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[The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus

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Chiarina:
Am Belugha-See nehmen die Minotauren Abschied von Mamsir. „Was wird nun aus deinem Epos?“, fragt Lokapriya. Mamsir meint: „Ich weiß es nicht, aber mit eurer Hilfe habe ich die Geschichte doch sehr weit vorangebracht. Den Schluss muss ich vielleicht allein finden.“ Der alte Mann erhebt die Hand zum Gruß und macht sich auf den Rückweg.

Dann beginnen die Minotauren am Seeufer ihr Lied zu singen. Der gewaltige Belugha taucht aus dem Wasser auf und lobt ihren Gesang, von den Stimmen ist aber nichts zu sehen. Nachdem die Minotauren Belugha erzählt haben, was sie hier tun, meint dieser: „Na, die Stimmen sucht ihr hier vergebens. Ich glaube, sie sind einverstanden damit, den See mir zu überlassen. Sie zeigen sich hier fast nie. Ihr könnt aber schon einmal anfangen zu erzählen. Vielleicht hilft euch das ja auf eurem Heimweg nach Dégringolade!“ Lokapriya beginnt daraufhin von einem Floß zu erzählen, dass ihn und seine Gefährten den Vadhm hinab zur Stadt zurückbringt. Tatsächlich haben die Minotauren schnell Holz gefunden und zusammengebunden. Der Rückweg geht erfreulich schnell vor sich. „Haben wir das deiner Erzählung zu verdanken oder ist es der Segen des großen Belugha, der uns hier begleitet?“, fragt der zweite Advokat Lokapriya. Der Philosoph zuckt mit den Schultern.

Chiarina:
Schließlich kommt Dégringolade in Sicht. Wie bereits vor einiger Zeit erreichen die Minotauren das Stadtgebiet, indem sie auf ihrem Floß das Tor von Bari-Ein durchfahren. Die Stadt sieht mitgenommen aus. Der Dschungel ist erschreckend weit über den Stadtrand hinweg gewuchert. In der Stadt sind Gebäude eingestürzt. Wurzeln bohren sich aus den Wegen und machen sie an einigen Stellen unpassierbar. Als die Minotauren durch Rhomoon fahren, halten einige von ihnen nach ihren früheren Wohnungen Ausschau. Die Hütte des Anführers ist nicht wieder aufgebaut worden. Es sieht so aus, als wären einige ihrer Überreste vom Fluss weggespült worden. Die Seide und das Haus des Porfirio Empyreus stehen noch. An den Grundstücksmauern von Porfirios Villa patrouillieren schwergerüstete Wachen und verleihen dem Anwesen das Aussehen einer Festung.

Später erreichen die Minotauren die drei Inseln. Es ist der Ort, an dem einst das Rinderopfer stattfand. Die Minotauren verlassen ihr Floß, stellen sich ans Ufer des ewigen Flusses und singen ihr Lied. Schon bald aber laufen ein paar Menschen zusammen und schimpfen. Sie fühlen sich von dem Gesang belästigt. Als ein paar von ihnen mit Gemüse werfen und ein paar Bewaffnete auf die Minotauren zukommen, verschwinden diese.

Der Weg zum Turm der Helden ist nicht weit. Kurz bevor sie den davor befindlichen Platz erreicht haben, ist aber ein lautes Wehklagen zuhören: „Oh nein!“, ruft da jemand voller Verzweiflung. Die Minotauren beschleunigen ihren Schritt und sehen, wie Gerdatosa, der Verwalter des Turms der Helden, mit schmerzverzerrtem Gesicht eine geisterhafte Gestalt an einem der Tische vor dem Turm erblickt. Es ist Halifa, die ein Pergament auseinanderfaltet und deutlich vernehmbar zu lesen beginnt:

„Ich bin nicht die Zukunft

Du kannst mir die Finger küssen,
sie aber nicht zu Gitterstäben machen.

Deine Liebeserklärung flog durch dunkle Wolken,
erreichte mich spät,
ließ sich zwischen ein paar Erinnerungen nieder
und verteilte sich schließlich in meinem ganzen Körper.

Schuld ist das Pochen in der Brust.
Wir haben uns von unseren Ängsten erzählt und
noch bevor du mein nachtschwarzes Herz erreichtest,
war ich ein Gefangener des Lichts,
das die Milchstraße deiner Augen aussandte.

Später, wenn du dafür in Stimmung bist,
werde ich dir gewissenhaft das Allheilmittel verabreichen,

aber vergiss das Heim,
das du in meiner Handfläche zu erkennen glaubst.

Ich bin nicht die Zukunft.

Gerdatosa.“

Der Geist Halifas blickt mit Tränen in den Augen ins Nichts und sagt: „Gerdatosa, Liebster, wenn du Recht hast, dann habe ich keine Zukunft mehr. Ich werde eine traurige Heldin abgeben!“ Sie verschwindet im Turm, kommt wenig später auf der Turmspitze wieder zum Vorschein und stürzt sich herab.“

Gerdatosa und auch die Minotauren schauen sich das Geschehen mit wachsendem Grauen an. Der Anführer ist allerdings der erste, der sich aufrafft und seine Gefährten zur Vernunft ruft. „Freunde, wir haben hier einen Auftrag. Lasst uns den Turm besteigen!“ „Nun gut“, meint Lokapriya. „Ich muss dann eben hinterher mit dem Turmverwalter noch ein Gespräch führen.“

Chiarina:
Wenig später stehen die Minotauren auf dem Turm. Sie alle können die konzentrischen Kreise sehen, die die Stadt und den Dschungel zu gliedern und ihr Zentrum ungefähr dort zu haben scheinen, wo sich Mamsirs Hütte befindet. Dann singen die Minotauren ihr Lied. Der zweite Advokat scheint schon bald auf außergewöhnliche Weise beseelt zu sein. Inmitten der Minotauren erscheint außerdem die bereits bekannte Lichtgestalt, deren Äußeres sich aufgrund ihrer Helligkeit kaum erkennen lässt. Schließlich bemerken die Minotauren, wie sich die Steine des Turmes zu ihren Füßen rötlich färben. „Die drei Stimmen“, meint Lokapriya. „Sie sind alle hier.“ „Und die helle Stimme in unserer Mitte – nickt sie nicht wohlwollend mit ihrem Kopf?“, fragt Saibhang. Ob das stimmt oder nur Einbildung ist, weiß aber keiner seiner Freunde genau zu sagen.

Dann endet das Lied der Minotauren und auf den ersten Blick scheinen die Stimmen zu verschwinden und alles sieht so aus, wie es war. Dennoch fühlen sich die Minotauren in einem außergewöhnlichen Zustand. „Es ist etwas in mir, das ich nie zuvor gespürt habe!“, meint der zweite Soldat und seine Gefährten nicken, weil sie ähnlich fühlen.

Chiarina:
„Lasst uns zu den Besuchern des Turms hinabsteigen!“, meint Lokapriya. So geschieht es. An den Tischen am Fuß des Turms der Helden sitzen wie so oft Gäste, die jetzt, nach Einbruch der Dämmerung, das Treiben der geisterhaften Helden aus früheren Zeiten beobachten. Nur Gerdatosa sitzt noch immer voller Schmerz allein an einem der Tische und weint große, salzige Tränen. Lokapriya geht zu ihm und fragt: „Was ist geschehen, Gerdatosa?“ Der Mann mit den hübschen Blumentätowierungen auf den Armen sagt: „Ich war ein paar Tage bei meiner Schwester in Kantairon. Als ich zurückkam, hörte ich davon, dass sich irgendjemand vom Turm der Helden gestürzt haben soll. Ich wusste nicht, wer es gewesen ist. Eben erst ist meine geliebte Halifa hier als Geist erschienen. Offenbar hat sie der Turm in die Reihe seiner Helden aufgenommen. Ich musste ihre Todesszene mit ansehen. Diese Verse aber, die sie gelesen hat – die habe ich nie geschrieben! Ich bin gar kein Mann, der Verse dichtet! Diesen Brief muss ihr irgendein übelwollender Mann untergeschmuggelt haben!“ „Das hört sich für mich so an, als stecke Kanta Planudes dahinter“, meint Saibhang. „Er scheint sich auf besonders grausame Weise an der Frau gerächt zu haben.“

Lokapriya legt Gerdatosa, dem Turmverwalter, seine Hand auf die Schulter und will ihn trösten. Dann aber verfolgen seine Gedanken eigene Wege. Er denkt an die Schicksale, die er in der Seide kennengelernt hat, an seine unterdrückten Brüder, an die brennenden Häuser, an die platzenden Steine, an den wuchernden Urwald und die nächtlichen Straßenwachen. Er denkt an das fehlgeschlagene Rinderopfer, das brennende Amphitheater und die die Leichen der im Dschungel gefallenen Soldaten, die von Termiten zerfressen werden. Und nach einer ganzen Weile erhebt sich Lokapriya, wendet sich an die Besucher auf dem Platz vor dem Turm der Helden und erzählt.

Lokapriya berichtet von einem eifersüchtigen Mann, der gewalttätig wird, hinterher aber seine Frau um Vergebung bittet. In seiner Erzählung tauchen danach auch Menschen auf, die Minotauren um Vergebung für vergangenes Leid bitten. Der Hass zwischen Menschen und Minotauren scheint plötzlich völlig sinnlos zu sein.

Die Menschen auf dem Platz vor dem Turm der Helden hören dem Philosophen aufmerksam und überrascht zu.

Dann ergreift der zweite Advokat das Wort und erzählt ebenso. Er berichtet vom Gesang der Flussdelphine, der so süß tönt, dass die Vorstellung, jemand könnte diese gesegneten Kreaturen zu einem Aphrodisiakum verarbeiten, völlig abwegig erscheint. In seiner Geschichte werden auch die Kerne der gefleckten Zitrone erwähnt. Ihre Verwendung als Gift, das Personen im ewigen Fluss ertrinken lässt, erscheint in seiner Geschichte als ebenso schreckliches Missverständnis, wie alle anderen Opferungen, die aus welchen merkwürdigen Ritualen auch immer an Personen begangen werden.

Die Menschen auf dem Platz vor dem Turm der Helden hängen inzwischen an den Lippen des Vortragenden. Es ist unübersehbar, dass auch sie der Meinung sind, hier ereigne sich etwas ausgesprochen Wichtiges.

Als nächstes erzählt Saibhang. Er schildert eine Szene, in der viele Menschen mit Minotauren gemeinsam in den Quell des Vertrauens und danach Hand in Hand wieder heraussteigen. Am Ende seiner Erzählung beenden die Menschen gemeinsam mit den Minotauren den Immerkrieg im Dschungel.

Mit weit aufgerissenen Augen nicken die Menschen auf dem Platz vor dem Turm der Helden zu Saibhangs Geschichte. Es scheint eine wunderbare Idee zu sein, wovon der Minotaur spricht.

Es folgt die Erzählung Myrtakays. Er erzählt von Personen, die nur aufgrund ihrer Familienzugehörigkeit bevorzugt oder eben auch benachteiligt werden. Der Held seiner Geschichte ist ein Fünfzehnjähriger an der Schwelle zum Erwachsenenalter, der trotz eines schlechten Rufes Selbstbewusstsein gewinnt und es sich nicht bieten lässt, dass ihn andere herumkommandieren oder schikanieren. Der junge Mann betätigt sich im Folgenden als Arzt, der Eukalyptus und Karpfenspeichel als Heilmittel verwendet. Es gelingt ihm, die Lebensqualität seiner Mitmenschen zu steigern und den friedlichen Umgang miteinander unter ihnen zu fördern.

Die Menschen auf dem Platz vor dem Turm der Helden murmeln lange beifällig, nachdem er seine Geschichte beendet hat.

Dann beginnt der erste Soldat zu sprechen und erzählt davon, wie die Schnecken aus den Gärten der Reichen verschwinden und in den Dschungel kriechen. In seiner Geschichte hören die Menschen auf Drogen zu nehmen und sind danach viel besser dazu in der Lage Verantwortung zu übernehmen und mitfühlend zu handeln.

Die Menschen auf dem Platz vor dem Turm der Helden beginnen daraufhin vorsichtig zu klatschen. Ihre Gesichter nehmen einen entspannten Ausdruck an, dennoch hören sie weiter gespannt zu.

Die letzte Erzählung stammt vom Anführer. Er berichtet von einer Gruppe junger Holzfäller, die von einem Fischer lernen Selbstverantwortung zu übernehmen.

Auch diese Geschichte wird von den Menschen auf dem Platz vor dem Turm der Helden begeistert aufgenommen. Sie klatschen lange, einige jubeln sogar. Irgendwann aber kehrt Stille ein. Das Publikum der Minotauren merkt, dass keine Erzählung mehr folgt. Und nach einer langen Weile beginnen die Anwesenden den Platz zu verlassen und sich dabei darüber zu unterhalten, was sie gehört haben. Ein paar Gesprächsbrocken können die sechs Minotauren aufschnappen:

„Naja, das waren eben ein paar Geschichten.“

„Ja, aber es waren schöne Geschichten!“

„Und sie wurden mit so einer Leidenschaft vorgetragen!“

„Aber es waren nur ein paar dahergelaufene Minotauren!“

„Ja, aber sie haben gut erzählt!“

„An einigen Stellen konnte ich mich richtig gut in die Figuren hineinversetzen! Stellt euch vor, sogar in die Minotauren!“

„Das waren ein paar Hirngespinste, verpackt in aufrührerische Reden, die wir da gehört haben!“

„Das kann man so sehen, ich fand die Erzählungen aber herzerwärmend und anrührend.“

„Und ich will mir ein paar der Geschichten merken, damit ich sie meinen Kindern weitererzählen kann.“

Chiarina:
Zuletzt bleiben die sechs Minotauren auf dem Platz vor dem Turm der Helden zurück. Sogar der Turmverwalter Gerdatosa ist verschwunden. Niemand hat mitbekommen, wann er gegangen ist. Die Minotauren merken, dass der besondere Moment vorbei ist. Die Stimmen scheinen wieder verschwunden zu sein.

„Wir schauen mal, wie es im Haus von Saaroni und Ayatashatru aussieht“, meinen die beiden Soldaten.

„Und ich will versuchen meine Hütte wieder aufzubauen“, sagt der Anführer.

„Ich mache mich auf die Suche nach Mujeeb“, meint der zweite Advokat.

„Ich werde mal nachfragen, ob meine Dienste in der Seide immer noch gefragt sind“, meint Saibhang.

„Und ich will sehen, ob nicht jemand ein paar Botschaften überbringen lassen muss“, sagt Lokapriya.

Eine Weile schauen sich die Minotauren an und rühren sich nicht.

„Was meinst du, Lokapriya“, meint der Anführer schließlich. „War alles umsonst?“

„Wir werden sehen“, meint Lokapriya. „Es war auf jeden Fall einen Versuch wert.“

Die sechs Minotauren grinsen sich an, erheben die Hände zum Gruß und ziehen ihrer Wege.

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