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[Dresden Files] Miami Files - Die Ritter von Miami (a.k.a. "Die schönen Männer")
Timberwere:
Ricardos Tagebuch: White Night 1
5. Oktober
Gerald Raith geht es nicht sonderlich gut. Okay, der ist ja seit einer ganzen Weile schon meist in unterschiedlichen Stadien der Trunkenheit anzutreffen, wie wir schon mitbekommen haben, aber seit er dieses – ich will gar nicht wissen, was für eins, legal ist es nicht – Geschäft an den Red Court verloren hat, scheint es schlimmer geworden zu sein.
Aus Loyalität seinem Großvater gegenüber redet Totilas nicht groß davon, aber zumindest hat er erwähnt, dass Marshall Raith versucht habe, Gerald zu motivieren; der habe sich nur nicht so recht motivieren lassen.
Apropos Marshall Raith. Erst höre ich den Namen ewig nicht (seit letztem Día de los Muertos, genauer gesagt, wo Totilas ihm begegnete, als er für das Binderitual Camerones Ehering besorgen musste), und auf einmal kommt er mir ständig unter.
Yolanda, die mit dem Erwerb ihrer Anwaltszulassung und dem Sommerrichterjob und all dem momentan so richtig beschäftigt ist, erzählte nämlich freudestrahlend, sie hätte über Mr Raith einen Praktikumsplatz bei Baker & McKenzie erhalten, einer renommierten Wirtschaftskanzlei. Eigentlich will sie ja Strafverteidigerin werden, wie sie immer erklärt, aber so ein Praktikum mache sich gut im Lebenslauf, meinte sie.
Meine Ohren hatten sich allerdings bei etwas anderem aufgestellt. Was für ein Mr Raith, wollte ich wissen. Na Marshall Raith, erwiderte Landa. Totilas' Cousin. Der sei sowas wie ihr Mentor. Oh. Oh-hoh.
Sagen konnte ich in dem Moment nichts groß, weil das beim monatlichen Familienessen bei den Eltern war, aber bei nächster Gelegenheit fragte ich Totilas nach diesem Marshall. So richtig viel über ihn wusste Totilas allerdings nicht. Er findet ihn langweilig, gar nicht wie einen Raith. Marshall hatte ja damals, als er vor einem Jahr in die Stadt kam, behauptet, er sei übergelaufen, habe den Hof des Weißen Königs verlassen, weil er keine Lust mehr gehabt habe, für Lord Raith immer den Deppen zu geben. Aber ob das auch stimme? Hmmm. Schwer zu sagen, fand Totilas. Er sei ein Langweiler, aber er sei immer noch ein Raith, also dürfe man ihn nicht unterschätzen.
Das war nicht so richtig das, was ich hatte hören wollen. Andererseits, was hätte ich den hören wollen? Am liebsten, dass Marshall zwar Raith heiße, aber kein White Court-Vampir sei, wenn ich ehrlich bin. Aber gut, das war nicht zu erwarten gewesen, also warnte ich als nächstes Yolanda vor Marshall und vor den Raiths im allgemeinen, inklusive wahrheitsgemäßer Begründung, wohlgemerkt.
Ob Yolanda die Warnung allerdings so hundertprozentig ernst nahm, weiß ich nicht. Sie reagierte nämlich mit einem zackigen Salut und der Erwiderung: „Ich werde mich nicht von einem Lustvampir aussaugen lassen, aye, aye!“ Hmpf. Aber gut, das wird wohl fürs erste reichen müssen. Und gnade dem Kerl, wenn er meiner Schwester etwas antut!
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22. Oktober
Totilas kennt Star Wars nicht. Totilas kennt Star Wars nicht!
Ich weiß gar nicht mehr, wie genau wir darauf kamen. Irgendein klassisches Zitat, logischerweise. Aber welches genau, und in welchem Zusammenhang, weiß ich nicht mehr. Nur noch, dass Totilas völlig verständnislos reagierte und dann seine Unkenntnis der Filme gestand. Also wirklich. Eine Bildungslücke vor dem Herrn!
Die Einladung zur Raith'schen Halloweenfeier haben wir übrigens inzwischen auch erhalten. Diesmal müssen noch nicht mal wir die Botenjungen spielen, hurra. Ich bin mal gespannt, was das gibt. Bei unserem Glück garantiert nichts Gutes, wenn man sich die Ereignisse der letzten paar Jahre mal zum Vergleich heranzieht. Diesmal wird die Party jedenfalls mit der feierlichen Einweihung von Raith Manor verknüpft. Denn ja, das neue Anwesen ist fertiggestellt, Römer und Patrioten, man mag es kaum glauben.
Organisiert wird die ganze Sache jedenfalls wieder von Adalind, der Partyplanerin der Raiths, allerdings diesmal in Zusammenarbeit mit – Überraschung – Cousin Marshall.
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25. Oktober
Okay. Irgendwas ist los. Irgendwas hat der Red Court vor.
Wir saßen gestern im Behind the Cover zusammen, als mit einem Mal Angel Ortega reingestürzt kam. Er bewegte sich steif und hatte eine blutige Wunde, und er hielt etwas im Arm, das sich bei näherem Hinsehen als kleine, ängstliche Fee mit verknautschten Flügeln herausstellte. Die Red Courts hatten Christabella die Flügel ausreißen wollen, berichtete Angel auf unsere Frage hin.
Kaum hatte er das gesagt, ging die Tür auf, und zwei Latinos in Anzügen kamen in den Buchladen. Sie bemerkten Angel, nickten einander zu und suchten sich einen Platz halbwegs in unserer Nähe, wo sie sich hinsetzten und anfingen zu telefonieren. Dabei machten sie wenig Anstalten, ihr Interesse an unserem Bekannten und seiner kleinen Begleiterin zu verbergen.
Die arme Blumenfee tat mir wirklich leid, also fragte ich sie, ob ich mir ihre Flügel einmal ansehen dürfe. Ich durfte. Die filigranen Gebilde hingen ihr ganz schief vom Rücken, und Christabella konnte sie sichtlich gar nicht mehr in Bewegung versetzen. Also strich ich mit den Fingerspitzen sachte darüber und leitete etwas von der Sommermagie hinein, die ja nie weit weg ist, deren Anwesenheit ich unterschwellig eigentlich immer spüren kann, es sei denn, ich bin gerade sehr abgelenkt. Ich frage mich, ob ich mich an dieses summende Kribbeln in mir jemals vollständig werde gewöhnen können oder es irgendwann nicht mehr bemerke. Oder ob ich vielleicht den Job loswerde, ehe das passiert.
Wie dem auch sei, die Sommermagie für diesen speziellen Zweck nach oben zu rufen, war einerseits leicht – es ging immerhin um eine Sommerfee in Nöten, und es fühlte sich beinahe so an, als wolle die Magie herauskommen, um ihr zu helfen – andererseits wiederum hatte ich bis dahin noch nie so etwas wie einen Heilzauber versucht, und so war die Sache eben doch gar nicht so ohne. Ich wollte Christabellas Flügel ja nur richten, sie nicht in meinem Überschwang gleich vergrößern oder bunt schillern lassen oder so. Die Anstrengung, genau die richtige Dosierung der Magie zu finden, brachte mir dann doch einen Anflug von Kopfschmerzen ein.
Aber es klappte. Es flogen ein paar harmlose, glitzernde Funken, dann glätteten sich die zarten Gebilde zusehends, bis sie schließlich zu vibrieren begannnen. Die kleine Fee lächelte mich an. „Was möchtest du zur Gegenleistung?“ „Hmm? Gar nichts“, entfuhr es mir erst, aber dann fiel mir ein, wie ungern Feen in der Schuld anderer stehen. „Ähm, ich meine, Euer Dank wäre mir Gegenleistung genug, werte Christabella.“ „Willst du wirklich nur meinen Dank?“ hakte sie nochmals nach, und das ließ mich kurz innehalten und überlegen. Ich könnte einen Gefallen von ihr verlangen, aber... nein. „Ich will wirklich nur deinen Dank“, bekräftigte ich, und sie strahlte förmlich auf. „Danke!!“ Dann begannen ihre Flügel kräftiger zu surren, und sie setzte sich durch ein offenes Oberlicht ab, während die Vampire – oder besser ihre Lakaien, es war ja noch heller Tag – der kleinen Gestalt wütend hinterherstarrten. Und wir uns anschließend aus einem Nebenraum heraus lieber durch das Nevernever absetzten, weil wir uns lebhaft vorstellen konnten, dass die Red Court-Leute nun auch auf uns nicht allzu gut zu sprechen sein würden. Angel Ortega schloss sich uns allerdings nicht an, sondern meinte, er käme schon zurecht.
Oliver Feinstein begleitete uns noch in den Nebenraum, von dem aus Alex sein Tor öffnete. Aber ehe er das tat, hatte Oliver noch ein paar Informationen für uns. „Der Red Court spinnt in letzter Zeit völlig“, erzählte er. Erst hätten sie nach magischer Essenz gesucht. Dann nach magischen Kreaturen. Und schließlich sei jemand aufgetaucht und habe sich subtil, haha, nach den Büchern und Gegenständen von Lafayette duMorne erkundigt.
Der Name sagte mir auf Anhieb nichts. Bei Totilas hingegen klingelte ein Glöckchen, und was das für ein Glöckchen war, erzählte er uns, als wir aus dem Nevernever zurück in der richtigen Welt waren. Und zwar war Lafayette duMorne ein Magier des White Council gewesen, der im Winter 1927 vom White Court ermordet wurde. Nach duMornes Tod griffen die aufgebrachten Zauberer die Vampire an, und viele von Camerone Raiths Anhängern starben in jener Nacht, aber auch viele Magier. (Was übrigens auch der Grund ist, warum es nur noch so wenige Ratsmagier in der Stadt gibt, anscheinend.) Für seine herausragenden Leistungen in dieser Auseinandersetzung wurde Spencer Declan hinterher zum Warden ernannt, und Gerald Raith gelang es, seine Mutter Camerone als Herrin des White Court der Stadt abzulösen. Interessanterweise war Richard Raith, zu dem Zeitpunkt noch kein Vampir, Lafayette duMornes Lehrling gewesen.
Das ganze Ereignis bekam übrigens den klangvollen Namen „White Night“ verliehen. Wenig verwunderlich, war 1927 doch ein Winter, in dem in Miami Schnee lag. Dazu ein heftiger Konflikt zwischen White Court und White Council, und der Name ergab sich fast schon zwingend.
Hmmm. Spencer Declan wurde zum Warden ernannt. Gerald Raith übernahm den White Court von Miami. Sollten die beiden bei der Gelegenheit vielleicht irgendwie zusammengearbeitet haben?
Totilas zog jedenfalls erst mal los, um sich bei seinen Verwandten unauffällig nach deren Meinung über Marshall Raith zu erkundigen. Als er wiederkam, erzählte er uns, dass so ziemlich alle aus seiner Familie schon gemerkt hätten, dass es Gerald gerade nicht so gut geht, dass sie Marshall so gut wie alle nicht trauten und dass sie ihn hilfesuchend angesehen hätten.
Warum er eigentlich seine Leute nach Marshall ausgefragt habe, wollten wir wissen. Totilas antwortete bereitwillig, aber seine Antwort ließ mir die Kinnlade herunterklappen. Weil er habe herausfinden wollen, ob und inwieweit Marshall als Nachfolger für Gerald in Frage käme, lautete die nämlich. Äh, hallo?! Hatte unser Freund seinen Großvater doch tatsächlich schon abgeschrieben!
Wir überredeten ihn dann allerdings, dass er doch vielleicht besser mal mit Gerald reden sollte und sehen, ob er ihm irgendwie helfen kann, statt einfach so an- und hinzunehmen, dass ihm nicht mehr zu helfen ist.
Echt jetzt.
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SMS von Totilas. Treffen im Dora's.
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Ooookay. Als ich im Dora's ankam, saßen Totilas und Alex schon da. Totilas sah ziemlich fertig aus. Unausgeschlafen, aber vor allem beinahe, wage ich es zu sagen, verheult? Totilas, der kalte Fisch? Hossa.
Er hat gestern abend noch mit seinem Großvater geredet. Und das lief nicht so übermäßig gut, wie es scheint. Im Gegenteil, es klingt fast so, als habe Gerald sich selbst bereits aufgegeben. Totilas fand Gerald leicht betrunken und in melancholischer Stimmung vor. Auf Totilas' Eröffnung, er habe ein Problem, erwiderte der ältere White Court lediglich: „Du wirst es erledigen.“ Und als unser Freund darauf mit: „Du bist mein Problem“ konterte, erhielt er prompt die Antwort: „Auch das wirst du erledigen.“
Marshall erwähnte Totilas auch. Dass er den Eindruck habe, der wolle Geralds Job. „Ja“, bestätigte Gerald, „das will er. Aber ich bin sicher, du wirst das erledigen.“ Und dass er, Gerald, alles unter Kontrolle habe.
Und dann habe Gerald etwas gesagt, dass sämtliche Alarmglocken bei Totilas klingeln ließ. Und bei uns auch, als er uns das erzählte. „Wenn du deinen Vater siehst, sag ihm, ich hätte ihn geliebt. Und dich auch. Und hör auf deine Freunde. Versprich mir, dass du auf die hörst.“
Das klingt verdammt danach, als habe Gerald vor, sich umzubringen. Oder als rechne er damit, dass er bald von jemand anderem umgebracht werden wird. Wie nannte Edward das so schön? Suicide by third party. Mierda.
Wir theoretisierten eine Weile herum, und Totilas erklärte, er habe beschlossen, Gerald besser zu unterstützen, sich mehr für dessen Geschäfte zu interessieren. Marshall Raith besser kennenzulernen und im Auge behalten zu wollen. Am liebsten würde er seinen Großvater rund um die Uhr überwachen, damit der keinen Blödsinn anstelle, aber da gebe es irgendwie niemanden, dem er diese Aufgabe anvertrauen würde. Cherie? Vin? Alle nicht so wirklich geeignet.
Nach Lafayette duMorne hat Totilas Gerald übrigens auch gefragt. Den habe Spencer Declan umgebracht, habe Gerald erklärt. Mit Magie. Aber Totilas' anschließende Frage, ob er bei der Aktion mit Declan zusammengearbeitet habe, um sich Camerones Posten anzueignen, habe sein Großvater strikt und vehement verneint. Mit diesem Mistkerl? Niemals! Lafayette sei ein guter Mann gewesen und die ganze Sache Camerones Schuld. Und es habe alles irgendwie mit Totilas' Vater zu tun gehabt.
Die Information, dass Declan du Morne mittels Magie getötet habe, ist natürlich eine Bombe. Mit der müssen wir extrem vorsichtig umgehen. Wenn Declan mitbekommt, dass diese Anschuldigung in der Gegend herumfliegt... nicht gut. Gar nicht gut. Ob das vielleicht Geralds Weg sein könnte, sich umzubringen, rätselte Totilas, also eben dafür zu sorgen, dass Declan von seiner Anschuldigung hört, damit der dann zu entsprechenden Maßnahmen greift? Nicht unmöglich, aber doch nicht sonderlich wahrscheinlich, befanden wir bei näherem Nachdenken darüber.
Roberto hatte auch Neuigkeiten. Seine Red Court-Bekannte Lucia sei gestern noch in der Botánica vorbeigekommen, erzählte er, und habe nach magischer Essenz für ein Ritual gefragt. Was für ein Ritual, wollte sie nicht sagen oder wusste es vielleicht selbst nicht so genau, aber die Essenz müsse hochkonzentriert sein, meinte sie. Außerdem habe sie sich dafür interessiert, wer damals die Schriften von Lafayette duMorne eingesammelt habe, und wenn Roberto irgendetwas darüber höre, solle er bescheid sagen.
Naja, dass der Red Court sich für duMorne interessiert, das wussten wir ja schon von Oliver. Und wie es aussieht, sollten wir uns auch für den guten Mann interessieren, und sei es nur, um herauszubekommen, was genau der Red Court da plant. Aus Gerald war vermutlich erstmal nicht sonderlich viel mehr herauszubekommen, als Totilas schon von ihm erfahren hatte. Aber was war mit Camerone? Die war ja damals auch ganz direkt beteiligt gewesen. Die könnten wir ja mal vorsichtig fragen gehen.
Diese Idee fand Totilas gar nicht gut. Wir sollten Camerone nicht unterschätzen, warnte er, sie werde uns nichts sagen, aber von uns alle Informationen aufsaugen, die sie kriegen könne, sogar Dinge, die wir ihr eigentlich gar nicht sagen wollten, aus unseren Fragen entnehmen. Aber das war ein Risiko, das wir wohl eingehen mussten.
Am Coral Castle wurde unser White Court-Freund natürlich erst einmal von den Coral Guardians angehalten, auch wenn sie sich nicht mehr ganz so feindselig verhielten, jetzt wo Natalya nicht mehr der neueste Neuzugang bei ihnen ist und deren gemeinsames Bewusstsein nicht mehr dominiert. Als ich den geisterhaften Wächtern erklärte, dass ich für Totilas bürgen würde – und ich ihm ein „Benimm dich!“ mitgegeben hatte –, ließen sie ihn passieren.
Camerone Raith gab sich entzückt. „Familienbesuch! Schön, dass du da bist, Totilas!“ Und in dieser schleimigen Tonart ging es eine ganze Weile weiter. Subtil. Haha. Schließlich brachten wir das Gespräch aber – unauffällig, wie wir hofften – auf Lafayette duMorne. Oh, der sei ein entzückender alter Herr gewesen, säuselte sie. Irgendsoein Zauberer. Der Red Court zeige gerade ein ziemliches Interesse an duMorne, informierten wir sie.
Camerones Antwort war nichts weniger als eine Meisterleistung im süffisanten Themawechsel. „Der Red Court? Wie niedlich. – Wusstest du, dass deine Mutter wieder in der Stadt ist, Totilas? Wenn dein Vater jetzt auch noch käme, dann könnten wir eine nette kleine Familienzusammenführung feiern!“
Mehr wollte sie nicht dazu sagen, auch nicht zur White Night. „Warum fragt ihr nicht Gerald? Der ist dafür doch die beste Quelle?“
„Der hat zu tun“, erwiderte Totilas knapp.
Camerones Lächeln war lieblich an der Oberfläche und boshaft-wissend darunter. „Ach.“
Wie Lafayette denn so gewesen sei, brachten wir das Gespräch wieder in die richtige Richtung. Die Antwort allerdings überraschte uns etwas, denn Camerone beschrieb den Magier nun nicht als Menschen, sondern erklärte, sie glaube, es sei ihm peinlich gewesen, dass er schwarz gewesen sei. Na gut, was hätten wir von Camerone auch anderes erwarten sollen als eine unerwartete Wendung. Oh, und Richard sei sein Lehrling gewesen, setzte sie noch hinzu, als sei das ebenfalls eine Aussage über Lafayettes Wesensart.
„Aber Richard hat ihn jetzt nicht umgebracht, oder?“, kam Totilas plötzlich die Idee.
Camerone lächelte süß.
„Ich weiß nicht, dein Vater ist ja nun nihct so der mörderische Typ. Aber irgendwen wird er schon umgebracht haben, um zum White Court zu werden.“
„Ach das war damals?“
Wieder dieses Lächeln von Camerone. „So ungefähr zu der Zeit, ja.“
Das war dann der Moment, wo wir uns verabschiedeten. Ganz ehrlich, die Frau ist aalglatt. Vor allem jetzt als Geist, wo ihr der Alkohol nicht mehr das Gehirn vernebelt.
Dann trennten wir uns, weil Roberto Macaria Grijalva besuchen wollte, Totilas sagte, er wolle sich mal mit Jack White Eagle in Verbindung setzen, und ich zu Pan in den Palast fuhr, um mal mit dem zu reden.
Pan wusste aber leider nicht sonderlich viel über Lafayette duMorne. Der sei kein Typ zum Feiern gewesen. Sein Sohn Justin schon eher, aber den habe Pan schon lange nicht mehr gesehen, sagte er. Sir Anders kannte Lafayette gar nicht, der war damals noch nicht hier am Hof. Cólera. Den Weg hätte ich mir auch sparen können.
Roberto und Totilas war es bei Macaria und Jack allerdings nicht viel besser gegangen, erfuhr ich, als wir uns allesamt in Olivers Laden wieder trafen. Macaria hatte Roberto auch nur sagen können, dass Lafayette ein mächtiger Magier gewesen sei, der ermordet wurde. White Eagle kannte sogar nur den Namen, wusste aber immerhin, dass Spencer Declan einen Lehrling namens Cleo duMorne hat. Ob „Cleo“ in diesem Fall ein Männer- oder Frauenname war, wusste keiner von uns so genau, auch wenn wir generell gegen weiblich tendierten. Oliver informierte uns dann, dass es sich bei dieser speziellen Cleo um eine Frau handelt. Cleo duMorne sei Lafayettes Enkelin, sagte er, und lebe äußerst zurückgezogen. Vor irgendwas habe sie anscheinend große Angst und wolle anonym bleiben. Aber Oliver habe vage Möglichkeiten, sie zu kontaktieren – oder ihr zumindest über diverse Umwege eine Nachricht zukommen zu lassen –, und so baten wir ihn, ihr auf diesem Wege mitzuteilen, dass wir gerne mal mit ihr reden würden.
Wohin nach dessen Tod Lafayettes gesammelte Unterlagen gekommen waren, konnte Oliver allerdings auch nicht sagen. Ein Teil habe vermutlich Richard Raith – der ungefähr zu der Zeit zum Vampir geworden sei – an sich genommen, denn ein Teil seiner Forschungen habe wohl auf Lafayettes Studien beruht. Huh. Was Oliver alles weiß.
Als nächstes kontaktierten wir Lila und Danny, weil Jeff ja in Kontakt mit Richard gewesen war. Wobei wir auf deren Antwort auch selbst hätten kommen können, wir Genies: Wir sollten doch Jeff einfach selbst fragen, der sei doch noch da. Ja klar!
Timberwere:
Ricardos Tagebuch: White Night 2
Alex zog also los, um Jeff zu suchen. Und während wir warteten, hatte Totilas noch eine andere Theorie. Seine Mutter hatte ja nie ein Monster sein wollen; vielleicht will sie die Unterlagen für sich selbst? Wenn Richards Ritual, mit dem er damals seinen Dämon aus sich entfernt hatte, auf Lafayettes Studien beruhte, will Sancia vielleicht anhand der Dokumente für sich ein ähnliches Ritual wirken, um sich von ihrem Red Court-Sein zu befreien? Falls das denn möglich ist. Aber wer weiß, vielleicht ist es das ja wirklich? Bei Richard Raith hat es ja immerhin geklappt. Und einige der Red Courts hier in Miami, allen voran Orféa Baez, Sancia Canché und Robertos Freundin Lucia, sind noch erstaunlich sie selbst, als hätten sie irgendwelche Möglichkeiten, ihre Persönlichkeit zu bewahren.
Nach den Ereignissen an Halloween vor drei Jahren hatte Sancia Richard ja entführt, bis er irgendwann verschwunden war. Konnte er da fliehen, oder hat sie ihn freigelassen? Roberto äußerte die Vermutung, dass Sancia und Richard vielleicht zusammenarbeiteten, um Sancia wieder zum Menschen zu machen. Immerhin wollte sie ihren eigenen Sohn lieber tot denn als Monster sehen.
Edward rief indessen Vanessa Gruber an, unsere White Council-Bekannte vom Crater Lake. Der Name Lafayette duMorne sagte Ms Gruber zwar nichts, aber zu dem Nachnamen fiel ihr Justin duMorne ein. Der sei ein Ratsmagier gewesen, der sich mit einem Outsider eingelassen habe und von seinem Lehrling in Selbstverteidigung getötet worden sei, einem gewissen Harry Dresden, der nach dem Ausbruch des Kriegs gegen den Red Court – den er wohl anscheinend selbst ausgelöst hatte – zum Warden ernannt worden war.
Harry Dresden? Das war doch dieser Typ in Chicago, mit dem Edward dieses kurze und unerfreuliche Telefonat geführt hat. Und der ist Warden? Na super.
Irgendwann kam dann auch Alex mit Jeff im Schlepptau zurück. Über Alex erzählte der junge Geist uns folgendes: Er hatte Richard Raith in einem Internetforum kennengelernt, einer geschlossenen Community, wo man nur über Einladung reinkommt. Dort hatten Richard und er einige private Nachrichten ausgetauscht, über Magie und Rituale und Jeffs geistige Blockade. Richard hatte geantwortet, darin sei er nicht so der größte Experte, aber er werde sich einmal umhören und schlau machen.
Jeff gab Alex seine Login-Daten für das Forum, damit wir nachsehen konnten, ob Richard sich gemeldet hatte. Er hatte tatsächlich, unter dem Nickname „Widening Gyre“: eine alte PM, die Jeff seines Todes wegen nicht mehr gefunden hatte, in der Richard aber schrieb, dass es für ihn schwierig sei, sich mit Jeff zu treffen, dass Jeff sich aber mit schönen Grüßen von Richard an Totilas Raith wenden solle, einen Verwandten von ihm, der vielleicht Leute kennen würde.
Na gut, das hatte sich ja inzwischen erledigt. Aber immerhin lud Jeff, wo er schon mal eingeloggt war, uns alle auch gleich in dieses Forum ein, damit wir uns selbst einen Zugang erstellen konnten. Das Forum nennt sich „Beyond the Pale“ und hat einen gewissen Goth-Anstrich, aber die Tatsache, dass es auf dem Einladungsprinzip basiert, bedeutet, dass die ganz üblen Spinner größtenteils ausbleiben.
Roberto hatte seinen Forumsnickname schnell gefunden: Theoneandonlyroberto003. Haha. Für Totilas' Nickname witzelten wir ein bisschen herum, mit Vorschlägen wie „Pferdegeist“ und dergleichen, aber er entschied sich schließlich für „Troja“ mit dem Avatar eines Pferdes. Ich selbst grübelte eine Weile herum, ehe ich mich schließlich auf „Endymion“ einschoss. Was Richard Raith kann, kann ich auch. Wobei in meinem Fall die Namenswahl weniger daran lag, dass ich auf ein bekanntes europäisches Gedicht anspielen wollte, sondern eher daran, dass ich gerade Dan Simmons' Hyperion-Romane lese und mir der Name vermutlich deswegen in den Kopf sprang.
Was Edward und Alex für Namen wählten, weiß ich gerade gar nicht, aber Alex hat ja irgendwann extra einen wassergekühlten Rechner in einem Aquarium gebaut, damit auch Edward nicht ganz von den modernen Errungenschaften der IT abgeschnitten ist. Angemeldet hat er sich also.
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31. Oktober – nein, 01. November, früh morgens
Oh Mann. Das muss ich aufschreiben, ehe ich ins Bett gehe. Ich bin gerade von der Halloweenfeier zurück. Es ist nichts abgebrannt, und es gab keine Toten, aber es war, sagen wir mal ... spannend.
Weil es eine Halloween-Feier war, mussten wir uns natürlich verkleiden. Ich hatte mir ein „Horatio Hornblower“-Kostüm besorgt, sprich die Uniform eines englischen Marineoffiziers aus dem 18. Jahrhundert, Edward ging als mittelalterlicher Ritter, Alex als Mafioso aus der Prohibitionszeit und Totilas als Pantomime mit schwarzen Hosen, gestreiftem Hemd, Hosenträgern und weiß geschminktem Gesicht. Roberto hingegen hatte sich mit Dee in ein Partnerkostüm geworfen: er als Indianerin (in pinkfarbenem Lederkleid) und Dee als Cowboy. Oh Mann. Ich will es ihm ja gönnen, wirklich, aber... grrrr.
Yolanda als Sommerrichterin war ebenfalls anwesend; Ximena hatte auch eine Einladung erhalten, kam aber nicht auf die Party, genausowenig wie Joseph – entschuldigung, Jonathan, der „Neffe“ – Adlene. Wobei ich nicht glaube, dass der überhaupt eingeladen war. Spencer Declan hingegen war es: Wie schon die letzten Male, sollte er auch dieses Jahr wieder für magischen Schutz sorgen. Marshall Raith fand das zu teuer, konnten wir hören, aber wie Totilas sagte, findet der alles teuer. Er trug das Kostüm eines Gründervaters: Gehrock, Kniebundhosen, gepuderte Perücke. Cherie Raith hatte sich ausstaffiert wie Marvels Black Widow: rote Haare, hautenger schwarzer Lederanzug.
Raith Manor sieht nach dem Wiederaufbau richtig gut aus. Es war ja früher ein eher klassischer Bau, und Teile davon sind auch noch erhalten, aber größtenteils macht das Gebäude jetzt einen wesentlich modernen Eindruck. Viel Glas, ziemlich kühl, Sonnenpaneele auf dem Dach, aber immer noch ziemlich verwinkelt. Der Partysaal an prominenter Stelle, natürlich: groß und opulent, aber mit zahlreichen kleinen, intimen Nischen.
Eigentlich fing alles ganz harmlos an. Die Band spielte, die Leute unterhielten sich, es wurde getanzt, und es sah nicht so aus, als würden die Nischen für raithsche Vampirspielchen benutzt. Aber irgendwann schob sich jemand neben Gerald Raith. Eine White Court offensichtlich, die Totilas uns als 'Anabel Raith' ausdeutete, in einem Kostüm der Herzkönigin aus Alice im Wunderland. Sie hatte die ganze Zeit schon nicht sonderlich begeistert dreingeschaut, sondern eher frostig, was für Raiths in einer sozialen Situation tatsächlich ja wohl eher ungewöhnlich ist. Jetzt nahm sie Gerald beim Arm, hakte sich bei ihm unter und begann zu sprechen. Sie brüllte nicht herum, aber sie flüsterte auch nicht, sondern war durchaus von den Umstehenden zu verstehen. Der Weiße König habe sie geschickt, denn der White Court sei alles andere als glücklich. Entweder Gerald hole sich bis Weihnachten die Marihuanafelder von den Santo-Shango zurück oder das Kokain-Geschäft vom Red Court, sonst müsste hier in der Stadt jemand anderes die Zügel in die Hand nehmen. Entweder es gebe ein Free-for-All, vielleicht auch nicht, aber auf jeden Fall müsse dann eine andere Lösung her.
Gerald klang sichtlich angetrunken, als er antwortete. Oder vielleicht auch nicht antwortete, denn eigentlich klang es wie ein klassisches Non Sequitur. Dass der Weiße König ihm mit Marshall ein Kuckucksei ins Nest gesetzt habe, dass Marshall nichts weiter sei als ein Spion für den König, und dass er genug habe. „Und weißt du was?“, fuhr er dann mit alkoholgeschwängerter Stimme fort, „Ich fordere dich zum Duell, Marshall, zum Duell auf Leben und Tod, unter den Unseelie Accords. Und weißt du was? Dich, Anabel, fordere ich gleich mit!“
In die Stille, die sich nach dieser Bombe im Saal ausbreitete, fiel kurz darauf Orféa Baez' Stimme. „Ich möchte nur zu Protokoll geben, dass der Rote Hof von Miami sein Geld mit Immobilien und Investmentgeschäften verdient, nicht mit Drogen.“
Anabel lachte hell auf. „Ach, das war natürlich nur ein Partyspiel, alles nur ein Scherz, haha“, säuselte sie und ging ab. Wie von einer Bühne, im wahrsten Sinne.
„Kein Scherz“, rief Gerald ihr hinterher. „Duell in zehn Tagen, hier im Garten am Duellkreis!“
Nachdem Totilas geistesgegenwärtig Adalind beiseite gezogen und die Partyplanerin beauftragt hatte, den ganzen Vorfall wenn möglich tatsächlich irgendwie wie eine Show aussehen zu lassen, klärte unser White Court-Freund uns schnell über die Gebräuchlichkeit von Duellen in den Vampirhöfen auf. Ja, es gibt sie noch, und ja, auch Duelle auf Leben und Tod sind durchaus gebräuchlich. Aber auch ein Duell auf Leben und Tod muss nicht unbedingt mit dem Tod eines der Teilnehmer enden, denn der Sieger hat zwar das uneingeschränkte Recht, den Verlierer zu töten, aber der Verlierer darf dem Sieger etwas anbieten, um sein Leben doch noch zu retten. Etwa, sich dem Sieger auf alle Ewigkeit zu unterwerfen, oder so etwas. Außerdem müssen die Duellanten nicht selbst kämpfen, sondern haben beide das Recht, jeweils einen Champion für sich zu bestimmen.
Roberto zog dann los, um Lucia zu suchen. Eine Weile später sah ich sie miteinander tanzen, was ich schon irgendwie seltsam fand. Ich meine, Dee ist jetzt deine Freundin, Roberto, also benimm dich gefälligst auch so, verdammt! Dee wiederum nahm indessen Edward beiseite. „Sag mal, ist der Frau klar, dass ich ein U.S. Marshal bin und du ein Polizist?“ „Das ist ihr völlig egal“, knurrte Edward. „Die wollte einfach nur Gerald in die Scheiße reiten.“
Yolanda stand mit Marshall da und unterhielt sich mit ihm. Oder besser, Marshall redete auf Yolanda ein. Er sah ziemlich gestresst aus, oder er tat zumindest so, und Yolandas Gesicht verfinsterte sich zusehends. Dann trennten die beiden sich, und Marshall Raith machte sich auf in Richtung Cousine Anabel, die von einem ziemlich auffälligen Leibwächter von ungefähr 2,10 m begleitet wurde. Totilas warf mir einen Blick zu und setzte sich ebenfalls in Bewegung – er hatte anscheinend vor, das Gespräch zu belauschen.
Alex ließ die Augen überall herumschweifen, sah ich, daher ging ich erstmal zu Yolanda hinüber. Die war ganz aufgebracht. "Der arme Marshall! Vorspiegelung falscher Tatsachen war das! 'Hier kannst du in Frieden leben, hier gibt es keine Intrigen' - und jetzt? Jetzt fordert der, der ihm das vorgespiegelt hat, ihn selbst zum Duell!" Sie war ernsthaft empört, und nichts, was ich sagte, konnte sie in irgendeiner Form beruhigen, nicht einmal, dass Duelle auf Leben und Tod nicht unbedingt im Tod enden müssen. Ob man Duelle zurücknehmen könne, wollte Landa wissen. Nicht ohne Gesichtsverlust, erwiderte ich, jedenfalls soweit ich wisse. Es müsse jedenfalls der Grundsatz 'in dubio pro reo' gelten, befand meine Schwester, auch für einen White Court-Vampir! "Und überhaupt - hat die Tante gerade wirklich von Drogen geredet? Mit einem Cop und einer U.S. Marshal im Raum? Wie korrupt ist das denn?!"
Da wiederum konnte ich ihr nur zustimmen.
Die erwähnte U.S. Marshal machte auch ein ziemlich unglückliches Gesicht, und ich kannte sie gut genug, um zu wissen, was in ihr vorging. Sie hätte eigentlich auf die Drogengeschichte reagieren müssen, und auch liebend gerne wollen, aber die von Anabel Raith aufgeworfenen Vorwürfe waren so schwammig und nichtssagend gewesen, dass Dee eigentlich gar nichts so wirklich tun konnte. Also biss sie die Zähne zusammen und schwieg - und ging stattdessen mit Roberto tanzen. Das hatte ich zwar gerade vorhin noch angemeckert, aber: grrrrr. Hat keiner behauptet, dass ich in dieser Angelegenheit rational denke. Das war dann jedenfalls der Moment, in dem ich mir lieber etwas zu trinken holen ging.
Später trafen wir uns alle wieder und tauschten Informationen aus.
Totilas hatte tatsächlich Marshall und Anabel Raith bei ihrem Gespräch belauscht. Anabel machte sich offensichtlich wegen der Duellforderung keine großen Sorgen. Es gebe wohl ein paar Kandidaten für Geralds Champion, wie den brutalen Cop zum Beispiel. Sie selbst habe einen Champion, ob Marshall auch schon einen hätte? Marshall hatte offensichtlich noch keinen, denn er erklärte, er könne Hilfe dabei brauchen, einen zu finden, aber das überhörte Anabel geflissentlich. Oder besser, sie weigerte sich rundheraus, ihm zu helfen, weil Marshall ihr nichts im Gegenzug anzubieten hatte.
Etwa in diesem Moment hätten die beiden Totilas dann bemerkt, sagte er. Marshall habe sich verzogen, aber Anabel habe sich schleimig-freundlich gegeben. Totilas habe sie gefragt, ob sie einen guten Champion habe, und sie habe das bestätigt – und ihn dann gefragt, ob er sich anbieten wolle, ehe sie ihn habe stehen lassen. Totilas machte ein etwas seltsames Gesicht, als er das erzählte. Irgendwas war offensichtlich zwischen den beiden noch vorgefallen, das er uns nicht weitergab.
Nach dem Gespräch mit Anabel hatte sich Totilas doch noch mit Marshall unterhalten. Der war erst wenig geneigt, mit seinem Cousin alleine zu sein, aber dann redete er doch. Er habe erklärt, er sei kein Spion. Er habe lediglich versucht, Gerald klarzumachen, dass die Dinge so nicht so laufen könnten, wie Gerald das gerade versuche, aber der habe ja nicht auf ihn hören wollen. Er habe hier in Miami wirklich nur seine Ruhe haben wollen, aber nun habe er das Gefühl, Gerald habe ihn verschaukelt. Und Marshall habe sogar ehrlich gewirkt, als er das sagte.
Alex sagte, angesichts der Neuigkeiten von dem Duell habe Orféa Baez sehr zufrieden dreingeschaut, Spencer Declan ebenso. Der größte Teil des White Court habe ziemlich aufgescheucht gewirkt, während Cherie Anabel beobachtete, als sei diese der ganz klar definierte Feind.
Mit Cherie hatte Edward dann auch gesprochen: Sie werde Gerald Champion geben. Marshall halte sie nicht für eine Bedrohung. Die wahre Gefahr sei Anabel. Sie hätte dann noch versucht, sein Gewissen reinzuhalten, indem sie meinte, das ganze Gerede sei nur Code für „Kuchen“.
Anschließend hatte Edward eigentlich mit Gerald reden wollen, aber das ging gerade nicht. Der Gute war nämlich gerade dabei, sich zu ernähren. Ähm, ja.
Danach passierte jedenfalls nicht mehr so richtig viel. Ist ja auch nicht so, als wäre die eine Bombe nicht genug gewesen.
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01. November
Wir haben uns auf dem Schiff getroffen. Das kam uns bei den ganzen Neuigkeiten und Dingen, die es zu besprechen gibt, sicherer vor als das Dora's.
Schneeball sei noch nicht wieder zuhause, erzählte Edward. Den hatte er für die Party bei Ximena gelassen, aber bisher hat sie ihn noch nicht zurückgebracht.
Totilas hat heute morgen über das „Beyond the Pale“-Forum eine Nachricht an seinen Vater geschickt. Er habe keine Klarnamen verwendet und alle Informationen verschlüsselt, versicherte er uns. So habe er erwähnt, dass seine Mutter in der Stadt sei und nach den Unterlagen des alten Mathelehrers von Widening Gyre suche. Außerdem habe er um ein Treffen gebeten, es sei wichtig. Sich selbst identifiziert habe er sich mit einem alten Kinderspitznamen, damit Richard auch wisse, das die Nachricht wirklich von Totilas sei.
Dann erzählte Roberto uns, dass er gestern abend tatsächlich mit Lucia gesprochen habe. Ach. Gesprochen also auch, nicht nur getanzt. Von der erfuhr er, dass die ganze Sache mit dem Ritual Sancias Baby sei. Und soweit sie, Lucia, wisse, solle das Ritual auch keinen Angriff auf irgendwen darstellen, sondern Sancia wolle es für sich selbst.
Dann trugen wir nochmal all die Dinge, die wir gestern abend schon kurz besprochen haben, zusammen. Und fingen an zu theoretisieren.
Ob Gerald die ganze Sache mit dem Duell vielleicht geplant haben könnte, war ein Gedanke. Das sehe seiner Meinung nach tatsächlich so aus, fand Roberto. „Ich glaube, Gerald versucht, Totilas in seine Position zu hieven.“
Daraufhin fragte Alex, ob Totilas sich für den Job disqualifizieren wolle – mit Sancias Ritual müsste es ja möglich sein, ihn zu ent-vampirisieren. „Sancia will mich umbringen!“, erwiderte Totilas entgeistert. Ach, da könne er mal vorfühlen, hielt Roberto ihm entgegen.
„Ich kann Gerald nicht im Stich lassen“, sagte Totilas nachdenklich, „aber ich bin auch ein Ritter von Miami. Für Miami wäre es besser, wenn ich dieses Ritual durchzöge.“ „Warum?“ wollte Alex sofort wissen. „Ich weiß nicht...“, kam Totilas' Antwort. „Weil ich dann keine Drogengeschäfte machen müsste.“ „Das musst du ja nicht“, schoss Alex zurück. „Der Weiße König will nur sein Geld. Ob du das legal oder illegal verdienst, ist dem völlig egal.“
Er habe Gerald nie verstanden, fuhr Totilas fort. Der stelle Ansprüche an ihn, sage aber nicht, was für welche.
„Gerald ist eigentlich ziemlich simpel gestrickt“, warf Edward ein. „Geh einfach mit ihm reden.“
„Das habe ich ja versucht“, seufzte Totilas.
Das war natürlich das richtige Stichwort. „Nicht versuchen“, hielt Alex unserem White Court-Kumpel sofort entgegen. „Do or do not, there is no try.“
Da musste ich ihn aber leider enttäuschen. „Vergiss es, Alex, der kennt kein Star Wars!“
Ähm. Ja. Und deswegen machen wir jetzt einen Videoabend. Ich habe Totilas mehr oder weniger am Schlafittchen gepackt und zu mir nach Hause geschleppt; Roberto kam auch mit. Duell hin oder her, Red Court-Rituale hin oder her, den einen Abend kann das jetzt auch noch warten. Totilas' Bildungslücke schließen ist wichtiger, habe ich beschlossen. Alex ist heute abend, am Día de los Muertos, ohnehin damit beschäftigt, sich um die Geister zu kümmern, und Edward bekam auch einen Anruf aus dem Precinct, dass seine Anwesenheit vonnöten sei. Da können wir anderen auch Film schauen.
Timberwere:
Ricardos Tagebuch: White Night 3
02. November
Der Día de los Muertos ist wohl vergleichsweise ruhig verlaufen, sagte Alex. Außer dass bei diesem Zombie Walk beinahe Dinge schiefgegangen wären, als er gerade woanders nach dem Rechten sah. Es sei aber gerade nochmal alles gut gegangen. Aber wer zum Geier veranstaltet auch einen Zombie Walk am Día de los Muertos?
Aber immerhin hat Richard schon auf Totilas' PM geantwortet. Dummerweise bestand sie aus nicht viel mehr als einem Fluch und einem knappen „bin unterwegs, müssen reden“, aber immerhin, er hat geantwortet. Und immerhin, er ist unterwegs.
Roberto hatte deutlich beunruhigendere Neuigkeiten, die er sofort auf uns losließ, nachdem Alex und Totilas ihre Informationen abgeworfen hatten. Kurz vor Sonnenaufgang rief nämlich Lucia bei ihm an. Sie habe ihm nur sagen wollen, dass das Ritual ein bisschen schiefgegangen sei und nun ein Maya-Eiterdämon frei in der Stadt herumlaufe. Einer der Herren von Xibalba, der Unterwelt der Maya. Ääääh. ¿Como demonios? Im wahrsten Sinne.
Auf Robertos Nachfragen habe Lucia dann noch erzählt, dass der Dämon Ahalphu heiße, in den Everglades beschworen worden sei und Krankheiten verteile.
„Wir sollten uns umbenennen von 'Ritter' in 'Kammerjäger'“, knurrte Edward, als er das hörte. Gute Idee. Mierda.
Als erstes riefen wir in der Waystation an, um Selva Elder zu warnen, dass ein Krankheitsdämon in den Glades herumstreunt. Dann durchsuchten wir das Internet nach Informationen über das Pantheon der Maya. Wir fanden heraus, dass laut den Überlieferungen der Maya deren Götter die Dämonen in einem Ballspiel besiegt und daraufhin in deren Unterwelt verbannt hatten. Genauer gesagt, Roberto, Totilas und ich suchten. Edward hielt sich lieber fern, weil nicht sein wassergekühlter Spezialrechner, und Alex war in eine Art Trance verfallen. Wir beobachteten das erst mit ein wenig Sorge, aber er atmete ganz normal, also hofften wir mal, dass er schon irgendwann wieder zu sich kommen würde.
Das tat er dann nach ein paar Minuten auch. In seiner Trance war Eleggua ihm erschienen und hatte ungewöhnlich ernsthaft mit Alex geredet. Dieser Ahalphu sei eine Totengottheit der Maya, einer von der Sorte 'guckt dich an, und du fällst um', und wir seien völlig unvorbereitet auf eine Bedrohung von diesem Kaliber. Und der Dämon müsse wieder zurück in die Unterwelt gebracht werden, dringend, der gehöre keinesfalls in die Welt der Lebenden. Körperlich gegen ihn zu kämpfen wäre theoretisch möglich, dazu würde Eleggua aber nicht raten, dazu sei der Kerl zu mächtig.
Super. Einfach grandios. Und das, wo die Grenzen zum Nevernever wegen des Día de los Muertos ohnehin gerade schwach sind. Oder vielleicht eben deswegen.
Wie dem auch sei, wir überlegten natürlich des Langen und des Breiten, was wir nun tun konnten. Wir könnten ein Ritual durchführen, um den Kerl zu orten. Und wir könnten ein Ritual durchführen, das vor Krankheiten schützen würde. Aber wir brauchten Hilfe, soviel war klar.
Wir beschlossen, so ziemlich jeden unserer übernatürlichen Kontakte zu informieren, damit die wenigstens gewarnt wären und vielleicht im besten Falle schlaue Ideen hätten. Jack White Eagle. Pan. Das Coral Castle. Macaria Grijalva. Die Santo Shango. Sogar Spencer Declan. Immerhin ist der der Warden der Stadt und sollte zumindest informiert sein, wenn er es schon nicht für nötig halten würde, einzugreifen. Wobei, vielleicht würde er uns ja überraschen und doch etwas tun. Zeichen und Wunder soll es ja bekanntlich immer mal wieder geben.
Macaria Grijalva klang sehr beunruhigt bei der Nachricht, vor allem aufgrund der Tatsache, dass Eleggua höchstselbst es für nötig gehalten hatte, sich einzumischen.
Jack White Eagle sagte, er werde die übrigen Elders informieren und schauen, ob er irgendwelche Maya-Nachfahren in der Stadt finden könne.
Spencer Declan war nicht zu erreichen, dem hinterließ Roberto eine harmlos klingende Mitteilung über dessen Telefondienst.
Cicerón Linares wiederum erklärte, die Santo Shango hätten ja noch immer die Yansa-Maske, falls diese gebraucht werde. Stimmt. Gut zu wissen.
Ich rief dann bei Yolanda an, um sie zu warnen und auch, damit sie vielleicht Alejandra und die Eltern aus der Stadt bringen könnte, aber ich erreichte sie nicht in Miami, sondern mitten in einem Richterauftrag, irgendwo in Connecticut. Mierda!
Na gut. Ich rief also bei Lidia an, immerhin wollten Alejandra und Monica heute nachmittag zusammen spielen, aber die Mädels seien noch in der Schule, sagte sie. Und Lidia selbst sei noch bei der Arbeit und könne nicht einfach so frei nehmen oder die Mädchen aus der Schule holen, selbst dann nicht, wenn ein Terrorist unterwegs sei. Seufz. Wenigstens nahm ich ihr das Versprechen ab, vorsichtig zu sein und größere Menschenansammlungen zu vermeiden, wenn sie die Mädels nachher von der Schule abholen gehe.
Während ich telefonierte, hatte Roberto ein kleines Ritual begonnen, um den Eiterdämon zu lokalisieren. Für uns sah das vor allem so aus, als habe er eine Statue seiner Orisha vor sich hingestellt und Kräuter drumherum gestreut, aber als er zu sich kam, erklärte er, er habe von Erinle, der Orisha der Heilung, erfahren, wo dieser Ahalphu sei: An einem Ort voller Wasser und Palmen. Das Bild, das ihm vor Augen trat, erkannte Roberto als Coral Gables, einer edlen Luxusgegend, wo auch der Red Court residiert.
Lucia konnte Roberto nicht erreichen, weil es ja inzwischen Tag war, aber er rief nochmal bei Macaria an, um ihr die neue Lage in Sachen Coral Gables mitzuteilen und sie zu bitten, zum Anwesen des Red Court zu kommen. Aber die Santería-Älteste meinte, als Orunmila könnten sie nicht viel tun, und verwies an Eleggua.
Alex bat Edward, der solle Suki Sasamoto beauftragen, die Eleggua-Maske für ihn hochzutauchen (die hat Alex ja zur Sicherheit sehr, sehr tief unten im Meer versenkt).
Als Edward dann mit seiner Kollegin telefonierte, berichtete die, nahe Coral Gables sei ein Mann aus unerfindlichen Gründen zusammengebrochen und liege jetzt in kritischem Zustand im Krankenhaus. Mierda.
Kurz überlegten wir, ob Edward vielleicht in der Gegend eine Durchsage wie „es ist ein Gasleck aufgetreten, bitte halten Sie Türen und Fenster geschlossen“ veranlassen könnte, aber den Gedanken mussten wir leider ziemlich sofort wieder verwerfen. Es gab einfach keine Beweise in der Richtung; eine solche Warnung wäre einfach nicht plausibel und würde die guten Bewohner von Coral Gables (reich und von ihren Rechten überzeugt allesamt) nicht sonderlich lange in ihren vier Wänden halten, selbst wenn man das Umweltamt irgendwie davon überzeugen könnte, sie auszugeben.
Inzwischen traten immer weitere Krankheitsfälle auf, überall da, wo sich üblicherweise viele Leute aufhalten: South Beach, Lincoln Street, und so weiter. Unser Eiterdämon bewegte sich offensichtlich recht zügig in der Gegend herum.
Henry Smith, den Edward damit beauftragte, die Situation im Auge zu behalten, meldete sich irgendwann mit der Nachricht zurück, in der Nähe einer der Erkrankten sei ein auffälliger Typ gesehen und fotografiert worden. Das Bild schickte er uns. Es war ein wenig verwackelt, aber darauf war ein älterer Indio mit zerfurchtem Gesicht und mittellangem Haar zu sehen.
Wir sahen uns die Liste der bisherigen Krankheitsfälle an, um festzustellen, ob sich vielleicht ein erkennbares Muster ergab. Aber wenn dem so war, dann konnten wir es nicht finden. Aber es gab bisher auch noch gar nicht so viele Fälle, dass es irgendwie relevant gewesen wäre.
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Gegen Abend klingelte Totilas' Telefon. Richard war dran, gerade in der Stadt angekommen. Totilas wollte seinen Vater gleich vor dem Eiterdämon warnen, aber der meinte, Totilas – gerne auch mit seinen Freunden – solle vorbeikommen und es ihm von Angesicht zu Angesicht erzählen. Oh, und er solle sich nicht wundern: Richard sei der Typ im Zylinder.
Richard trug tatsächlich einen Zylinder, stellten wir im Dora's fest. Das, und ein Goth-Outfit. Begleitet wurde er von einer ganz ähnlich gekleideten Dame, ebenfalls im Zylinder, die er als Hayley vorstellte. Der ältere Raith umarmte seinen Sohn zwar, löste sich dann aber sehr schnell. Ich erinnerte mich daran, dass er ja von Sancia infiziert worden war. Vermutlich war das der Grund, warum er körperliche Nähe zu vermeiden suchte.
Wir erzählten den beiden, was wir von Lucia erfahren hatten. Dass durch das Ritual der Red Courts wohl anscheinend ein Tor in die Unterwelt geöffnet werden sollte, da aber etwas gründlich schiefgegangen sei. Und dass der Eiterdämon dringend zurück nach Xibalba müsse.
Richard hörte zu, nickte verstehend und meinte dann, er könne sich ungefähr vorstellen, was Sancia geplant habe. Mit den Red Courts sei das so, erklärte er: Man werde ja nicht als Red Court geboren, sondern infiziert. Und wenn ein Infizierter dann zum Vampir werde, übernehme dessen Dämon die ehemalige Person vollständig. Deren Seele müsse bei der Übernahme ja irgendwohin verschwinden, und zwar vermutlich eben ins Totenreich, in einen ganz bestimmten Teil des Totenreichs. Diese Seele könne man aber eben nicht so einfach zurückbeschwören. Ergo das komplizierte Ritual, das aber fehlgeschlagen war. Ja klar, das klang plausibel!
Bei der Linie der Canchés sei es jedenfalls schon immer so gewesen, dass deren Dämonen schwächer seien, dass auch nach der Übernahme ein wenig mehr Geist, mehr Seele, in der Person übrig bliebe.
Während seiner Gefangenschaft habe er mit einiger Mühe Sancia davon überzeugen können, dass es doch gut sei, ihre Seele oder wenigstens einen größere Teil ihrer Seele wiederzubekommen. Das würde sie zwar schwächen, aber diese Schwächung könnte sie mit anderen Vorteilen kompensieren.
Richards Langzeitplan sei es gewesen, Sancias Dämon ganz loszuwerden. Das habe er aber natürlich nicht laut gesagt. Jedenfalls hätten seine Frau und er lange geforscht und wüssten nun, in welcher Ecke des Totenreichs die Seelen genau zu finden seien. Nur sie zurückzuholen sei eben schwer.
Nach Lafayettes Unterlagen fragten wir Richard natürlich auch. Die seien bei ... in Sicherheit, erwiderte er. Er wisse, wo sie seien, aber er habe sie nicht.
Dann ließen wir die Bomben platzen. Nummer eins: Camerone Raith sei jetzt der Geist des Coral Castle. Der Lette sei verschwunden, vernichtet worden von Cicerón Linares. Diese Nachricht schockte Richard schon gehörig.
Als Totilas dann herumzudrucksen begann, fragte Alex: „Soll ich dir eine schöne Überleitung geben, oder schaffst du's alleine?“
Totilas sah zu Hayley. „Ist sie vertrauenswürdig?“
Richard erklärte, er vertraue ihr so halbwegs, während Hayley protestierte. „Hey, ich bin total vertrauenswürdig!“
„Es geht um Familienangelegenheiten“, zögerte Totilas weiter, und er wolle nicht, dass das allzuweite Kreise ziehe, und...
„Nun fang endlich an!“
Also erzählte Totilas von der Halloween-Feier, von Gerald und seiner Duellforderung, seiner Aussage, er „hätte Richard und Totilas geliebt“ und der daraus hergeleiteten Befürchtung, er könne Selbstmord begehen wollen.
„Was sagt er denn?“ fragte Richard.
„Er redet ja eben nicht mit mir“, seufzte Totilas.
„Er redet schon mit dir“, hielt Richard ihm prompt entgegen, „du verstehst ihn nur nicht.“
Und dann zog Richard los, um sich selbst mal mit seinem Vater zu unterhalten. Aber vorher theoretisierte er noch, dass Cherie zwar sein Champion sein möge, dass er aber bestimmt einen zweiten Champion als Ersatz in der Hinterhand habe. Oder dass, falls er sich wirklich umbringen wolle, selbst in das Duell gehen könnte, das sei sogar nicht mal so unwahrscheinlich. Der Sieger eines Duells auf Leben und Tod müsse dem Verlierer die Option lassen aufzugeben, aber wenn der Verlierer dies nicht tue, dann müsse der Sieger den Todesstoß setzen.
Und er gab Totilas seine Telefonnummer. Er hat so ein Einweg-Prepaid-Ding, weil Sancia ja noch immer nach ihm sucht. Die beiden sind ja auch tatsächlich noch immer verheiratet, haben sich nie scheiden lassen.
Nachdem Richard gegangen war, blieb Hayley noch im Dora's und gab uns einige weitere Informationen.
Xibalba sei eine der Domänen im Nevernever, die Unterwelt der Maya. Dort sei heute nicht mehr allzuviel los, weil es eben kaum noch Leute gibt, die der Maya-Religion angehören. Es gebe zwölf Herren von Xibalba, zwei oberste und zehn untere, zu denen Ahalphu gehöre, die eben irgendwann besiegt und in diese Unterwelt verbannt wurden.
Die Unterwelt der Maya bestehe aus neun Stufen, wo man sich in Kämpfen und Prüfungen beweisen müsse – mit der Ausnahme von Selbstmördern, Opfern und im Kindbett Gestorbenen, die würden sofort in den Maya-Pantheon aufgenommen. Aber auch alle anderen Seelen müssten sich nicht auf ewig in Xibalba aufhalten, sondern müssten eben die diversen Prüfungen bestehen, wonach sie auch in den Pantheon aufgenommen würden.
Die Eingänge nach Xibalba befänden sich traditionell in Höhlen, und ja, theoretisch könnte man dort auch als Lebender herumlaufen, wenn man den Weg finde. Man brauche aber Affinität zur Kultur der Maya, sonst käme man einfach anderswo hin, wenn man es versuche.
Ahalphu grundsätzlich loszuwerden, sei eigentlich ganz einfach, befand Hayley: „Tor auf, Ahalphu rein, Tor zu.“
Das Tor zu öffnen, sei nun nicht so das Problem. Das Problem sei eher, Ahalphu dahin zu bringen, wo das Tor sei, und eben, das Tor genau am richtigen Ort zu öffnen. Oh, und den Eiterdämon hindurchzubugsieren. Denn der werde sich vermutlich wehren.
Dann wandte Hayley sich direkt an Alex. „Dein Boss ist ein Scherzkeks. Sag' dem bloß, ich will ihn nicht bei mir haben!“
Was auch immer sie damit meinte. Aber Alex erklärte uns später, als sie weg war, er habe an ihr irgendwas gespürt, eine Art Verwandtschaft zu sich selbst, aber mit einem anderen Schirmherrn, und wir sollten ein bisschen vorsichtig sein. Sprich mit irgendeiner anderen Totengottheit als Patron? Oh Freude. So richtig wie ein Mensch ist sie Alex auch nicht vorgekommen. Doppelfreude.
Als wir uns dann trennten, stöberte ich zuhause noch ein bisschen in den Tiefen des Internets. Aber außer, dass es jetzt schon wieder halb drei Uhr morgens ist und mir die Augen brennen, habe ich nicht sonderlich viel herausgefunden. Zahllose Verweise auf Bücher, Artikel, Professoren, sonstigen Maya-Experten. Nichts, was sich nachts weiter verfolgen ließe. Oh, und die Idee, dass Eric es im nächsten oder übernächsten Band vielleicht irgendwie mit den Maya zu tun bekommen könnte, falls sich das einigermaßen gescheit einbauen lässt.
Viel Zeit für Schlaf ist heute nacht jedenfalls nicht mehr. Mierda.
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03. November
Über Nacht sind es mehr Opfer geworden. Es ist noch keine Epidemie, aber der Anstieg an Kranken macht sich inzwischen deutlich bemerkbar. Es gab auch bereits den ersten Todesfall. Das CDC ist auch schon in der Stadt, das war ja zu erwarten. Edward hat Kontakt mit denen und ist daher über deren Stand der Anstrengungen informiert. Dem CDC ist noch nicht so klar, was das überhaupt für eine Krankheit ist, die sich da gerade ausbreitet. Aber immerhin ist es wirklich nur eine Krankheit, nicht mehrere. Die Inkubationszeit muss relativ hoch sein, denken die Experten. Bezüglich des Übertragungsvektors sind sie sich unsicher, aber es könnte sich um Luftübertragung handeln. Die Betroffenen fallen mitten in Menschenansammlungen um – das heißt, entweder, viele Leute sind immun oder sie sind Überträger oder die Inkubationszeit ist tatsächlich richtig hoch, und alle sind schon angesteckt, aber die Krankheit ist einfach noch nicht ausgebrochen. Und das wäre natürlich der absolute GAU.
Aber eine Sache ließ uns aufhorchen. Alle bisherigen Opfer sind Leute, die hervorstechen, auffallen, irgendwie interessant wirken.
Roberto kam gar nicht zu dem Treffen am Vormittag; er hinterließ uns aber eine Nachricht, dass er den Orunmila helfe, die einen Schutzkreis gegen die Seuche um Little Havana ziehen wollten. Gut so. Das beruhigt mich, auch und gerade in bezug auf Mamá und Papá.
Suki Sasamoto schlug kurz bei uns auf und lieferte die Maske bei Alex ab, und kurze Zeit später stieß Richard Raith zu uns. Sein Gespräch mit Gerald gab er folgendermaßen wieder:
Zwischen den Zeilen gelesen, habe Gerald extrem urlaubsreif, wenn nicht gar lebensmüde auf ihn gewirkt. Er wirke, als sei er am Ende seiner Kräfte, und alle, die er liebt, stürben, litten, gerieten in Schwierigkeiten. Aber um Hilfe bitten könne er ja auch niemanden. Nichts davon habe Gerald, wie erwähnt, laut gesagt, aber das sei der Eindruck, den Richard von ihm gewonnen habe.
Seiner Meinung nach sei Gerald auch aufrichtig davon überzeugt, dass Marshall Raith ein Verräter sei.
Cherie werde Geralds erster Champion gegen Marshall sein; gegen Anabel habe er auch einen Champion, habe er erklärt, aber nicht sagen wollen, wer das sei. Das klinge beinahe, als wolle er es selbst machen, sage Richard, und ja, irgendwie tut es das. Richard war sich allerdings nicht ganz sicher, ob Gerald ihm nicht nur eine grandiose Show geliefert habe, um ihn zu täuschen.
Hmmm. Falls es wirklich ein Täuschungsmanöver sein sollte, überlegten wir gemeinsam, dann hätte Gerald Miami mit einem Sieg über Anabel eine Menge Luft verschafft, und wenn er dann wollte, könnte er die Leitung des White Court in der Stadt immer noch an Totilas abgeben.
Wir wüssten zu wenig über Marshall, befand ich. Wenn wir uns sicher sein könnten, dass er unschuldig sei, wäre es vielleicht einfacher, einen Weg zu finden, wie er unbeschadet aus der Duellsache rauskommt. Und wenn er wirklich unschuldig ist, dann verdient er auch einen guten Champion.
Totilas erwähnte nochmal das Gespräch zwischen Anabel und Marshall, das er belauscht hatte, wo Marshall seine Cousine förmlich um Hilfe angefleht, diese ihn aber am ausgestreckten Arm hatte verhungern lassen.
Es könnte ja auch sein, dass Marshall es tatsächlich ehrlich meint, dass er aber trotzdem benutzt wird, weil man – sprich der Weiße König oder sonstige Raiths vom Weißen Hof – einfach weiß, welche Knöpfe man bei ihm drücken muss.
„Biete du dich ihm doch als Champion an“, schlug Alex Totilas trocken vor. „Damit würde zumindest mal niemand rechnen.“
Da schüttelte unser White Court-Kumpel aber sehr schnell. „Das kann ich Gerald nicht antun. Über die Kante schubse ich ihn nicht.“
Sein unglücklicher Gesichtsausdruck, während er das sagte, ließ aber durchscheinen, dass Totilas den Eindruck hatte, das habe er bereits getan.
Ich könnte Yolanda mal fragen, ob sie seit der Party nochmal mit Marshall über das Duell und seinen Champion gesprochen habe, fiel mir ein.
Als ich ihren Namen erwähnte, horchte Totilas auf. „Vielleicht wäre Yolanda als Richterin ja geeignet.“
Ich sah ihn entgeistert an. Als Champion? In einem Duell auf Leben und Tod? Meine Schwester? Keine Chance, Junge!
Dann rief ich auch nochmal bei meinen Eltern an, um sie vor der grassierenden Krankheit zu warnen. Dass sie für ein paar Tage vielleicht möglichst wenig aus dem Haus gehen sollten. Und dass ich Alejandra, die ja ohnehin gerade bei ihnen war, vermutlich über Nacht bei ihnen lassen würde. Lidia warnte ich dann ebenfalls.
Am liebsten hätte ich auch auch Dee angerufen, hatte sogar die ersten Ziffern ihrer Nummer schon gewählt, aber dann legte ich auf. Das wäre vermutlich nicht so gut gekommen. Stattdessen bat ich Alex, seine Schwester zu warnen. Das tat er auch, wäre aber gar nicht nötig gewesen, denn Dee war mit Roberto in Little Havana und half bei dem Ritual. Hätte ich mir ja denken können, immerhin ist sie Spezialistin für Schutzzauber. Sie war da natürlich schwer eingespannt, aber sie versprach Alex noch, dass sie Edward Zugang zu dem Netzwerk der Task Force verschaffen werde.
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Ricardos Tagebuch: White Night 4
Richard Raith saß ja auch noch bei uns. Dem sagte Edward rundheraus, er interessiere sich für seine Forschungsergebnisse und dafür, wie er damals seinen Dämon losgeworden sei. Und warum er meine, dass dieselbe Vorgehensweise auch auf einen Red Court-Dämon Wirkung zeigen könne. Und vor allem, warum er glaube, dass Sancia ebenfalls ein Interesse daran habe, ihren Dämon loszuwerden.
Als voller Red Court-Vampir könne Sancia nicht mehr lieben, erklärte Richard. Sie wisse aber, dass ihr etwas fehle, und sie vermisse es und wolle es gerne zurückhaben. Und ja, er glaube ihr schon, dass sie darunter leide. Sancia ihre Seele zurückzugeben, würde den Red Court-Dämon nicht sofort vollständig aus ihr vertreiben, fuhr Richard dann fort, sondern sie eher wieder mehr wie zu einer Infected werden lassen.
Ursprünglich hatte Sancia ihren Mann ja gefangengenommen und ihn tatsächlich auch gefoltert, wie Richard jetzt in knappen Worten erzählte. Er habe sie aber überreden, oder überzeugen, oder beides, können, dass es anders besser sei, und so habe sie ihn freigelassen. Die Idee, ihr die Seele wiederzugeben, habe er nach seinen eigenen Erfahrungen mehr oder weniger improvisiert. Und ja, er hätte Sancia tatsächlich gerne wieder, seine Frau, wie sie früher gewesen war.
Nun gab Richard auch zu, wo seine Aufzeichnungen versteckt seien. Die bewahre nämlich Cleo duMorne zusammen mit Lafayettes eigenen Unterlagen auf. Und Cleo sei gut im Verstecken - sei ihr ganzes Leben lang schon auf der Flucht, mehr oder weniger. Ihr Vater habe sie anscheinend nur gezeugt, weil er irgendwelche magischen Experimente mit ihr habe anstellen wollen oder so etwas in der Art, und ihre Mutter sei dann mit dem Mädchen geflohen.
Ob Richard Spencer Declan kenne, wollte Alex dann wissen. Da wurde sein Gesicht grimmig. "Oh ja."
"Was müssen wir über ihn wissen?"
"Er ist ein Arsch."
"Das wissen wir. Was noch?"
Ich wurde genauer. "Wir haben gehört, Declan könne die Gesetze der Magie ungestraft brechen."
Richard schüttelte den Kopf. "Das geht nicht. Es ist ein kosmisches Gesetz, dass das nicht geht."
"Man hat uns aber davor gewarnt", hakte ich nach.
Das brachte Richard zum Überlegen, und er erzählte uns, dass es im White Council Gerüchten zufolge jemanden gebe, der das könne. Zumindest habe der Magierrat vor einer Weile einen ganzen Satelliten auf eine Ansiedlung des Red Court niedergehen lassen, was garantiert mit Magie erfolgt sein müsse, und dabei ebenso garantiert auch Menschen getötet worden seien.
Beunruhigend, aber es brachte uns im Moment nicht weiter, vor allem nicht in bezug auf unser aktuell drängendstes Problem. Also stellten wir diese Frage fürs Erste hinten an und befassten uns mit dem Seuchendämon aus Xibalba. Die Eingänge in die Maya-Unterwelt befinden sich traditionell in Höhlen. Okay. Wo gibt es Höhlen in Miami?
Alex wusste da ein paar. Etliche unterseeisch - da würden wir Ahalphu vermutlich nur schwer hinlotsen können. Der Camp Owaissa Bauer-Campingplatz hat eine Höhle, aber ein Campingplatz klang uns zu belebt. Dann noch das Salt Cave Medical Spa - vermutlich auch zu belebt - und die Lost Lake Caverns, ein Felsloch in einem See. Alles nicht so wirklich vielversprechend. Zumal letztere vor einer Weile gesprengt wurden und man wohl gar nicht mehr reinkommt. Mierda.
Aber gut. Angenommen, wir nehmen eine der beiden belebten Höhlen für unser Tor zurück nach Xibalba. Wie können wir Ahalphu besiegen? Was ist seine Schwachstelle? Was will er? Er sucht Anhänger, will angebetet werden, waren wir uns alle einig.
"Wir könnten ihm Anhänger versprechen", schlug Totilas vor. "Eine Sekte für ihn gründen."
Ich bin mir nicht sicher, wie ernst er das wirklich meinte, aber ich fürchte fast, ziemlich. Aber auch wenn es ein Scherz gewesen sein sollte, konnte ich das nicht witzig finden. Dass irgendwelche alten Wesen, die früher als Gottheiten angebetet wurden, überhaupt existieren, fällt mir schwer genug zu akzeptieren. Aber die auch noch aktiv zu unterstützen? Da mache ich nicht mit, und das sagte ich den Jungs auch.
"Schön, keine Sekte", knurrte Edward. "Aber können wir bitte irgendwas tun?! Es sterben uns Menschen weg hier!"
Wir beschlossen also, Ahalphu erstmal zu finden und mit ihm zu reden. Vielleicht wollte er ja, E.T.-Style, einfach nur nach Hause und würde anstandslos durch das Tor gehen? Immerhin wurde er gegen seinen Willen hergerufen. Okay, nicht sonderlich wahrscheinlich, aber versuchen mussten wir es.
Die Spur, die sich für Edward nach seinem üblichen Finderitual auftat, führte nach South Beach. Dort saß auf einer Bank ein älterer Mann, Typ südamerikanischer Ureinwohner, einen Gehstock neben sich und eine Pfeife in der Hand, der sich völlig entspannt und zufrieden die Gegend und vor allem die vorübergehenden Menschen anschaute. Zum Baden war es etwas zu kühl, aber es herrschte doch reichlich Leben am Strand. Der Pfeifenrauch rieche seltsam, befand Edward, ziemlich ungesund, deswegen hielten er und ich uns sorgfältig abseits davon und in sicherer Entfernung, aber in Hörweite, während Alex und Totilas auf den Eiterdämon zugingen. Die beiden sind einfach seuchenresistenter als Edward und ich.
Als sie vor ihm anhielten, sah der alte Indio zu ihnen und betrachtete beide interessiert.
„Schönen Tag“, grüßte Alex.
„Es ist wirklich ein schöner Tag, das stimmt“, erwiderte Ahalphu. Er hatte einen undefinierbaren Akzent, sprach ansonsten aber einwandfreies Englisch.
„Sie sind nicht von hier“, sagte Alex ihm auf den Kopf zu.
„Ich bin ... gereist. Ein Tourist.“
„Und?“
„Es gefällt mir gut hier. Sehr gut sogar.“
„Was denn besonders?“, griff nun auch Totilas in das Gespräch ein.
„So viel Leben“, war Ahalphus Antwort. „So viele kleine Leben. So wirklich. Kleine Leben, jedes ein Funken. So viele Funken. Die kann man alle einfangen. Sie laden einen dazu ein, sie einzufangen, so hell sind sie. Na gut, dann sind sie weg, aber das macht ja nichts. Es sind noch andere da. So viele andere.“
Und mit diesen Worten breitete der alte Mann die Arme aus, als wolle er die ganze Welt umarmen.
„Was genau wollt Ihr denn hier?“, fragte Alex.
Der Seuchendämon winkte ab. „Ach, dass ich hier bin, war gar nicht geplant. Aber es ist schön hier. Und jetzt lasse ich mir die Sonne auf den Bauch scheinen und genieße die Funken. Es gibt so viele Menschen und andere Wesen hier, da falle ich gar nicht ins Gewicht. Ich glaube, ich bleibe eine Weile hier.“
„Ein Tourist reist aber weiter“, gab Totilas zu bedenken.
„Das stimmt“, lächelte der Dämon ihn überrascht an, als sei das ein völlig neuer Gedanke. „Die Welt ist ja eigentlich ziemlich groß, nicht wahr? Ich habe viel von New York gehört, da soll ziemlich viel Leben herrschen.“
Er sei doch eine Gottheit, warf Totilas ein, und Ahalphu nickte gemessen. Wie sei es denn dann mit Anhängern, fragte Totilas weiter. Das komme schon noch, winkte der Maya ab. Wenn die Leute die Wahl hätten, ihn anzubeten oder krank zu werden, dann würden sie ihn schon anbeten. Aber ganz ehrlich, immer dieses Anbeten, das sei doch auch anstrengend. Und rein optional.
„Du könntest mich anbeten!“, schlug er Totilas dann vor. Ahalphus Stimme klang dabei ganz beiläufig, plaudernd, aber Totilas stutzte und sah tatsächlich so aus, als denke er ernsthaft darüber nach.
„Was bietest du deinen Anhängern denn?“ wollte er wissen.
„Na dass sie nicht krank werden eben“, kam die Antwort.
„Das ist ganz schön schwach“, erwiderte Totilas.
Ahalphu lächelte. „Ach wirklich? Gib mir doch mal die Hand, Junge.“
Das wollte Totilas dann aber doch nicht. „Okay, vielleicht ist es doch nicht so schwach.“
Dort, in Xibalba, sei alles so anstrengend, klagte der Dämon. Immer diese Prüfungen. Das ewige Ballspiel. Hier scheine die Sonne. Und dann und wann... dann und wann sehe er jemanden an... nehme er jemandes Funken... und lasse ihn wieder los.
Bei diesen Worten blickte er zu einer jungen Frau, die am Strand Volleyball spielte. Hübsch, aktiv... vital. Sie schnaufte plötzlich durch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Mierda.
Ob es gebe, das ihn davon überzeugen könnte, wieder nach Hause zu gehen, fragte Alex. Ahalphu überlegte einen Moment, legte dann den Kopf schief. Neue Leute in Xibalba. Getränke mit Schirmchen drin. Wenn Xibalba generell mehr wie hier wäre. Neue Spiele.
Da hakte Totilas ein. Wenn Ahalphu ein neues Spiel mit nach Xibalba brächte, wäre er dort der Held, erklärte er überzeugt.
Das ließ den Dämon tatsächlich einen Moment lang stutzen, aber dann schüttelte er den Kopf. Es gebe so viele interessante Spiele hier, die müsse er erst mal alle kennenlernen.
Alex bot an, er könne ihm Material nach Xibalba bringen und helfen, dort ein Sportzentrum aufzubauen. Er würde gerne anschließend wieder nach Hause, aber er wäre bereit, so lange dort zu bleiben, wie der Bau des Sportzentrums eben dauern würde.
„Ich mache euch einen Vorschlag“, sagte Ahalphu gutgelaunt. „Ihr zeigt mir Spiele. Und wenn mich eines davon überzeugt, dann machen wir das so.“
„Und solange nimmst du keine Funken?“ fragte Totilas.
„Wenn du solange auch keine nimmst?“, schoss der Seuchendämon zurück. „Ich werde nicht hungern und darben.“
Darauf erwiderte unser White Court-Kumpel nichts, aber es war klar, dass Ahalphu bei ihm einen Nerv getroffen hatte. Hungern und darben würde Totilas seinen eigenen Dämon wohl auch nicht lassen.
Das war der Moment, in dem die Volleyballspielerin zusammenbrach. Aufregung, Krankenwagen, das CDC kam auch. Dann wurde die Frau abtransportiert, und am Strand wurde es wieder einigermaßen ruhig. Oder eben so ruhig, wie es vorher gewesen war.
Während all dem hatte Ahalphu ruhig auf seiner Bank gesessen und das Schauspiel interessiert beobachtet. Nun klopfte er seine Pfeife aus, griff nach seinem Spazierstock und lächelte uns alle vier an. Ihm sei nach einem kleinen Spaziergang. Ob wir mitkommen wollten?
Was blieb uns anderes übrig?
Alex suchte uns eine Sportbar, die so früh am Nachmittag noch geschlossen hatte, deren Besitzer er aber kannte (natürlich!), deutete Ahalphu einen der Sitzplätze in guter Sichtweite eines der Bildschirme an der Wand aus und fing dann an, für den Dämon durch die Kanäle zu zappen.
Ahalphu mochte Snooker. Und Baseball. Eishockey schien ihn auch ziemlich zu faszinieren – aber dann schaltete Alex zur Formel 1, und davon geriet der Seuchendämon völlig aus dem Häuschen. Wettrennen! Rasende, pferdelose Kuschen, die im Kreis fahren! Er klatschte in die Hände und starrte auf den Fernsehschirm wie ein Kind bei seiner Lieblings-Zeichentrickserie, ehe er erklärte, das müsse er in echt sehen.
Und dann war Ahalphu mit einem Mal verschwunden, und als die Kamera über die Zuschauertribünen an der Rennstrecke schwenkte, war dort die unverkennbare Gestalt des alten Dämons zu sehen.
Cólera. Aber tun konnten wir erst einmal nichts deswegen.
Kurz darauf rief mich Yolanda zurück. Die war immer noch nicht wieder in der Stadt; ihr Richterjob hatte sie aufgehalten. Aber Marshall habe mit ihr gesprochen wegen des Duells, und sie hätte ihm Sir Anders als Champion besorgt. Ähm. Ah. Ahja.
Ich warnte sie dann noch vor dem Eiterdämon, ehe ich nachdenklich auflegte. Sir Anders. Cólera.
Während ich mit Landa telefonierte, hatte Edward mit dem CDC gesprochen. Die eingelieferten Kranken seien mit Entzündungshemmern und Gabe von viel Flüssigkeit einigermaßen gut zu behandeln, hatte er erfahren. Die Lage der meisten Patienten sei kritisch, aber größtenteils stabil, und es sei durchaus möglich, dass sie überleben würden, der modernen Medizin sei Dank. Es ist wohl auch tatsächlich nur eine einzige Krankheit, die Ahalphu da verbreitet, nicht mehrere und unterschiedliche.
Das war doch immerhin schon mal ein kleiner Hoffnungsschimmer.
Als nächstes ließ ich mir von Totilas Marshall Raiths Nummer geben und bat den um ein Treffen. Er stimmte zu, und wir trafen uns in einem Café in der Nähe seiner Kanzlei.
Anfangs war Marshall zwar ziemlich angespannt, dann aber taute er allmählich doch auf und sprach erstaunlich offen über seine Beweggründe – oder zumindest tat er so. Das weiß man bei den Raiths ja nie so genau.
Jedenfalls erzählte er, er habe früher für Lord Raith und seine älteste Tochter Lara gearbeitet, habe dann aber seine Stellung dort – sein ganzes Leben, eigentlich – aufgegeben und sei nach Miami übergesiedelt, weil er hier neu anfangen wollte. Vor einem Jahr, als er herkam, sei es Gerald auch schon nicht so gut gegangen, also habe Marshall nach besten Kräften versucht, ihn zu unterstützen. Vielleicht sei er dabei nicht immer so diplomatisch gewesen, aber Geralds ganzer Hof habe immer so formlos gewirkt, da habe Marshall gedacht, sein Input sei willkommen. Er habe gedacht, vielleicht könne er die Stadt ein wenig mitgestalten, und der Gedanke habe ihm gefallen. Aber nicht, um an Geralds Stuhl zu sägen, sondern weil er einfach die Möglichkeit, ein wenig gestaltend mitzuarbeiten, als eine interessante Herausforderung empfunden hätte.
Er könne aber verstehen, dass Gerald glaube, Marshall wolle ihn im Auftrag des Weißen Königs absetzen. Das sei ja nur zu erwarten, immerhin sei der Ruf der Raiths ja bekannt.
Bei diesem ganzen Sermon klang Marshall völlig aufrichtig. Das Problem ist nur, aufrichtig oder lügend würde er genau dasselbe erzählen. Und zwar in genau diesem Tonfall. Immerhin machte er einen durchaus freundlichen Eindruck, und als er Yolanda erwähnte, hatte ich das Gefühl, dass ihm ihr Wohlergehen ernsthaft am Herzen lag. Er klang ihr auch aufrichtig dankbar, dass sie sich bei Sir Anders für ihn verwendet hatte.
Apopos Duell. Sollte das nicht zugunsten Geralds ausgehen, sei Marshall bereit, alles mögliche von Gerald zu akzeptieren, auch eine reine Geldsumme zum Beispiel, irgendetwas, das den Anführer des White Court von Miami nicht das Gesicht verlieren lassen würde. Er habe wirklich keine Absichten, die Führung hier zu übernehmen, und das sollte Gerald möglichst erfahren. Das konnte ich ihm zwar nicht versprechen, aber ich sagte, ich werde sehen, was sich tun ließe.
Er habe auch gar keine Veranlassung, sich einen Machtwechsel zu wünschen, erklärte der Anwalt noch. Denn ein Machtwechsel würde bedeuten, dass Anabel Raith die Zügel in die Hand nähme, und das wiederum würde eine Rückkehr zu genau den Machenschaften bedeuten, denen Marshall habe entkommen wollen.
Wer Anabel Raith eigentlich genau sei, fragte ich daraufhin. Was sie seiner Meinung nach wolle. Das sei eine der Töchter von Lord Raith, antwortete Marshall, die der Weiße König bislang an der sehr kurzen Leine gehalten habe. Eine eigene Stadt habe sie bislang nicht geführt, weil das ja bedeutet hätte, unter der Fuchtel ihres Vaters wegzukommen, und das habe der nie zugelassen. Lord Raith sei – bedeutungsschwere Pause – beeindruckend. Sehr beeindruckend. Und er habe seine Töchter gerne in seiner Nähe. Zum Glück sei der Lord strikt auf Frauen geeicht, fuhr Marshall trocken fort, und ich muss gestehen, dass das eine Information war, auf die ich gerne hätte verzichten können. Denn wenn das stimmt, was Marshall da andeutete – brrrr.
Jedenfalls, beendete Marshall seinen vorigen Gedanken, scheine Anabel wohl zu glauben, dass Lord Raith ihr die Stadt lassen werde, wenn sie Gerald stürzen könne. Ob sie damit recht habe und sich nicht selbst nur etwas vormache, bezweifle er allerdings – vermutlich werde der Weiße König stattdessen Anabel zurückbeordern und jemand anderen in Miami als Anführer einsetzen: ihn selbst, Marshall, vielleicht, oder Lord Raiths Sohn. Aber, betonte Marshall noch einmal, er selbst habe keinerlei Interesse an dem Posten, und es wäre ihm wesentlich lieber, der Status Quo bleibe bestehen.
Nach dem Gespräch ging ich dann erstmal heim, denn ehrlich gesagt bin ich nach der kurzen Nacht gestern ziemlich fertig. So früh ist es inzwischen auch schon nicht mehr, und deswegen gehe ich jetzt auch schlafen. Alles andere hat bis morgen Zeit. Nacht.
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04. November
Während ich gestern mit Marshall geredet habe, war Totilas übrigens bei Gerald. Auf die Details ist er nicht eingegangen, aber er hat es wohl tatsächlich geschafft, ein paar nette Stunden mit seinem Großvater zu verbringen. Als er hinkam, saß Gerald anscheinend in einem komplett leeren Zimmer auf einer Kiste und starrte ins Leere: ein ziemlich klares Zeichen von Burnout. Totilas hatte ein Lego Architecture-Set mitgebracht, und während sie das aufbauten, konnten sie sich ein bisschen unterhalten. Irgendwann habe Gerald seinen Enkel dann einen Auftrag gegeben. Nur zur Sicherheit, falls es mit dem Deal schiefgehen solle, solle Totilas Orféa Baez an den Deal erinnern. Was für einen Deal, wollte Totilas daraufhin natürlich sofort wissen. Das werde Orféa - äh, das werde er, Gerald - ihm dann sagen. Aber falls etwas schiefgehen sollte, solle Totilas sich unbedingt vor Lord Raith hüten. Der habe sich lange genug nicht für Miami interessiert, aber das habe sich jetzt geändert.
Nachdem wir von unseren jeweiligen Gesprächen erzählt hatten, überlegten wir, dass sowohl Sir Anders als auch Cherie wissen sollten, gegen wen sie jeweils anzutreten haben. Und vor allem Sir Anders sollte erfahren, dass "Leben und Tod" eben doch Verhandlungssache ist. Ein Duell zu verlieren, ist als solches übrigens erst einmal kein Gesichtsverlust, sagte Totilas. Dem Duell komplett auszuweichen, wäre hingegen schon einer.
Wir waren übrigens nur zu zweit heute vormittag. Roberto war noch mit seinem Ritual beschäftigt - oder vermutlich eher am Ausschlafen nach den Anstrengungen -, Edward arbeitete, und Alex war, kaum dass wir uns getroffen hatten, von Hayley angerufen worden, die meinte, sie hätte einen Ort für das Tor nach Xibalba gefunden, und Alex und Eleggua sollten doch möglichst mal vorbeikommen. Das ließ unser Kumpel sich natürlich nicht zweimal sagen. Ich hoffe ja sehr, der Ort taugt was.
Nach unserem gegenseitigen auf-Stand-bringen trennten Totilas und ich uns, weil er mit Cherie reden gehen wollte und ich mit Sir Anders. Der versuchte sein Entsetzen zu verbergen, wurde aber dennoch bleich, als ihm klar wurde, dass seine Gegnerin im Kampf Eisen einsetzen kann. Aber er habe sein Versprechen gegeben, jetzt einen Rückzieher zu machen, stehe völlig außer Frage. Und das Konzept "aufgeben" kennt er überhaupt nicht. Mierda. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich Anders in meiner Funktion als Sommerritter befehlen sollte, nicht an dem Duell teilzunehmen, aber das schlug ich mir ganz schnell aus dem Kopf. Dann hätte er den Befehl zwar von mir und könnte sich nicht widersetzen, aber sein Gesicht hätte er trotzdem verloren, weil er ja dennoch sein Versprechen brechen müsste. Und damit wäre er dann doppelt gestraft. Memo an mich: Marshall muss Anders dringend dahingehend instruieren, dass der als sein Champion nicht bis zum Letzten kämpfen soll.
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Habe gerade wieder mit Totilas gesprochen. Cherie war die über die Info, gegen einen Fae antreten zu dürfen, ziemlich erfreut. Eisen und so.
Mit Gerald hat Totilas auch nochmal geredet. Der glaube immer noch nicht, dass Marshall hier wirklich nur seine Ruhe wolle. Immerhin sei er am Hof des Weißen Königs eine Art interner Cop gewesen, und das sei ja nun nicht so unwichtig. Der sei schon gut in seinem Job, und Lord Raith werde sicherlich nicht Anabel über Miami setzen, sondern Marshal. Der sei ja schon eine ganze Weile hier und kenne die internen Strukturen.
Totilas habe dann gefragt, wie er Gerald am besten unterstützen könne, woraufhin er zur Antwort bekam, er solle auf sich aufpassen und auf der Hut sein, vor allem vor den Verwandten. Trotz dieser Worte hatte Totilas aber dennoch das Gefühl, dass Gerald irgendeinen Plan habe. Immerhin passiere in Sachen White Court nichts in der Stadt, was Gerald nicht geplant hat. Na, es hilft ja alles nichts. Wir können wohl nur abwarten, fürchte ich.
Timberwere:
Ricardos Tagebuch: White Night 5
05. November. Soll ich wirklich anfangen, einen Countdown zu setzen bis zum Duell? Oder einen Count-Up? Dann wären wir bei Tag 4.
Mamá hat angerufen. Die hatten am Wochenende eine kleine spontane Fiesta im Viertel, nachdem die Orunmila einen Schutzkreis darum gezogen hatten. Schön, freut mich ja für sie. Aber Mamá wollte natürlich gleich wissen, was los sei, sie hätte bei der Feier meinen Freund Roberto mit meiner Freundin Dee gesehen? Ob er mir etwa die Freundin ausgespannt hätte? Aaaarg. Sie war nie meine Freundin. Jedenfalls nie richtig. Genau das war ja das Problem. Das mit dem Ausspannen habe ich schon ganz alleine geschafft, vielen herzlichen Dank. Danke auch für die Erinnerung, Mamá. Und ja, ich bin jetzt dreißig. Ja, du hättest gern einen weiteren Enkel. Ich weiß. Einen Schritt nach dem anderen, okay?
Wie dem auch sei. Es gibt auch ein paar gute Nachrichten, oder wenigstens für den Fall relevante. Haley hat sich gemeldet, sie habe einen Ort gefunden, von dem aus man Ahalphu gut nach Hause schicken könnte. Und Richard Raith hat sich gemeldet. Der würde sich gerne mit uns treffen. Alles klar, heute nachmittag im Behind the Cover.
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Kurz ein paar Notizen, während wir bei Oliver ein Sandwich essen. Richard hatte eine Idee für Gerald. Man könnte mit ihm dasselbe Ritual vollführen, das er, Richard, selbst damals an sich durchgeführt hat, um seinen Hungerdämon loszuwerden. Dann wäre Gerald wieder ein normaler Mensch und könnte neu anfangen, ohne die ganze White Court-Bürde.
Die Frage wäre nur, was mit dem herausgetrennten Dämon passieren würde – den müsste man sofort verbannen, damit der nicht frei herumstreift und ein Massaker anrichtet. Und natürlich können wir Gerald nicht dazu zwingen. Sowas müsste rein freiwillig passieren, und da ist dann die Frage, ob er das überhaupt will. Und falls er es will, wo man ein solches Ritual am besten abhält. Die White Court-Dämonen kamen ja ursprünglich aus Schottland, erzählte Richard, vielleicht müsste man das tatsächlich dort in Schottland machen. Und Gerald könnte dann gar nicht erst mehr mit zurückkommen, der müsste verschwunden bleiben, eben des kompletten Neuanfangs wegen.
Wir saßen noch mit Richard zusammen, da tauchte eine ziemlich unsicher wirkende junge Frau auf. Sehr nett und freundlich, aber scheu wie ein Reh. Und vor allem sehr auf Richard bezogen. Sie freute sich riesig, ihn zu sehen. Dass der ihr Mentor und Ratgeber war und sie sich in allen Dingen an seine Führung hielt, war unverkennbar. Wie ich mir schon fast gedacht hatte, war das Cleo duMorne. Wir hätten sie sprechen wollen, hier sei sie. Was es denn gebe?
Wir fragten sie nach Lafayettes Aufzeichnungen, erzählten, dass Sancía die suche und an sich bringen wolle. Sofort blickte Cleo fragend zu Richard, der den Kopf schüttelte: Nein, Sancía solle die Aufzeichnungen nicht in die Hände bekommen. Aber darum ging es ja auch gar nicht. Wir sind sind diejenigen, die uns die Texte mal anschauen wollen, ob wir Informationen über dieses Dämonenentfernungsritual finden können. Und vor allem den Namen dieses Lochs in Schottland, wo das am besten stattfinden sollte.
Cleo fragte jedenfalls, ob sie die Bücher mal holen solle, und wir baten sie darum – wirklich los ging sie aber erst, als auch Richard zustimmend nickte. Ich dachte, sie müsse jetzt sonstwo hin, aber sie verschwand direkt hier im Laden hinter einem Regal und brachte gleich darauf aus einer verborgenen – sehr gut verborgenen, da muss ein magischer Schleier drauf liegen, denn ich wäre im Leben nicht darauf gekommen, dass hinter dem Regal überhaupt noch irgendwie Platz für irgendwas sein könnte – Ecke eine Kiste zurück.
Ehe wir uns dran machen, die Sachen durchzuschauen, essen wir aber erstmal unsere Sandwiches fertig. Nicht dass die Bücher noch Flecken bekommen.
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Okay. Das ist nicht gut. Wir haben die Bücher durchgesucht – das hat ziemlich gedauert (ich habe mich von Lafayette duMornes Tagebuchaufzeichnungen ablenken lassen, seine Beschreibungen des Lebens in den 1920ern sind unglaublich faszinierend; aber Edward war auch nicht besser, der hat ein Ritualbuch gefunden, das ihn fesselte, natürlich), wir haben dann aber doch gefunden, was wir suchten. Totilas brach auf, um mit Gerald reden zu gehen, kam aber keine Minute später wieder rein. Draußen steht ein Auto, dessen Insassen den Buchladen im Blick haben und ziemlich eindeutig auf etwas lauern. Im Zweifel auf uns. Raubtier-Aura, sagt Totilas. Eine schwarze Limousine. Klar. Es ist inzwischen dunkel draußen. Das ist der Red Court. Mierda.
Totilas ist gerade wieder raus, der wollte nur so tun, als habe er etwas vergessen. Cleo bringt eben noch die Bücher zurück in ihr Versteck – das mit den Ritualen hat Richard aber Edward mitgegeben – und dann raus hier. Cleo sagte, sie kann Richard unter einen Schleier packen, damit die beiden unbemerkt wegkommen.
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Später. Eben heimgekommen, nach kleinem Umweg über den Arzt. Wie heißt es so schön? Bloody and battered, but alive? Irgendwie so. Padre en el cielo, ich danke dir. Das hätte viel, viel schlimmer ausgehen können. Zum Glück ist Jandra nicht aufgewacht, als ich eben reingewankt bin. In einer Dreiviertelstunde ist Aufstehenszeit. Solange noch durchzuhalten, sollte ich hinbekommen.
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06. November
So. Wieder einigermaßen kohärent. Sobald Jandra Richtung Schule losgezogen war – meine ganzen Blessuren hat sie beim Frühstück zum Glück nicht bemerkt – habe ich mich endlich hingelegt und ein paar Stunden geschlafen. Jetzt fühle ich mich erst so richtig steif. Au. Mierda. Aber alles in allem bleibe ich bei dem, was ich sagte: Das hätte viel, viel schlimmer ausgehen können. Memo an mich, dringend: Nicht. Mit. Acht. Red. Courts. Gleichzeitig. Anlegen.
Cleo und Richard verschwanden unter Cleos Schleier. Wir rechneten damit, dass die schwarze Limousine weiter auf uns warten würde, aber die fuhren los, sobald sie den Laden verlassen hatten. Die mussten irgendeine Möglichkeit haben, den beiden zu folgen. Mierda!
Natürlich hängten wir uns an sie.
Nach ziemlich kurzer Zeit schon hielt die Limousine an, und vier Red Court-Vampire stiegen aus und rannten in eine Seitengasse. Edward sprang aus dem Auto und folgte ihnen, während Alex sein Auto eilig um die Ecke fuhr, wir dann von der anderen Seite in die Gasse liefen.
Die vier Vampire rannten geradewegs auf etwas zu – vermutlich Richard und Cleo, noch immer verschleiert. Es sah so aus, als würden weder Edward noch Alex rechtzeitig bei ihnen sein, und wenn die Roten ihre Opfer trotz Unsichtbarkeit so leicht finden konnten...
Ich war zwar ziemlich weit weg, aber vielleicht konnte ich trotzdem etwas tun. Ich rief die Rittermagie nach oben und formte sie zu dem einen Zauber, der erstens so einfach ist, dass ich ihn inzwischen beinahe instinktiv hinbekomme und sich zweitens nun schon mehrfach bewährt hat. Sonnenlicht durchflutete die Gasse, und die vier Red Courts kamen nicht schnell genug aus dem hellen Bereich weg. Ein vage angekokelter Geruch stieg von ihnen auf, und sie sahen zu, dass sie abhauten. Hossa. Das hatte ja besser geklappt, als ich mir zu träumen gewagt hätte!
Dummerweise half das nur nicht viel, denn von draußen war Reifenquietschen zu hören, dann kamen vier neue Vampire in die Seitengasse gerannt. Und vom anderen Ende der Gasse gleich nochmal vier. Acht?! Was zum?
Aber okay. Es hatte ja eben schon so gut funktioniert, also gleich nochmal. Und wenn mein Sonnenlicht vier Red Courts vertreiben konnte, warum nicht auch acht? Da war nur das klitzekleine Problem, dass die acht Angreifer aus zwei unterschiedlichen Richtungen auf uns zugerannt kamen. Hinter der zweiten Gruppe folgte Totilas, konnte ich sehen. Also konzentrierte ich mich auf die erste Gruppe, die uns schon näher war, und sammelte wieder die Magie in mir, ließ sie in dem patentierten Sonnenlichtzauber aus mir herausfließen. Aber woran es auch liegen mochte – an der Eile vielleicht, mit der ich die Magie versuchte, oder daran, dass es mein zweiter Zauber innerhalb weniger Sekunden war – diesmal kam der Effekt ein wenig anders, als ich ihn geplant hatte: kein langanhaltender Lichtkegel, sondern ein kurzer, greller Blitz, der sofort wieder verschwand. Und dem die Vampire mühelos ausweichen konnten. Mierda.
Schon horchte ich in mich hinein, um den Zauber ein drittes Mal zu rufen, da waren sie auch schon bei mir mit ihrer unmenschlichen Schnelligkeit. Alle vier auf einmal. Und die zweite Gruppe gleich mit. Denn ich befand mich zwar hinter den anderen, aber offensichtlich empfanden die Roten mich als die größte Bedrohung. Okay, ich war ja auch der Typ, der gerade tödliches Sonnenlicht gerufen hatte...
Jedenfalls.
Ehe ich irgendwas machen konnte, ehe die Jungs irgendwie eingreifen konnten, waren die Red Courts bei mir. Es waren wohl nur wenige Sekunden, in denen sie mit voller Wucht auf mich einprügelten, aber mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Ich war beinahe dankbar, als die Lichter endlich ausgingen, auch wenn mein letzter Gedanke ein Stoßgebet war und die Gewissheit, dass ich nicht mehr aufwachen würde. Das, und im Moment des Untergehens ein ganz seltsamer, sinnlich-lüsterner Schauder, der irgendwie von meiner Kehle auszugehen und meinen ganzen Körper zu durchdringen schien. Wenn das der Tod war, dann war der Tod vielleicht nicht so schlecht.
Ich wachte natürlich doch wieder auf. Offensichtlich, duh. Es war noch nicht mal sonderlich viel Zeit vergangen. Ich befand mich noch immer in dieser Gasse, und alles tat mir weh. Der Geschmack von Blut in meinem Mund. Roberto gerade dabei, mich notdürftig zu verbinden. Und immer noch diese merkwürdige Erregung. Hatte ich mir die also nicht nur eingebildet. Über der ganzen Szenerie blitzten bunt-schillernde Farben auf: eine magische Ablenkung seitens Cleo. Totilas und Edward in einen heftigen Kampf mit den Vampiren verwickelt. Alex war nirgendwo zu sehen, aber eine Sekunde später dröhnte draußen vor der Gasse laut eine Hupe los, ehe wieder etwas später Alex' Van mit quietschenden Reifen und bereits offener Seitentür um die Ecke bog. Edward und Totilas deckten uns den Rücken, bis Richard und Cleo eingestiegen waren und Roberto mir ins Auto geholfen hatte, dann sprangen auch sie in den Innenraum. Nur weg hier!
Aber wohin? Zur Waystation draußen in den Glades, fiel uns ein, das ist neutraler Boden. Das eine ihrer Autos hatte Alex sabotiert, aber in dem anderen folgten uns die Vampire bis zu unserem Ziel. Dank der Fahrkünste unseres Freundes hatten wir gerade genug Vorsprung, dass wir unbehelligt in die Waystation hineinkamen, auch wenn die Jungs mich stützen mussten und ich sie ganz entschieden verlangsamte.
Wie gesagt, viel Vorsprung hatten wir nicht. Kaum hatten wir drinnen einen Tisch besetzt, hielt draußen auch die Limousine der Vampire. Die kamen ebenfalls herein, starrten uns herausfordernd an und ließen sich dann auch an einem Tisch nieder. Die würden uns natürlich jetzt nicht mehr aus den Augen lassen. War ja klar. Aber das waren nur Handlanger. Einer von ihnen zückte sein Telefon und tätigte einen Anruf – der sagte garantiert Sancía Canché bescheid, wo sie hinkommen sollte. Also gut. Dann würden wir eben warten.
Während wir warteten, ging Roberto, frech wie Oskar, zu dem Tisch der Red Courts hinüber, spendierte ihnen ein Bier und flirtete etwas mit deren Anführer. Irgendwann tauchte dann tatsächlich Sancia auf, als Roberto noch drüben am Red Court-Tisch stand. Dem warf Selva Elder einen missmutigen Blick zu – sie erinnerte sich nur zu gut daran, was bei Sancías letztem Besuch hier passiert war – aber diesmal blieb Totilas' Mutter friedlich. Sie wolle Richard und sie wolle Lafayettes Unterlagen, erklärte sie. Roberto nickte und bat sie um einen Moment, kam dann wieder zu uns an den Tisch, damit wir beratschlagen konnten. Irgendeinen Kompromiss mussten wir finden, irgendwas mussten wir ihr geben, nur was? Irgendwas, das sie erstmal soweit zufriedenstellt, das ihr aber auch nicht zu viel weiterhilft. Denn, bekräftigte Richard, Sancía sei so ungeduldig (als ob wir das nicht gewusst hätten) und das Ritual noch nicht fertig. Wenn sie jetzt auf eigene Faust damit experimentierte, würde sie das mit gar nicht so geringer Wahrscheinlichkeit umbringen.
Mit Alex und Roberto ging ich hinüber an Sancías Tisch. Totilas war noch blasser um die Nase als sonst und schüttelte nur stumm den Kopf, als wir aufstanden, und auch Edward wollte den roten Vampiren lieber nicht zu nahe kommen. Ich hätte vielleicht auch besser nicht mitgehen sollen, denn der Anführer des Schlägertrupps – Pablo, wie Roberto ihn nannte – warf mir einen hungrigen Blick zu und leckte sich aufreizend langsam über die Lippen. Klar, fiel mir dummerweise erst in genau diesem Moment ein: angeschlagen und blutig geprügelt, wie ich war, musste ich ja für einen Vampir geradezu nach Festmahl riechen. Schlau, Alcazar. Echt schlau. Aber da war noch etwas anderes. Dieses seltsame, beinahe wollüstige Erschauern, das sich während der Autofahrt zum Glück wieder gelegt hatte, durchfuhr mich bei Pablos Blick von neuem, und ich fragte mich, wie es wohl wäre, wenn der Vampir seine Fänge in mich schlüge, und ich stellte mir vor, wie unglaublich gut es sich anfühlen würde, langsam und genüsslich von ihm ausgesaugt zu werden, mich ihm ganz und gar hinzuge --- waah! Einfach nur jetzt daran zu denken, bringt dieses verdammte Gefühl schon wieder hoch. Das ist doch nicht normal!
Okay. Tief durchatmen. Denk an was anderes, Alcazar. Kaffee, genau. Kaffee ist gut jetzt.
Jedenfalls ließ ich also größtenteils Roberto reden, warf nur hier und da einen Kommentar ein, um ihn ein bisschen zu unterstützen. Und am Ende hatten wir uns tatsächlich mit Sancía auf einen Kompromiss geeinigt. Richard hatte uns ja gesagt, welche Unterlagen seine Frau gefahrlos bekommen bzw. um welchen Teil des Rituals sie sich kümmern könnte.
Alex warf als Teil des Handels noch ein, Sancía solle den an ihre Leute ausgegebenen Dauerbefehl zur Jagd nach Richard aufheben oder zumindest aussetzen, aber dazu war sie nicht bereit. Zumindest nicht sofort. Wir sollen ihn heute abend mit in den Buchladen bringen, damit sie mit ihm reden und von uns die Bücher bekommen kann – und wenn wir nicht kämen, dann wisse sie ja auch, woran sie sei. Aber wir sollten uns keine falschen Hoffnungen machen, sie wisse schon, wo sie uns finde. Und sie sich keine Sorgen, schoss Roberto zurück, wir hätten nicht vor, die Stadt zu verlassen.
Dann war das Treffen vorüber, und nachdem die Vampire abgezogen waren, gingen Edward und ich erstmal zum Arzt. Edward hatte es bei dem Kampf in der Gasse nämlich auch etwas gebeutelt, während er und Totilas uns anderen den Rückzug deckten. Und dank der Anwesenheit von Lieutenant Parsen musste ich nicht mal irgendwelche unangenehmen Fragen zur Herkunft meiner Verwundungen beantworten. Hurra.
Und jetzt, wo ich wieder einigermaßen wach bin, muss ich dringend mit Marshall Raith reden, dass der Sir Anders die Anweisung gibt, sich im Duell nicht umbringen zu lassen.
---
Seufz. Marshall und ich waren gemeinsam bei Sir Anders, und es wurde genauso schwierig, wie ich das befürchtet hatte. Der gute Anders ist nun mal ein Feenritter, und die kenne ich inzwischen einfach ein kleines bisschen. Der kapierte erst einfach nicht, was wir da von ihm wollten, denn in der Feenwelt gibt es klare Regeln, und ein Duell auf Leben und Tod ist ja nun wohl ganz eindeutig ein Duell auf Leben und Tod.
Erst mit einiger Mühe bekamen wir ihn dazu, einzugestehen, dass auch eine schwere Verletzung generell unter gewissen Umständen ein akzeptabler Ausgang für ein Duell auf Leben und Tod sein könne; dann nämlich, wenn der Verlierer in ein Koma falle und seine wahre Liebe ihn dann wachküsse. Also gut, gestand er uns dann zu, er werde zusehen, dass er die junge Dame nur in ein Koma schlage, der wahren Liebe wegen. Aber immerhin freute er sich, dass ich mir solche Sorgen um sein Wohlergehen machte. Wie gesagt: Seufz. Nicht so ganz das, was ich erhofft hatte, aber vermutlich das beste Ergebnis, das ich kriegen konnte.
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Im Buchladen. Bis zum Treffen mit Sancía ist noch ein bisschen Zeit. Genug, um kurz zusammenzufassen, was im Laufe des Nachmittags so passiert ist.
Totilas hat in der Zwischenzeit seinen Großvater besucht und war erfolgreicher, als er selbst gedacht hätte, wie er sagte. Er sieht auch tatsächlich deutlich gelöster aus als die ganze Zeit vorher.
Unser White Court-Freund hat es anscheinend wirklich geschafft, Gerald neuen Mut zu machen und ihn von Richards Idee zu überzeugen, zumal Gerald selbst wohl nie zum Vampir werden wollte. Nachdem Totilas Geralds Bedenken in Sachen Gefährlichkeit und Dämon-unter-Kontrolle-halten-sobald-er-freigesetzt-ist etwas zerstreuen konnte, erklärte der ältere White Court, Marshall solle beweisen, dass er es ernst meint, indem er für das Duell einen Aufschub verlange. Am besten zwei bis drei Monate gleich, aber das werde sich wohl kaum durchsetzen lassen, aber dann wenigstens so zwei Wochen vielleicht. Und er müsse unbedingt auf dem Recht des ersten Duells beharren, so dass auch Anabel von dem Aufschub betroffen wäre. Wenn er das tue, dann sei Gerald bereit, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Marshall vielleicht doch nicht für den Weißen König arbeite.
Alles klar. Dazu sollten wir Marshall ja wohl problemlos kriegen können. Also ging ich gleich nochmal mit Marshall reden. Der klang dankbar und erleichtert und war sofort bereit, auf Geralds Bedingungen einzugehen. Eine plausible Ausrede, die er zur Begründung angeben könnt, fiel ihm auch gleich ein; diese ganze Aufregung um die Panama Papers bedeutet nämlich, dass er als Anwalt für Steuerrecht gerade alle Hände voll zu tun hat. Eine Gegenbedingung stellte er auch: Das Hansen-Konto, was auch immer das ist, müsse unbedingt geschlossen werden. Damit klinge es so, als sei Marshall nur für eine Gegenleistung bereit, auf Geralds Forderung einzugehen, aber in Wahrheit sei die Schließung des Kontos sogar ein Gefallen für Gerald, auch wenn der nichts davon wisse.
Marshalls Gegenforderung gab ich nach dem Gespräch an Totilas weiter, der wiederum sagte, er werde Gerald entsprechend informieren. Na dann hoffen wir mal.
Die anderen haben in der Zeit ihr Google-Fu bemüht und im Netz nach Auftritten oder Spuren von Ahalphu gesucht. Es gab einige Krankheitsfälle in Monaco, aber nichts Definitives. Alles in allem scheint der Eiterdämon von Autorennen zu Autorennen gehüpft zu sein.
Cleo und Richard sind inzwischen auch zu uns gestoßen, haben die Unterlagen für Sancía mitgebracht, und Totilas erzählte seinem Vater auch nochmal, was er bei Gerald erreicht hat. Richard brachte erstmal seinen Stolz auf seinen Sprössling zum Ausdruck („Ich wusste doch, dass du das hinbekommst!“, woraufhin Totilas prompt antwortete „Ich wusste das nicht, aber gut“), hat aber eben auch eine sehr interessante Frage in den Raum gestellt, nämlich ob wir schon wüssten, wer den White Court führen werde, wenn Gerald erstmal wieder ein normaler Mensch sei.
Oho. Red Court im Anmarsch. Nachher mehr.
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