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Pen & Paper - Rollenspiel => Pen & Paper - Rezensionen => Thema gestartet von: killedcat am 4.10.2010 | 22:55
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Tja, ich wage es mal. Hier mein (subjektiver) Review.
Savage Worlds Gentleman’s Edition – ein Review
Mit Savage Worlds verbindet mich schon seit längerer Zeit eine Art Hass-Liebe. Auf der Suche nach einem schlanken Universalsystem hatte ich mir schon die Explorer’s Edition gekauft und war mir nicht so ganz schlüssig, was ich von diesem Spiel halten soll. Die Gentleman’s Edition ist nun endlich deutsch und deutlich ausführlicher geworden. Zwei weitere Gründe, sich das Hype-System Nummer Eins ganz genau anzusehen.
1. Der Rezensent
Es ist immer gut, etwas über den Schreiber der Rezension zu wissen, um das geschriebene auch in den richtigen Kontext setzen und bewerten zu können. Wer bin ich?
Ich bin ein Rollenspieler der alten Schule. Ich spiele schon seit etwa 1986, so genau weiß ich das nicht mehr. Seit dem Einstieg mit DSA (erste Ausgabe) habe ich unzählige Spiele kennenlernen dürfen. Ich mag meine Systeme dezent, klassisch und einfach. Ich bevorzuge Systeme ohne Würfelpool. Mit den meisten Indy-Spielen kann ich wenig anfangen. Ich mag es, Regeln zu lesen. Ich finde auch die Mechaniken hinter so einem Spiel interessant und liebe es, wenn die Mechaniken elegant ineinander greifen. Wenn ein Regelbuch interessant geschrieben ist, finde ich es spannender, als ein Roman. Sowohl wegen der Mechaniken, als auch wegen der inspirierenden Ideen, die dahinter stecken. Soweit zu meiner Perspektive. Aus dieser heraus werde ich nun das Produkt beurteilen.
2. Das Erscheinungsbild.
Die Gentleman’s Edition ist ein Hardcover-Band in einem ungewöhnlichen Format: knapp größer als DIN A5. Ein ähnliches Format kenne ich schon von Unisystem-Büchern wie All-Flesh-Must-Be-Eaten und ich schätze es sehr. Es ist kompakt genug um überall hin mitgenommen zu werden und nimmt auch auf dem Spieltisch nicht zu viel Platz weg. Sehr schön.
Der Einband ist fest und das Buch macht einen hochwertigen Eindruck. Das Papier ist nicht zu dünn, der Einband fest, die Ecken stoßen, wie aber bei diesen Büchern üblich, leicht ab. Das Cover ist ein wenig ein Understatement. In kostrastarmen Farben gehalten ist der Schriftzug „Savage Worlds“ noch das auffälligste darauf, was natürlich nichts schlechtes sein muss. Das klein geratene Coverbild, das im Stile eines alten Fotos recht klein auf dem Einband wirkt, unterstützt den pulpigen Charakter des Buches.
Die knapp 270 Seiten des Regelwerkes sind prall gefüllt und schön aufbereitet. Das Buch ist vollfarbig und die Illustrationen sind stiltreu und ebenfalls meist farbig. Die Bilder sind durchweg von ordentlicher Qualität. Lediglich bei den Rassenbeschreibungen sind ein paar Exemplare dabei, die dem Gesamteindruck nicht ganz gerecht werden wollen.
Das Layout ist ausgesprochen gut lesbar. Alles wirkt übersichtlich, nichts wirkt überfrachtet oder langweilig. Das ganze Buch atmet den Charme eines Tagebuchs eines Abenteurers auf Reisen, was durch eingestreute Bilder, die eingeklebt wirken sollen, sowie durch Flecke, aufgedruckte Eselsohren uvm. unterstützt wird. Inhaltsverzeichnis und Index fehlen ebenfalls nicht. Selbst ein Lesebändchen ist vorhanden.
Allerdings ist der Index knapp, ich habe nicht immer alles gefunden, was ich suchte. Auch fehlt ein Verzeichnis der Tabellen, welches ich ebenfalls schon schmerzlich vermisst habe.
Das Layout ist für mich nahe an der Perfektion. Es macht trotz des eher trockenen Schreibstils Spaß, in der Gentleman’s Edition zu schmökern und das Buch ist auch zum Nachschlagen gut geeignet.
Fazit: ein solide verarbeitetes praktisches Buch fast ohne Mängel. Vorbildlich!
3. Die Regeln.
Savage Worlds kommt als eine Art Universalregelsystem daher. Von historisch über Pulp und Fantasy bis Hard-Sci-Fi soll alles möglich sein. Tatsächlich lügen die Macher nicht: das System ist sehr vollständig und bietet eigentlich alles, was benötigt wird, um fast beliebige Settings zu spielen. Aber schauen wir uns das etwas genauer an.
Für Savage Worlds braucht man praktisch alle im Rollenspiel üblichen Würfel von W4 bis W12, ein paar Steinchen oder Chips, sowie für den Kampf einen Satz Pokerkarten. Das Buch empfiehlt den Einsatz von Miniaturen.
Der zugrunde liegende Basis-Mechanismus ist einfach. Würfle den passenden Würfel und komme über die Schwierigkeit (Standard: 4). Erreichst du mindestens den Schwierigkeitswert, so ist die Probe gelungen. Simpel, oder?
Ganz so simpel ist es dann doch nicht. Savage Worlds unterteilt seine Charaktere auch in sogenannte Wildcards und Statisten. Wildcards erhalten für alle Fertigkeitsproben einen W6 zusätzlich, der alternativ zu seinem Fertigkeitswürfel gewählt werden kann, wenn dieser einen höheren Wert zeigt. Alle Spielercharaktere und alle wichtigen NSCs sind Wildcards. Auch dieser Würfel kann zu Assen führen.
Jeder Würfel, der seinen Höchstwert zeigt, darf nochmals geworfen und der Wert addiert werden, bis kein Höchstwert mehr erwürfelt wurde (sog. „Asse“). Die Asse sind mitunter problematisch, da sie zu plötzlichen und riesigen Ausreißern bei den Ergebnissen führen, was insbesondere bei den Schadenswürfeln zu unerwartet schnell beendeten Kämpfen führen kann.
In den wilden Landen reicht es auch nicht einfach eine Probe zu bestehen, man will auch wissen, wie gut man sie bestanden hat: dazu benötigt man eine Division durch Vier. Jawohl! Je Vier Punkte, die man über den Zielwert gekommen ist, erhält man eine sogenannte Steigerung. Beispiel: ein SC würfelt bei einer Probe eine 33, dann hat er (33-4)/4 = 7 Steigerungen erhalten. Uff! Wer sein Einmaleins beherrscht sollte hier auf keine Schwierigkeiten stoßen, aber ich kann festhalten, dass es einfachere Systeme gibt.
Im Kampf wird das System sogar ziemlich umständlich. Initiative mit Karten, dann Würfel raussuchen und gegen Schwierigkeit würfeln, dann Raises ermitteln. Dann Schaden gegen Robustheit würfeln, mit Raise einen W6 dazu. Alles kann für Asse sorgen. Wenn getroffen, ist der Gegner angeschlagen (eine Art Stun). Wenn er schon angeschlagen war erhält er eine Wunde. Bei einem Raise erhält er auf jeden Fall eine Wunde, aber auch keine zwei Wunden, selbst wenn er schon angeschlagen war. Für jeden weiteren Raise noch eine Wunde. Statisten sind nach einer Wunde außer Gefecht, sogenannte Wildcards, zu denen auch die SC gehören, halten 3 Wunden aus, bevor sie außer Gefecht sind. Gerät der Spieler außer Gefecht, so muss er auf der entsprechenden Tabelle würfeln. Jede Wunde kostet einen Punkt Abzug auf Fertigkeitswürfe. Beginnt der Spieler seine Runde angeschlagen, so muss er gegen Willenskraft würfeln. Bei Erfolg ist er nicht mehr angeschlagen, kann sonst aber diese Runde praktisch nichts mehr unternehmen. Bei Raise ist er sofort wieder da und kann die Runde normal beginnen. So läuft der Kampf OHNE TAKTIK, TALENTE, BENNIES, KAMPFMANÖVER, JOKER, MEHRERE AKTIONEN USW. ab. Das lässt sich also steigern.
Ja, das geht, wenn man es gewohnt ist, recht fix. Wenn man es gewohnt ist geht auch Rolemaster fix. Savage Worlds ist kein besonders unkompliziertes oder gar einfaches Spiel. Mir ist es zu umständlich. Da bin ich viel einfachere und intuitivere Systeme gewohnt.
Dann gibt es noch die „Bennies“. Das sind Punkte, die ausgegeben werden können um z.B. Würfe zu wiederholen oder Schaden von einem Charakter abzuhalten. Nur Wildcards haben Bennies und Bennies werden zu Beginn jeder Spielrunde zurückgesetzt. Ein Charakter beginn i.A. mit drei Bennies.
Fazit: Das Würfelsystem ist nicht das schnellste und auch nicht das komplizierteste. Mit Unter aber etwas umständlich. Das Erhöhungsrechnen und die Asse halten auf. Aber: es wird nur ein geringer Verwaltungsaufwand für die Statisten benötigt. Das macht große Kämpfe mit vielen beteiligten überschaubar. Daran scheitern viele andere Systeme.
4. Die Charaktererschaffung
Der Charakter besteht ganz klassisch aus einer Reihe von Attributen, Fertigkeiten, Vor- und Nachteilen. Die Werte werden in Form von Würfeln festgehalten. Z.B. Stärke W6 oder Willenskraft W12.
Von diesen Attributen werden andere Werte wie z.B. Parade und Robustheit abgeleitet.
Insgesamt ist die Charaktererschaffung sehr einfach: man verteilt ein paar Punkte (die Würfelschritten entsprechen) und kauft ein paar Nach- und Vorteile (hier „Handicaps“ und „Talente“ genannt) und schon kann man loslegen.
Doch hier muss man aufpassen: Savage Worlds ist ein Spiel, das recht schnell zu Ende sein kann. Wer glaubt, Willenskraft und Verstand benötigt man im Kampf nicht, der irrt! Bei Savage Worlds sind die Kämpfe trickreich und wer hier ein Attribut vernachlässigt, der kann das später bitter bereuen. Und hier haben wir auch gleich einen Nachteil des Spielprinzips: wer den klassischen, dummen Barbaren spielen möchte, der im Kampf rockt, aber sonst eher minderbemittelt ist, der kann das nicht. Im Ernst: ein Barbar ohne Willenskraft oder Verstand wird im Kampf schnell ausgetrickst und erholt sich kaum davon. Einzig die Handicaps und Talente ermöglichen hier einen Ausgleich. Aber mit maximal drei Talenten zu Spielbeginn ist auch diese Option eher dünn.
Mit gerade mal drei Talenten ist Savage Worlds dabei so sehr Spiel, dass die ganze Charakterindividualisierung der Fantasie des Spielers überlassen wird und auf dem Charakterbogen kaum zu finden ist. Dass das so ist, kann ich persönlich allerdings ganz gut verschmerzen. Ich habe schon immer gerne Individualisierung außerhalb der Regeln betrieben.
Auf der positiven Seite bietet Savage Worlds eine riesige und inspirierende Sammlung von Talenten und Handicaps. Charaktere sind superschnell erstellt und man kann direkt loslegen. Kaum ein anderes System erlaubt so schnell eine Charaktererstellung. Und die Charakterentwicklung geht noch schneller. Das Stufensystem macht’s möglich. Gerade Spielleiter und Setting-Entwickler profitieren sehr von der reduzierten und vereinfachten Charakterdarstellung. Die große Auswahl an Talenten ermöglicht recht detaillierte NSCs. Im Falle der SCs muss die Fantasie und der Fluff ein wenig aushelfen.
Fazit: die Charaktererschaffung ist nichts für Erzählonkel und Anfänger. Dafür fehlt es einfach an Details und es gibt zu viele Fallstricke, die Wunschcharakteren eine kurze Lebensspanne bescheren. Dafür geht die Generierung flott von der Hand und dank der vielen Talente und Handicaps probiert man da auch gerne etwas aus. Für mich ist das ganz klar die große Stärke von Savage Worlds. Einfacher geht eine NSC- oder SC-Generierung kaum noch. Und dafür… bietet Savage Worlds eigentlich sogar recht viele Details im Profil.
5. Die Community
Normaler Weise gehört die Community nicht in die Rezension eines Spielsystems hinein. Aber die Savage-Fans sind so auffällig, dass ich sie erwähnen muss. Sie sind Fluch und Segen von Savage Worlds. Zumindest in diesem Forum.
Mir haben die Savages zuerst Lust auf das Spiel gemacht, und es mir dann fast wieder vergällt. Dass ich mir die Gentleman’s Edition gekauft habe lag daran, dass das Konzept von Savage Worlds (mit wenig Aufwand viel erreichen) genau das zu versprechen scheint, was ich schon lange suche. Aber die geradezu fanatische Hochhimmelei des Spiels mit teilweise aggressiver Ablehnung jedweder Kritik hat mir das System wirklich unsympathisch gemacht. Es hat eine Weile gedauert, bis ich wieder ein wohlwollendes Auge auf das Spiel werfen konnte, und vorher wollte ich nicht rezensieren.
Aber die Community leistet vor allem großartiges. Sie ist aktiv und produktiv. PRODUKTIV. Da wird nicht viel rumtheoretisiert, da wird GEMACHT! Davon sollten sich andere Spielergemeinschaften und Fans mal eine Scheibe abschneiden. Wirklich!
Fazit: nur wenige Spiele sind mit einer solch aktiven und produktiven Community gesegnet. Wenn sich die Produktivität auch hält, wenn der fanatische Kult einmal einer engagierten Gemeinschaft gewichen ist, dann hat Savage Worlds den heiligen Gral der Rollenspieler gefunden.
6. Resümee
Die Savage Worlds Regeln sind sehr vollständig. Es ist geradezu beängstigend, was die Macher in so ein Buch hineingepresst haben. Und es funktioniert. Bei aller Kritik an den Regeln: eine ganze Menge Spieler haben eine ganze Menge Spaß damit. Savage Worlds hat dabei auch kaum Konkurrenz zu fürchten. Es gibt kaum ein anderes Universalregelwerk mit geringem Verwaltungsaufwand. Ich würde mich freuen, wenn Cinematic Unisystem auch einmal so vollständig und mit so viel Liebe als Universalsystem verlegt würde. So lange schaue ich neidisch auf die Savage Worlds Community, und ärgere mich, dass das System einfach nicht zu mir passen will.
Ich empfehle Savage Worlds allen Taktikern. Allen, die schnell loslegen und einfach spielen möchten und sich nicht an einer gewissen Komplexität im Ablauf stören. Allen, die gerne das Spiel im Rollenspiel betonen und mit viel Platz und Miniaturen große Schlachten in einem Rollenspiel erleben möchten.
Und ich rate allen ab, die das System lieber im Hintergrund als im Vordergrund haben möchten. Allen, die gerne geradlinige und elegante Würfelsysteme haben. Allen, die keinen Platz auf dem Tisch haben um Figuren zu Schubsen oder Karten zu verteilen.
Aber ich rate allen, Savage Worlds sich zumindest einmal anzusehen. Denn wenn einem das System gefällt, bekommt man für einen vernünftigen Preis nicht nur ein vollständiges Universalsystem, sondern eine lebhafte Community und obendrein ein Werkzeug um schnell produktiv zu werden.
Für mich war’s nix. Leider.
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Schöne Rezension! :d