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Fiktion als Wettbewerber - Gedankenexperiment

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Nørdmännchen:
Die Fiktion als Wettbewerber
Ein Gedankenexperiment

Bei dem Versuch meine Hirnwindungen um die andere Theorie-Diskussion zu wickeln, die derzeit hier läuft kam mir ein abseitiger, nicht im Zusammenhang stehender Gedanke, den ich gerne zur Erprobung und Diskussion stellen würde. (Und damit mein selbst-auferlegtes Foren-Schweigegelübde breche…)

Meine Annahme ist zunächst, dass Rollenspiel (in der hier zu verhandelnden Form) sich durch die interdependente Kombination von “Play” und “Game” auszeichnet.

Erläuterung
Mit Play bezeichne ich im Folgenden den Akt eine imaginierte Wirklichkeit zu konstruieren und die entstehende Fiktion dann durch die Spielhandlung (Entscheiden, Darstellen, Kommunizieren) weiter zu entwickeln bzw. zu verändern. DISCLAIMER: Mit Geschichte, Story oder Drama hat das alles erstmal noch nichts zu tun.
Mit Game beschreibe ich den Einsatz formalisierter Methoden, deren Anwendung Resultate zeitigt, die nur in dem durch die Formalisierung gesteckten Rahmen eine Bedeutung erhalten. Insbesondere solche Bedeutungen die als Erfolge oder Misserfolge gelten können. Oft nutzt das Game dabei mechanische Hilfmittel (z.B. Würfel) - umfasst aber auch rein ritualisierte Handlungen (z.B. Erzählrechte oder Schlüsselsätze).

Das Game hängt insofern vom Play ab, dass im Rollenspiel über den Einsatz seiner individuellen Spielmechanismen nur in Abhängigkeit von der Fiktion entschieden werden kann. Ohne vorhergehende Fiktion keine Regelanwendung.1
Das Play hängt von dem Game ab, da die Resultate der Mechanik zwingende Aussagen über die Fortführung der Fiktion treffen. Ohne Auswertung der Spielmechanik keine Verlässlichkeit der Fiktion.

Randnotiz
Freie Bezüge zwischen Play und Game mögen auch in anderen Formen des Spielens bestehen. Z.B. wenn ich während eines Schachspiels die einzelnen Figuren als fiktive Persönlichkeiten imaginiere und das Spielgeschehen als Interaktion zwischen diesen interpretiere. Dennoch ist hier die Fiktion nicht notwendig für die Anwendung von Regelmechanik. Weder bedingt das Play das Game noch umgekehrt - im besten Fall begünstigen sie einander.
Auch während stark formalisierter Spielabläufe (prominentes Beispiel: Kampfsystem im traditionellen Rollenspiel), erleben die Spielenden oft eine Lockerung dieser, von vielen als essentiell empfundenen, Bindung.

Das Postulat
Soweit, so gut. Nun kam mir aber der Gedanke, ob die Funktion der Fiktion (Auslöser und Adressat der Spielmechanik) nicht eine weitere Perspektive zulässt:
Nehmen wir an, die Spielenden seien nicht die unmittelbaren Teilnehmer am Game. Vielmehr ist die Fiktion der direkte Agent bzw. Wettbewerber2, der die formalisierten Regeln anwendet und sich nach ihren Resultaten neu ausrichtet.
(Siehe so schwammig formulierte Allgemeinplätze wie: “Rollenspiel kennt keine Gewinner.” - Elemente der Fiktion können sehr wohl gewinnen oder verlieren.)
Rollenspielen hieße dann zunächst Player zu sein: Fiktion zu entwickeln.
Die Fiktion ist es dann die “das Game spielt” (jaja, es klingt dämlich - die deutsche Sprache ist unzulänglich…) - wodurch Rollenspielende nur mittelbar Wettbewerber sind.

Und was hätten wir gewonnen?
Rollenspieler tun sich traditionell schwer, ihr Hobby auf die reichhaltigen Theorien und Modelle zum Spiel zu beziehen. Mit der Perspektive “Fiktion als Wettbewerber” könnte zumindest experimentell überprüft werden, welchen Erkenntnisgewinn uns die Wissenschaft zum Thema Game vermittelt, wenn wir den Begriff des “Spielers” durch die “Fiktion” ersetzen.

Alle abstrakte Theorie ist grau und aller Väter Zeit ist knapp. Hoffentlich komme ich im Verlauf des Pfingst-Wochenendes noch dazu ein Anwendungsbeispiel zu posten.

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FUSSNOTEN
[1] Ich schreibe dies in dem Bewusstsein, dass es Rollenspiele geben mag, deren Play-Anteil vernachlässigbar ist. Das kann insbesondere auch für sehr frühe Vertreter gelten. Dennoch ist meine subjektive Beobachtung, dass die Freiheit des Play von den meisten Rollenspielenden als obligatorisch erachtet wird. Bezüglich der Tradition hält mMn z.B. auch die OSR, mit ihrer Forderung nach Spieler-Fähigkeit, den Play-Anteil sehr hoch. In ARS bin ich nicht tief genug eingearbeitet, um den dort vertretenen Standpunkt angemessen zu paraphrasieren. Storyteller (im Sinne der Spielpraxis aus den 90ern) die demgegenüber das Game für unverbindlich halten… naja, sei’s drum.
[2] Wettbewerber ist ein etwas ungünstiger Begriff, um den Teilnehmer am Spiel zu bezeichnen - da er anscheinend nur diejenigen Modelle von Game gelten lässt, die einen kompetitiven Charakter voraussetzen. Eigentlich möchte ich diese Diskussion hier raushalten, mir mangelt es nur an alternativem Vokabular. (Daher auch die leidigen Anglizismen bei Play und Game.)

EDIT: Addendum
Eigentlich müsste Fiktion in der Mehrzahl stehen. Es handelt sich um die Fiktionen, die von allen Spielenden an den Tisch gebracht werden.

Nørdmännchen:
So - und eine Probe auf's Exempel.
Vorweg: Das hier ist ein experimenteller Baukasten, keine stringente Wissenschaft. Ich nehme mir also die Freiheit "Spieler" (und synonyme Zuschreibungen wie "Teilnehmer" oder bisweilen auch "Kind") durch “Fiktion” zu ersetzen. Die Gesamtheit aller Mitspieler, Gesellschaft, soziale Gruppe o.ä. ersetze ich (zunächst und wenig differenziert) durch den geteilten Vorstellungsraum (SIS).

Am Beispiel der Theorien von G.H. Mead - zitiert nach Wikipedia:
Um aber in [einem geteilten Vorstellungsraum] handlungsfähig zu werden, muss [die einzelne Fiktion] die Rollen aller anderen beteiligten [Fiktionen] kennen und einordnen können. Diese Stufe nennt Mead game. In dieser Wettkampfsituation muss [die Fiktion] das Verhalten aller anderen verinnerlicht haben und wissen, wie es selbst handeln soll. Es muss sich damit am sogenannten „verallgemeinerten Anderen“ orientieren. Deutlich macht Mead diese Phase am Beispiel des Baseballspiels. [Eine Fiktion] könne nur dann handeln, wenn [sie] die Regeln, Aufgaben und Handlungen aller [anderen Fiktionen] und somit auch seine eigene Rolle kenne. Gleichzeitig müssen aber auch alle anderen [Fiktionen] dies mit [ihrem] Verhalten tun können, damit das Baseballspiel überhaupt möglich ist. Der „verallgemeinerte Andere“ oder „generalisierte Andere“ stellt nicht nur das Regelsystem innerhalb eines Wettkampfes dar, sondern im Großen und Ganzen [den gesamten geteilten Vorstellungsraum] mit seinen Werten und Normen. Durch die Orientierung an eben diesem Anderen kommt es zu einer [auf den SIS bezogenen] Strukturierung des Selbst.
Es wird deutlich, dass [die individuelle Fiktion ihre] Identität ausschließlich durch die Interaktion mit anderen [Fiktionen] erhält. Nur durch die Orientierung an den anderen [Fiktionen des geteilten Vorstellungsraumes] ist [die Individual-Fiktion] in der Lage dazu, sich als solche[] wahrzunehmen. So kann aus der Identität [der einzelnen Fiktion] sowohl auf die [] Verhaltensmuster [des geteilten Vorstellungsraumes] geschlossen werden als auch auf die Identität aller anderen [Fiktionen].


Zitatende und EDIT: Demnach ist das Game im Rollenspiel dann konstituierend für die Möglichkeit einzelner Fiktionen, sinnvoll (wasauchimmerdasheißenmag) an einem geteilten Vorstellungsraum teilzunehmen.

eldaen:
So ganz klar, worauf du damit hinaus willst, ist mir zwar noch nicht, aber mal felgende Gedanken meinerseits:

Die Unterscheidung zwischen Play und Game (die nur im Englischen so deutlich zutage tritt, und im Deutschen eben nicht) predige ich ja auch schon lange.

Allerdings würde ich deiner Erläuterung, die Fiktion bedinge zumindest initial die Anwendung der Game-Elemente so leider nicht zustimmen. Ja, es sollte meiner Meinung nach zwar so sein, aber meine persönliche Erfahrung ist die, dass sobald die Game Elemente (in Form von Charakterbögen und vor allem den Werten) bei vielen die Entscheidung (und damit die Fiktion) bewusst - und bei einer noch größeren Zahl von Spielern unbewusst - beeinflussen. Da wird, bevor es überhaupt zu einer Entscheidung für eine der theoretisch unbegrenzten Möglichkeiten, die die Fiktion zuließe, kommt, immer auch die Erfolgswahrscheinlichkeit mit Gedacht. Das tragische dabei ist, dass häufig hauptsächlich und detaillierter das definiert ist, was der Charakter kann, nicht, wie er ist. Was wiederum dazu führt, dass ersteres auf letzteres projiziert wird und somit die Möglichkeiten in eine negative (i. e. nicht dem eigentlichen Charakter der Figur entsprechende) Richtung beeinflusst. Der tatsächliche Charakter einer Figur bleibt dabei weitestgehend eine Blackbox. In jedem Fall für die Mitspieler, häufig aber auch für den Spieler selbst. Er wird doch nur zu einem Problemlösungsvehikel.

(Hinzu kommen dann eben noch die sozialen Komponenten beim Rollenspiel und das, was ich einfach mal die "Schizophrenie des Rollenspielens" nennen würde: Selbst wenn ich als Spieler in die Blackbox der Seele meines Charakters hineinsehen kann, bin ich doch durch viele andere Faktoren in meiner Entscheidung eingeschränkt, denn ich bin dann gerade zwei Personen in einer, die in beide in ihren eigenen Welten und sozialen Konstrukten agieren. Aber das führt denke ich vom eigentlichen Thema weg...)

Letztlich lässt sich das "Fiction First" also in der Praxis meiner Meinung nach nicht so umsetzen , wie du es beschreibst, und definiert nicht nur die Fortführung, sondern sehr stark auch den Anfang und die Auswahl an Aktionen überhaupt. In Anlehnung an Schopenhauer würde ich behaupten, ein Rollenspieler und seine Rollenspielfigur können zwar tun, was sie wollen, aber sie können eben nicht wollen, was sie wollen. Der Versuch, zu definieren, was da jetzt zuerst kommt, ist wie die Entscheidung zwischen Henne und Ei.

Und da der Einfluss des Könnens auf den Spieler eben (meiner Meinung nach) deutlich größer ist als der des Seins, sind eben sehr wohl auch die Spieler direkte Agenten / Wettbewerber.

Nørdmännchen:
Och menno - jetzt zerstör mir doch meine schönen Ideale nicht!  ~;D

Du hast mMn recht und der Gedanke Fiktion vor Mechanik findet so oftmals nicht streng statt.
Es handelt sich eher um eine höhere Idee (gibt es eigentlich kein RSP-Philosophie-Board?) als um eine in Reinform existierende Wirklichkeit. Ich wage aber dennoch zu behaupten, dass bis zum direkt gamenden Auslösen einer Regelmechanik für die meisten Situationen ein Stück vorbereitender Fiktion stattfindet. (Und das dieser Anteil des Play von vielen Spielenden als notwendiges Kriterium für Rollenspiel empfunden wird.)

Die eigentliche Trigger-Fiktion wird dann (wie du sagst: leider) oft abgekürzt. Da bin ich bei Dir.
Den Vorgang der darin stattfindet würde ich "implizite Fiktion" nennen. Alle Mitspielenden haben sich auf eine Fiktion geeinigt, durch die die Regelanwendung legitimiert wird. Die Fiktion wird also nicht offen kommuniziert, sondern nur durch die Regelanwendung impliziert. ("Aha, sie würfelt auf Attacke - offensichtlich schlägt Alrike grade mit dem Schwert zu.")
Diese implizite Fiktion ist aber dennoch Teil des Play. Leider Gygax' ist ihre Anwendbarkeit und Offensichtlichkeit (im Wortsinne - Charakterblätter usw.) so hoch, dass die explizite Fiktion (nach der angeblich so viele Rollenspieler streben) unter die Räder kommt und oft nur gleichförmige (weil vorgefertigte) fiktionalen Inhalte entstehen.

Für mein Gedankenexperiment genügt mir aber ganz persönlich die Vereinfachung auf Fiktion (egal ob explizit und implizit). Ich habe hier noch keine Beweisführung im Kopf, sondern möchte prüfen, ob ich irgendwelche Erkenntnisse aus diesem Spiel [pun intended] ziehen kann.

EDIT:
--- Zitat von: HEXer am 20.05.2018 | 17:03 ---In Anlehnung an Schopenhauer würde ich behaupten, ein Rollenspieler und seine Rollenspielfigur können zwar tun, was sie wollen, aber sie können eben nicht wollen, was sie wollen.

--- Ende Zitat ---
Danke! Sehr schön.  ;D

YY:
Randbemerkung:


--- Zitat von: HEXer am 20.05.2018 | 17:03 ---Da wird, bevor es überhaupt zu einer Entscheidung für eine der theoretisch unbegrenzten Möglichkeiten, die die Fiktion zuließe, kommt, immer auch die Erfolgswahrscheinlichkeit mit Gedacht. Das tragische dabei ist, dass häufig hauptsächlich und detaillierter das definiert ist, was der Charakter kann, nicht, wie er ist.

--- Ende Zitat ---

Theoretisch unbegrenzt sind die Möglichkeiten doch ganz entschieden nicht.
Das wird ja nicht nur auf der einen Seite durch die Spielmechanik begrenzt (bei der sich der Autor möglicherweise sogar etwas Zielführendes gedacht hat), sondern auch durch den Rahmen, den sich die Fiktion im Vorfeld und im aktuellen Verlauf "selbst" gesetzt hat.

Unbegrenzte Möglichkeiten mit vergleichbaren Erfolgsaussichten bedeuten erzählerische Beliebigkeit und nichts ist auf Dauer uninteressanter und reizloser.
Selbst wenn es darum gehen soll, was/wie der Charakter ist, sind die Erfolgsaussichten doch der Dreh- und Angelpunkt - denn am Relevantesten ist das da, wo Entscheidungen gegen die bzw. trotz der Wahrscheinlichkeiten getroffen werden.

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