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Wieviel Mechanismen braucht Rollenspiel?

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Chruschtschow:
@Archoangel:
Oha, völlig übersehen! Das ist eine eigene Gruppe von Mechaniken. Also jetzt drei plus Mischformen, weil die natürlich ineinander greifen (Fatepunkte als Modifikator für Zufallsmechanik oder für erzählerisches Recht, ein mit Zufallsmechanik geregelter Angriff kostet Resourcen, wahlweise im Angriff (z.B. einen Zauberslot) oder nach dem Treffer (Hitpoints) und so weiter).


* Zufallsprobe
* Ressourcen
* Erzählerisches Recht

1of3:
Haben wir gerade Drama, Karma und Fortune wieder neu erfunden? Dann erhöhe ich um Skill: Man kann auch vom Jenga-Turm ziehen.

Oberkampf:

--- Zitat von: Chruschtschow am 14.06.2015 | 01:24 ---Rollenspiel braucht Regeln. Immer. Jedes Rollenspiel. Wenn Kinder "Räuber und Gendarm" gewinnen, dann gibt es auch Regeln zur Konfliktresolution. Anna brüllt: "Peng, du bist tot." Thomas ist dann auch tot, weil ihm andernfalls die einen halben Kopf größere Anna auf andere Weise den Konflikt beilegt. Oder vielleicht verwendet sie auch nur Regel 0, die auch wir Rollenspieler kennen: "Spiele nicht mit Idioten."

Jetzt möchten wir natürlich am Spieltisch nicht nur simple Doch-Nein-Doch-Nein-Doch-Nein-Duelle erleben, so unterhaltsam sie beim ersten Anschauen sein mögen, wenn sich zwei Personen gesetzteren Alters (als Enddreißiger habe ich solche inklusive meiner eigenen Person in den Spielrunden) so etwas geben. Aber auf Dauer ist der Schritt von der impliziten zur expliziten Regel zur Konfliktresolution dann doch mal sinnvoll.
[...]
Darum machen Regeln also nicht nur als historisches Anhängsel Sinn. Sie sind grundlegender Baustein für funktionierendes Rollenspiel. Andernfalls gewinnt Anna, die auch weiterhin immer einen Kopf größer war als alle anderen und später mal im Mittelgewichtsboxen reichlich Preise einheimste, jeden Konflikt im Spiel... :d


--- Ende Zitat ---


--- Zitat von: Chruschtschow am 14.06.2015 | 01:34 ---Du hast recht, ich hätte eher Huntress von der Seite davor zitieren sollen, der Sonja im Beitrag drauf zustimmt.

--- Ende Zitat ---

Wenn sich das auf meinen Beitrag bezieht: Ja, ich bin schlampig mit dem Begriff Regeln und Mechanismen umgegangen. Allerdings muss man auch sehen, dass eine radikale Ausweitung des Begriffs Regeln für Rollenspiel den Begriff auch sehr aufweicht.

Gemeint waren bei mir mit Mechanismen erstmal alle brettspieligen Mechanismen, keine "Metaregeln". Selbst dann, wenn solche Mechanismen zur Verteilung von Erzählrechten genutzt werden, wenn z.B. ausgewürfelt oder per Karte entschieden wird, wer den Ausgang einer Szene erzählen darf und elcher Charakter seine Interessen in der Szene durchsetzt (vgl. primetime adventures, eins der erzählerischsten SPIELE die ich jemals GESPIELT habe - Großschreibung um den Spielcharakter zu betonen).

Darüber hinausgehende Absprachen, die ohne klassische Brettspieltechniken (Zufallsgenerator, Punktvergleich) funktionieren, kann man Regeln nennen. Beispielsweise die Absprache: Verlauf und Ausgang einer Szene werden rein nach Gesichtspunkten der Dramaturgie abgehandelt. Es gibt einen Spielleiter, der bei Uneinigkeit im Sinne der Dramaturgie entscheidet.*

Es stimmt schon, das jedes Rollenspiel solche Regeln braucht, und das sie grundsätzlich völlig unterschiedlich ausfallen können. Statt einem SL kann die Gruppe im Konsens entscheiden, oder der betroffene Spieler usw. Welche "Farbe" die Dramaturgie hat ist ebenfalls abhängig vom Genre und Gruppenempfinden etc. Meine These ist - zugegeben empirisch schwach unterfüttert - dass im Alltag meistens eine Person in der SL-Rolle diese Entscheidungen trifft, indem er üblicherweise mit ein, zwei lautstarken Spielern Kompromisse eingehen muss.

* Das ist übrigens das, was ich mit der "Tradition" meine: Spielleiterzentrierte dramaturgische Entscheidungen ohne - anstatt! - brettspieliger Einflüsse.

Nørdmännchen:
Die meisten Themen werden hier ja reichlich vielseitig und ausgiebig erörtert. Ich möchte dennoch eine Facette zum "Erzählen & Spielen" betonen, die mir selbst sehr am Herzen liegt. Es geht mir darum, dass die Vielzahl und Wahlmöglichkeit verschiedenster Regelsysteme - und dabei insbesondere der Mechanismen - für mich persönliche eine enorme Bereicherung meiner gemeinsam erlebten Erzählungen darstellen.

Meine Erfahrungen decken sich da mit den Theorien von G. H. Mead - auch wenn ich mich an der Radikalität seiner Ableitungen stoße.
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--- Zitat ---Diese Stufe nennt Mead game. In dieser Wettkampfsituation muss das Kind das Verhalten aller anderen verinnerlicht haben und wissen, wie es selbst handeln soll. Es muss sich damit am sogenannten „verallgemeinerten Anderen“ orientieren. Deutlich macht Mead diese Phase am Beispiel des Baseballspiels. Ein Spieler könne nur dann handeln, wenn er die Regeln, Aufgaben und Handlungen aller Mitspieler und somit auch seine eigene Rolle kenne. Gleichzeitig müssen aber auch alle anderen Spieler dies mit seinem Verhalten tun können, damit das Baseballspiel überhaupt möglich ist. Der „verallgemeinerte Andere“ oder „generalisierte Andere“ stellt nicht nur das Regelsystem innerhalb eines Wettkampfes dar, sondern im Großen und Ganzen die gesamte Gesellschaft mit ihren Werten und Normen. Durch die Orientierung an eben diesem Anderen kommt es zu einer sozialen Strukturierung des Selbst.

--- Ende Zitat ---
Wie weit wir den Begriff "Wettkampf" fassen müssen, um aktuelle Rollenspiele darunter zu verorten, wäre wahrscheinlich Raum für einige weitere Diskussionen...

Will sagen: das mechanische System gibt mir einen Bezugsrahmen vor, der die besondere Funktion aller Mitspieler in Relation setzt. In diesem Rahmen kann ich meine Handlungen ganz eigen bewerten und ausrichten. Wobei Handlungen im Rollenspiel für mich zunächst Gesprächsbeiträge sind.
Ich verhalte mich ganz anders - und erlebe und erzähle damit auch andere Inhalte. Je nachdem ob ich eine Runde Freeform (meinetwegen Daidalos), King Arthur Pendragon, Fiasco, Itras By, Forsooth!, Apocalypse World, FAE, Kingdom of Nothing, Moldvay D&D, Improtheater oder was-weiß-ich spiele. Wobei ich zugestehen muss, dass die Erfahrungen bei "klassischen" Systemen (Savage Worlds, DSA, GURPS, oWoD) sehr viel näher zusammen rücken.
Das Spannende ist: das gesamte Regelsystem greift in die Erzählung am Tisch ein und beeinflusst unser Verhalten. Damit steht mir eine viel größere Palette kreativer Erlebnisse zur Verfügung. Vincent Baker, Luke Crane uva. nennen dies die "Mind Control" des Spiel-Entwicklers. Deswegen möchte ich auch nicht nur das eine SystemTM, sondern ich will sie alle - lang, breit und schmutzig! OK; manche passen einfach nicht. Aber das liegt nicht an ihnen, es liegt an mir ;).

Auch improvisiertes Theater hat, meiner Erfahrung nach, ganz eigene Probleme mit dem Erzeugen von Erzählung. Grade wenn es sehr "offen" sein soll. Nicht umsonst gibt es im Theatersport nach Keith Johnstone Unmengen von Spielen, die teilweise sehr starke Mechaniken einbinden (weit abseits des überstrapazierten Ja-Sagens...  ::))

Alle diese Regeln brechen die Erwartungshaltung auf, zwingen mich in andere Denk-, Kreativ- und Verhaltensmuster; und bereichern so letztendlich mein Spiel und Ausdrucksspektrum. Ich würde sogar soweit gehen, dass sie in kleinen Schritten meine Persönlichkeit erweitern. (Wer weiß, was ich damit auslöse...)
Kreativität ist nach meinem Dafürhalten eben keine Fähigkeit, die dem menschlichen Geist a priori gegeben ist. Sie ist Ausdruck des menschlichen Vermögens Strukturen zu erkennen und zu schaffen - gepaart mit der Fähigkeit unbekannte Probleme zu lösen. Und eben diese Probleme, das Creative (oder Narrative) Constraint, entstehen u.a. maßgeblich aus dem verwendeten Rollenspielsystem.
Dazu gehört dann, sich voll und ganz auf das Spielsystem einzulassen. Die Regeln zu befolgen, um zu erleben wohin sie uns am Tisch bringen.

Abaton23:
Rollenspiel-veteranen mag manchmal die Erkenntnis fehlen, dass sie es gewohnt sind, mit ENORM umfangreichen Regelwerken zu arbeiten. Manche merken einfach nicht, dass "normale" Gesellschaftsspieler erstmal völlig überfordert sind, wenn sie das erste Mal auf RPGs treffen.

Nun, der Freiheitsgrad der Spielmöglichkeiten von RPGs benötigt eben von Natur aus eine große Bandbreite von Mechanismen. Im Allgemeinen benötigt ein Mainstream-RPG eine Anzahl spezifizierter Handlungen. (ACHTUNG, ich spreche vom Mainstream, damit nicht jeder Schlauberger gleich wieder sein "Aber der Exot X-Y funktioniert anders" postet) Diese erfordern jetzt irgendeinen Proben-Mechanismus. Der Individualität geschuldet, mag man spezielle Aspekte für Abenteurergruppen spendieren. Dann braucht es meist ein Recourcensystem. (Nennt es wahlweise Lebens-Treffer-Ausdauer- Astral- Erfahrungspunkte) Dann benötigt es meist ein Schadensmodell (Was richten Schäden an, was sind erlittene Konsequenzen etc.) Dazu kommt noch ein Steigerungs- bzw. Lernsystem. Und wenn der Neuling das endlich gepackt hat, dann erschlägt der SL ihn mit dem Setting! Hurraa, jetzt haben wir den Neuen entgültig geflasht...

Ich meine, das ist ne ganze Menge. Warum jetzt noch einige Regelautoren den Kunden mit verquirlten Subsystemen auf blanker Modifikatorenebene von oben und unten penetrieren wollen, bleibt mir bei so manchem Regelwerk schleierhaft. Außer, er hat noch ein paar Seiten in seinem Buch frei. Ob solche Subsysteme dann zusätzliches Flair verleihen? Das gehört wohl in den Bereich "Geschmacksache". Ich hole mir das Flair lieber aus einer schönen Settingbeschreibung. Wegen solcher Gedanken hab ich das Thema aufgeworfen.

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