäologischer Grabungen oder sonstiger Hinweise hinaus, die zum Teil stark auseinandergehen.

Für Novgorod etwa, den Sitz des Hansekontors in der Rus', wird die EW-Zahl vom Hanseforscher Rolf Hammel-Kiesow gegen Ende des 10. Jahrhunderts auf 2.000 geschätzt, in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts dann auf ca. 15.000 (das entspricht etwa der Lübecks um 1300). Für die Hochzeiten Novgorods im späten Mittelalter geht Stephan Selzer von 20.000 - 25.000 EW aus, sein Kollege Norbert Angermann von 30.000.  Andrzej Poppe kommt sogar auf 70.000 - 80.000 EW für das 14./15. Jahrhundert (für den gesamten Stadtstaat Novgorod, der immerhin 1,5 Mio qkm umfasste, schätzt Poppe die EW-Zahl auf 700.000 Menschen). Die Zahlen von Poppe sind aber die mit Abstand höchsten, die ich finden konnte und da das ein Lexikonartikel (Art. "Novgorod" im Lexikon des Mittelalters) war und ich mich nicht zu sehr reinvertieft habe, hab ich keine Ahnung, wie Poppe auf diese im Vergleich zu den anderen Forschern so hohen Zahlen kam.

Für Riga im heutigen Lettland habe ich für 1500 Bevölkerungsschätzungen von 6.000 - 10.000 Personen gefunden (Andris Šnē) und allgemein für das 16. Jahrhundert eine Angabe von 12.000 Personen (Heinrich von zur Mühlen im LexMA).
Für Reval, das heutige Tallinn in Estland, wird die EW-Zahl für 1600 mit 5.000 (unter Einbeziehung von Fischermy und Dom 6.500) angegeben (auch Heinrich von zur Mühlen im Artikel zu Reval).
Zugegebenermaßen lagen Riga wie Reval wohl auch eher im von uns aus betrachtet peripheren Bereich  - nichtsdestotrotz waren das zwei wirtschaftlich wie politisch einflussreiche und bedeutende Städte. Riga kontrollierte den Inlandhandel über die Düna, während Reval im Spätmittelalter Lübeck aus seiner Führungsrolle am Novgoroder Hansekontor verdrängte. Beide Städte, Riga und Reval, hatten großen Einfluss im gesamten livländischen Bereich.

Leider find ich die genauen Zahlen und die Literatur dazu gerade nicht mehr - aber als es darum ging, dass die livländischen Städte (neben Riga und Reval gabs da ja noch mehr) sich finanziell und personell an kriegerischen Auseinandersetzungen der Hanse beteiligen sollten, konnte man anhand der Summen, die aus den Städten gegeben wurden, deutlich sehen, dass Riga und Reval mit irgendwas um die 200 deutlich mehr gaben als die nächst-kleinere livländische Stadt, bei der die Summe einstellig war. Klar, hat auch was mit Wirtschaftsmacht, nicht nur Bevölkerungsmenge zu tun, aber ich denke, solche Zahlen veranschaulichen schon auch Größenunterschiede. Und nachdem wir jetzt wissen, dass schon Reval aus heutiger Sicht keine Metropole war, können wir uns vielleicht vorstellen, wie es in Städt(ch)en wie Narva oder Fellin aussah.

So große Städte wie wir sie uns heute unter einer mittelalterlichen Stadt vorstellen (Lübeck etwa, Nürnberg, Brügge oder eben auch Novgorod) sind wirklich die Ausnahme. Dass die unser Bild vom Mittelalter so dominieren, liegt vermutlich an der Überlieferungslage, die es uns schwerlich erlaubt, uns mit kleineren Siedlungen in solcher Ausführlichkeit zu befassen.  (Zu dem Thema gibt es einen tollen Artikel von Arnold Esch: Überlieferungschance und Überlieferungszufall als methodisches Problem des Historikers (aufbrufbar von manchen Bibliotheksnetzwerken aus)).

Insofern find ich es jetzt nicht unrealistisch, wenn Städte nur ein paar hundert Einwohner haben. Stadt bedeutete im Mittelalter ja primär (zumindest für das Hl. Röm. Reich), dass das Stadtrecht erwirkt wurde, nicht, dass die Siedlung eine bestimmte Größe gehabt hätte.

Olibino:
Fantasy orientiert sich doch eher an Märchen als am echten Mittelalter. Man braucht Platz für finstere Wälder, vergessene Ruinen, Riesen usw..

KhornedBeef:

--- Zitat von: Olibino am 13.12.2017 | 22:06 ---Fantasy orientiert sich doch eher an Märchen als am echten Mittelalter. Man braucht Platz für finstere Wälder, vergessene Ruinen, Riesen usw..

--- Ende Zitat ---
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