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[AD&D 2.5E] Von Feuer und Düsternis – Erzählungen aus Euborea

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Jenseher:
Einleitende Worte: Ich habe mich entschieden hier die Mitschriften unseres Spiels zu veröffentlichen. Die Mitschriften können dabei von verschiedenen Spielern angefertigt worden sein. Genauso kann das Spiel unter verschieden Meistern stattgefunden haben. Also wundert Euch bitte nicht, wenn sich der Erzählstil, wenn sich der Stil des Spiels oder wenn sich die Welt hier und dort ändert. Die Regel ist, dass bei uns die Spieler die Mitschriften selbst anfertigen (natürlich freiwillig).

Die Berichte gibt es leider nur ohne Bilder der Mitschriften, was schade ist. Ich besitze aber für die Bilder nicht die Urheberrechte.


Hier noch etwas zum Hintergrund und zu den Regeln, die wir verwenden:

System: AD&D 2nd Edition, Player’s Option (AD&D 2.5)
Verwendete Bücher: Player’s Handbook (TSR2159), Dungeon Master Guide (TSR2160), Skills and Powers (TSR2154), Combat and Tactics (TSR2149), Spells and Magic (TSR2163), Monstrous Manual (TSR2140), High Level Campaigns (TSR2156)
Schwierigkeitsgrad: Je nach Meister, leicht bis schwer
Charaktergenerierung: 84 +1d6 Punkte für die Attribute, frei in den Rassengrenzen verteilbar
Gesperrte Rassen: Alle Planescape Rassen
Gesperrte Klassen: Monk, Psionicist
Teilnehmende Charaktere: Siehe Spielbericht.
Gesperrte und veränderte Zauber: Haste, Disintegrate, Stoneskin, Find Familiar, Enlarge und Zauber aus dem „Cult of the Dragon“
Ort: Euborea (Prime Material World)

Und zu guter Letzt bitte ich Euch zu beachten: Die Darstellungen aus dem Spiel spiegeln in keiner Weise Moralvorstellungen oder Gesinnungen einzelner Spieler oder der Gruppe wider. Alle Charaktere, wie auch die Geschichte, sind natürlich fiktiv.​

/*** Edit ***/
Hier sind die Abenteuer zu den einzelnen Sitzungen:

(Klicke zum Anzeigen/Verstecken)Sitzung 01 - Sitzung 04: Einleitung - Flucht aus dem Unterreich - Wildnis (eigen)
Sitzung 05 - Sitzung 11: Kingdoms of Kalamar - YK1 - The Hungry Undead
Sitzung 12 - Sitzung 19: In das Unterreich (eigen)
Sitzung 20 - Sitzung 23: Village of Hommlet (T1)
Sitzung 24 - Sitzung 33: The Sentinel (UK2), TSR9101
Sitzung 34 - Sitzung 38: The Gauntlet (UK3), TSR9111
Sitzung 39 - Sitzung 46: Glimringshert, das glühende Herz aus Schatten (eigen)
Sitzung 47 - Sitzung 57: Tore nach Unterirrling | Tempel des Jensehers (The Gates of Firestorm Peak, TSR9533)
Sitzung 58 - Sitzung 61: Kreischende Winde des Wahnsinns (Dungeon #77 - Beyond White Plume Mountain - Wrath of Keraptis)
Sitzung 62 - Sitzung 70: Steading of the Hill Giant Chief, TSR9016 aus Queen of Spiders, TSR9179
Sitzung 71 - Sitzung 78: Glacial Rift of the Frost Giant Jarl, TSR9017 aus Queen of Spiders, TSR9179
Sitzung 79 - Sitzung 92: Hall of the Fire Giant King, TSR9018 aus Queen of Spiders, TSR9179
Sitzung 93 - Sitzung 102: Des Nachtzwergenkönigs verlorene Kinder (eigen)
Sitzung 103 - Sitzung 108: Araphyx: Das schwarze Herz aus Eisen (eigen)

Jenseher:
Tief unten im Felsgestein herrscht die ewige Dunkelheit. Ein Reich seltsamer Farben und Geschöpfe eröffnet sich für jene, die die Dunkelheit durchblicken können. Wie ein weit verzweigtes Netz von Wurzeln ziehen sich Kavernen und Schächte. Was Wasser und erzwungener Wille fortlaufend formt, birgt gleichsam Reichtum und Leere, Kälte und Feuer, Leben und Gift sowie Hoffnung und Verderben.

Neire von Nebelheim richtete sich zitternd auf. Er war für sein jugendliches Alter von 15 Jahren groß gewachsen und von schlanker, anmutiger Gestalt. Er hatte ein Geräusch gehört und drehte seinen von langen gold-blonden Locken eingerahmten Kopf in die Richtung des steinernen Tunnels. In der Dunkelheit schimmerte seine weiße makellose Haut. Er war in Kleidung aus feinstem dunklen Chin’Shaar Leder gehüllt; ein roter Umhang mit schwarz-goldenen Stickereien bedeckte seine Schultern. Jetzt konnte er die Gestalt sehen, die sich ihm vorsichtig näherte. Neires Hand glitt von seinem Degen, den er hatte ziehen wollen. Es war der Söldner den er erwartete. Eine grobschlächtige Gestalt eines muskulösen Elfen trat ihm entgegen. Grünliche Augen waren in dem vernarbten Gesicht zu erkennen, an dem schulterlange silberne Haare fettig klebten. Besonders prominent wirkte das fehlende Ohr. Neire vernahm den säuerlichen Geruch von Bier und Schweiß, der von der mit Dolchen bewaffneten Gestalt ausging und erhob zitternd seine lispelnde Stimme: „Seid ihr… seid ihr der Söldner den ich erwarte?“

Seit einiger Zeit gingen Halbohr, so hatte sich der elfische Söldner vorgestellt, und Neire durch den Tunnel. Neire hatte einen Vertrag unterzeichnet, den ihm Halbohr mit einer drohenden Bestimmtheit reichte. Innerlich hatte Neire gezittert vor Wut, doch er hatte auch Angst vor dem Söldner. Zudem war sein neuer Begleiter nicht besonders gesprächig. Mehrfach hatte Neire bereits versucht ein Gespräch zu beginnen, das Halbohr mit barschen Kommentaren unterband. Der Tunnel wand sich mal aufwärts, mal abwärts. Die Zeit, die hier unten verging, war schwer abzuschätzen. Plötzlich drehte sich Halbohr um und suchte nach einer Felsspalte. Der Söldner hatte ein Geräusch gehört und duckte sich, um mit den Schatten zu verschmelzen. Auch Neire drehte sich um und versuchte sich hinter den Söldner zu ducken. Aus dem Gang hinter ihnen waren jetzt leise Schritte zu vernehmen. Eine Gestalt bewegte sich auf das ungleiche Paar zu; eine Gestalt, die nur schwer von den Schatten zu trennen war. Gehüllt in schwarze Kleidung, waren nur zwei gelblich schimmernde Augen unter der Kapuze zu sehen. „Tretet hervor und zeigt euch, oder Halbohr wird euch töten.“ Die lispelnde Stimme Neires durchbrach die angespannte Stille des Tunnels. Neire drückte zitternd Halbohr nach vorne. Jedoch entspannte sich die Situation, als die Gestalt die Hand von ihren Waffen entfernte und die Kapuze zurückzog. Es offenbarte sich ihnen ein nicht-menschliches Gesicht mit grauer Haut und spitzen Ohren; die Spuren von dunkelelfischer Abstammung waren zu sehen. Die Gestalt, die sich als Uthriel Al’Lael vorstellte, schien Neire und Halbohr nicht feindselig gesonnen zu sein und so entwickelte sich ein Gespräch. Ein Gespräch das alsbald abrupt unterbrochen wurde, denn der Gang begann leicht zu vibrieren; ein Knirschen und Knacken ging durch den Stein. In weiter Ferne konnte Uthriel das Strömen von Wasser vernehmen, das sich rasch näherte. „Kommt mit uns wenn ihr leben wollt.“ Die Worte von Halbohr hallten eindringlich durch den Gang, als er Neire unsanft packte und durch den Gang die Flucht ergriff. Weg von dem Geräusch, weg durch die bebende Erde.

Müde und erschöpft betrachteten die drei Streiter die gewaltige Höhle, die sich vor ihnen auftat. Stundenlang waren sie durch die Dunkelheit gelaufen und dem Tunnel gefolgt. Irgendwann hatten sie Uthriel verloren, doch er war wieder zu ihnen aufgeschlossen. Vor ihnen lag jetzt eine Höhle, die nicht gänzlich zu durchblicken war. Teils baumgroße Riesenpilze ragten hier und dort auf. Mit gezogenen Waffen bewegten sie sich vorsichtig an der rechten Felswand entlang. Immer wieder blickten sie sich hastig um. Von dem entfernten Wassergeräusch war schon lange nichts mehr zur hören gewesen. Sie hatten bereits die Hälfte der Höhle durchquert, deren Ende sie jetzt sehen konnten, als plötzlich Kampfesschreie um sie herum ertönten. Kleine Kreaturen, kaum größer als die Länge eines Schrittes, stürzten sich herab auf Neire, Halbohr und Uthriel. Sie waren mit kruden kleinen Waffen ausgerüstet. Ihre flachen Gesichter waren gekennzeichnet durch breite Nasen, spitze Ohren und weite Mäuler, mit scharfen kleinen spitzen Zähnen. Neire schrie vor Angst, als drei Angreifer auf ihn zustürmten. Er ging in die Defensive und sah aus den Augenwinkeln, wie Halbohr bereits mit schnellen Angriffen die ersten Gegner niederstreckte. Auch Uthriel führte wie Halbohr seine Waffen beidhändig mit tödlicher Präzision. Der Kampf wurde grimmig und mit äußerster Brutalität geführt. Als Neire zwei seiner Angreifer mit seinem Schlangendegen erstochen hatte, begann die Furcht, das Adrenalin sich in Übermut und Mordlust zu wandeln. „Halbohr, fangt mir eines dieser des Lebens unwürdigen Kreaturen“, rief er in einem Befehlston in der Sprache der Unterreiche. Doch Halbohr schien ihn nicht zu verstehen. Die Kreaturen ergriffen die Flucht und wurden größtenteils rücklings erstochen. Gerade wollte Halbohr zum tödlichen Stich auf die Gestalt ansetzen, die vor ihm gestolpert und halb in einer Felsspalte versunken war, als Neire seine Stimme erneut erhob. „Halbohr, bringt mir diese Kreatur lebend.“ Er sprach jetzt in der gemeinen Zunge, die Halbohr verstand. Gemeinsam drückten sie die fast wehrlose Gestalt auf den Stein, nahmen das Seil entgegen, das ihnen Uthriel reichte und begannen sie zu fesseln.

Der Goblin stammelte, brabbelte in einer unbekannten gutturalen Sprache. Er saß auf dem Boden, gefesselt an einen Riesenpilz. Sein Anblick erfüllte Neire mit einem tiefen Hass. Die fliehende Stirn, die dumm daher glotzenden Augen, die Angst die offensichtlich war. Neire strich sich seine Locken zurück und hob arrogant sein Kinn. Nein, keiner seiner Mitstreiter betrachtete ihn, würdigte seine Schönheit vor dieser abscheulichen Kreatur. Halbohr und Uthriel durchsuchten die Leichname nach Habseligkeiten. Hervor zog er seine linke Hand, die er bisher unter seiner gesegneten Robe versteckt hatte. Das Fleisch der Finger war jetzt verheilt, doch die Verbrennungen mussten grausam gewesen sein. Neire begann die Gestalt mit seiner linken Hand zu würgen, während er auf sie in der Sprache der Unterreiche einredete. Der Goblin stammelte weiter vor sich hin und wich seinem Blick aus; erregter als vorher. „Wer hat euch geschickt. Wer ist euer Herrscher?“ Nein, keine Antwort. Nur die Worte „Mutter“ und „Essen“ konnte er verstehen. Es schien zwecklos zu sein. Er stand auf und begann eine Fackel aus seinem Rucksack hervorzuholen. Alsbald begann das Licht des rußigen Feuers den unterirdischen Pilzwald zu erhellen. Lange Schatten formten sich. Schatten und Feuer, Feuer und Schatten. Neire nahm die Fackel und begann den Kopf der kleinen Kreatur zu entzünden. Schon schlugen die Haare Flammen hervor, die Gestalt fing an in Todesqualen zu schreien. Neire lächelte und dachte an die immerbrennenden Fackeln, die er im Palast entzündet hatte. Eine tiefe kindliche Freude erfüllte ihn. Feuer und Schatten, Schatten und Feuer. Der Ring, der ihm vermacht wurde, brannte schmerzhaft, aber wohltuend an seiner linken Hand. Er fühlte sich lebendig. Vergessen waren Qual und Trauer. Er dachte an die Runen im Feuer, an die Geheimnisse verborgen in den Schatten. Das Feuer glühte rötlich in seinen nachtblauen Augen.

Sie hatten im Pilzwald gelagert und begannen jetzt den Felstunnel zu erklimmen. Hier und dort mussten sie klettern, große Felsbrocken umgehen. Es ging fortan nach oben und die Luft begann langsam kühler zu werden. Eine Zeitlang ging das jetzt so. Gerade hatten sie eine Felswand überwunden, als sie vor sich eine kleine Höhle sahen. Der Tunnel endete dort. Sie konnten eine Leiter erkennen, die zu einer Öffnung in der Decke führte. Jedoch war die Öffnung durch einen Felsblock versperrt. Neben der Leiter war ein Hebel im Fels zu erkennen. Halbohr trat hervor, nickte seinen Mitstreitern wortlos zu und betätigte den Hebel. Der Fels über der Öffnung begann sich knirschend zu bewegen als er den Hebel betätigte, doch kaltes Wasser brach in Massen herab und flutete die Höhle. Als der Strom langsam abebbte begann Halbohr die Leiter hochzuklettern. Kühle Luft strömte ihm entgegen, Regen prasselte auf sein Haupt. Er blickte hinaus aus den Tiefen der Erde und sah über ihm einen wolkenverhangenen, bleiernen Himmel. Auf dem Block, der sich wegbewegt hatte, brannte eine bläuliche Flamme. Er war in einem kleinen Tümpel emporgestiegen, dessen Wasserstand nun in die Erde hinabgestürzt war. Um ihn herum sah er lichtes Gehölz, jetzt, im Regen und Zwielicht, undurchsichtig. Als er sich umdrehte, bemerkte er aus den Augenwinkeln ein rötliches Aufleuchten.​

Jenseher:
Zwischenwelten hatten schon immer eine besondere Anziehungskraft auf mich. Im Kraftgemenge der sich auf ewig verschiebenden Elemente entstehen und zerbrechen Mengen zu Untermengen. Die Ausprägungen sind vielfältig, gefährlich und wunderschön, folgen offensichtlich keinen Gesetzen und führen zu immer neuen Lebensbedingungen. Kulturen – seltsam und gewöhnlich – bizarr und erbarmungslos – blutrünstig und schaffend – kommen und gehen. Der suchende Geist scheint vom Wandel an seine Extreme gebracht. So erinnere ich mich zurück an meine Zeit in der obsidianenen Stadt. Gefangen zwischen Eis und Feuer, gehüllt in die Schatten des Dampfes und der rötlichen Flammen, lag sie seit Ewigkeiten unter dem großen Gletscher…​

Verborgen unter Nebeln und Eis, unbekannter Unterreichsforscher

Halbohr zog sich in den strömenden Regen hinauf. Der Ort, den er betrachtete, hatte etwas Magisches an sich. Es berührten sich Unterreich und Oberwelt hier. Er drehte sich um und versuchte kauernd das Zwielicht zu durchblicken. Um ihn herum lag der Morast des jetzt geleerten Tümpels. Dahinter konnte er kleine, von lichtem Wald bewachsene, Erhebungen sehen. Hügelgräber einer längst vergangenen Zeit? Als er sein narbiges, kantiges Gesicht in Richtung des kleinen Altars drehte, hörte er ein Geräusch in der Dunkelheit. Plötzlich konnte er rötlich glühende Punkte von Augenpaaren sehen, die sich im Morast auf ihn zubewegten. Er reagierte schnell, erhob sich in Kampfposition und zischte: „Kommt hinauf… ein Hinterhalt“. Keinen Moment zu spät hatte er sich bewegt, denn schon zischte ein schwerer bronzener Speer an ihm vorbei, der mit einem schmatzenden Geräusch im Schlamm versankt. Halbohr sah jetzt bleiche Knochen auf ihn zu waten. Sie trugen die Reste von zerbrochenen oder verrosteten Rüstungen. Archaische Helme bedeckten bleiche Schädel, in denen rotglühende Augenpaare voller Hass nach Leben hungerten. Ein Stück weit watete er selber in den Schlick und zog seine Dolche in Erwartung des nahenden Kampfes.

Uthriel und Neire folgten Halbohr hastig die Stufen hinauf. Gedämpft durch das Geräusch des prasselnden Regens waren deutlich Kampfgeräusche zu hören. Sie sahen die in einen dunklen Filzmantel gekleidete Gestalt von Halbohr, die nur schemenhaft erkennbar war. Eine Handvoll Skelette hatte den Söldner bereits umringt; weitere rückten nach. Neire blickte abwechselnd in die Tiefe des Schachtes, abwechselnd zu den Kreaturen. Sie würden ihnen bestimmt nicht folgen, unter die Erde. Zurück in die sichere Dunkelheit… Plötzlich wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Eine skelettene Gestalt bedrängte jetzt auch ihn. Er duckte sich unter dem Schlag hinweg und vernahm den Geruch von Erde und Fäulnis. Neben ihm hatte Uthriel bereits eine der Kreaturen zu Fall gebracht. Seine schwarze Kleidung war mit Schlamm und Dreck besudelt; er stand fast knietief im Morast. Nur ab und an war sein nicht-menschliches Gesicht zu sehen. Im Zwielicht funkelten seine gelblichen Augen auf. Die drei Gefährten drängten sich jetzt Rücken an Rücken. Sie versuchten ihr Gleichgewicht zu bewahren und zur selben Zeit gezielte Angriffe auszuführen. Unermüdlich stachen sie zu; wieder und wieder durchschnitten ihre Klingen die Luft und trafen auf bleiche Knochen. Die Knochen der lebenden Toten schienen hart zu sein; hart wie verwitterter Stein.

Als der Steinblock samt blauer Flamme sich zu bewegen begann überkam Neire die Angst. Er wollte zurück, hinab in die Tiefe, in die Sicherheit. Er stieß das Skelett mehrfach von sich, das ihn bedrängte. Dann blickte er in Tiefe. Doch der Steinblock hatte sich bereits geschlossen. Der Rückweg war versperrt, der Tunnel nicht mehr zu sehen. Verzweifelt stieß Neire seinen mit Schlangenmustern verzierten Degen nach vorne. Der zum Kopf geführte Schlag bohrte sich durch das rot-glühende Auge des Skeletts und er hörte den Schädel knacken. Die Kreatur sank vor ihm im Morast nieder. Er sah keine weitere feindselige Gestalt in seiner direkten Nähe und drehte sich blitzartig zu Halbohr um. „Was sollten wir tun? Halbohr, … Halbohr, gebt Befehle!“ Der Söldner drehte sich nicht um zu ihm, doch er hörte die Stimme Halbohrs ihm antworten. „Bringt euch in Sicherheit, dort die Anhöhe… Ich werde euch folgen.“ Neire konnte zwar nicht sehen wo der Söldner hingezeigt hatte, doch er begann durch den Morast zu waten. Er schaute sich um, aber keine der Kreaturen war hinter ihm her. Als er sich bereits die Böschung hinaufzog hörte er den Schmerzschrei von Uthriel. Er blickte abermals zurück. Wasser lief in seine Augen und er keuchte. Halbohr kam bereits auf ihn zu. Verschwommen sah er Uthriel die verbleibenden Kreaturen bekämpfen. Er musste wohl verletzt worden sein. Neire zog sich weiter durch Matsch und Gras den Abhang hinauf, richtete sich auf und begann sich umzublicken. Die Bäume um ihn herum glänzten dunkel im Zwielicht des prasselnden Regens. Er konnte keine Bewegung ausmachen. Hinter sich hörte er Halbohr bereits den Abhang hochklettern. Neire sah wie der Söldner sich zu Uthriel umdrehte und hörte seine Stimme: „Uthriel, folgt uns, wenn ihr leben wollt.“ Neire kauerte sich unter einen Baum und betrachte den dunklen Wald. Er spürte, dass Halbohr neben ihm aufgeschlossen war. Gemeinsam blickten sie in die Dunkelheit, suchten nach einem möglichen Pfad. Plötzlich sah Halbohr zwischen den Bäumen weitere rötliche Augenpaare aufleuchten. Sie näherten sich ihnen rasch. Diesmal mussten sie kämpfen. Halbohr stellte sich fünf weiteren Skeletten. Neire versuchte derweil die Gestalten zu umgehen und von hinten anzugreifen. Erneut entbrannte ein Kampf. Als der verletzte Uthriel zu ihnen stieß, begann sich langsam das Blatt zu wenden. Gemeinsam streckten sie schließlich die letzte Gestalt nieder. Erst jetzt sahen Neire und Halbohr, dass Uthriel aus zwei tiefen Wunden blutete.

„Habt ihr Angst vor dem Feuer?“ Neire hatte sich zu der an einem Baumstumpf ruhenden Gestalt von Uthriel hinabgebeugt; seine leise lispelnde Stimme war kaum zu hören im Geräusch des Regens. Als Uthriel mit fragendem Blick seinen Kopf zu Neire wendete, begann der Jüngling zu lächeln. „Die Macht meiner Göttin fließt durch mich. Sie heißt Heria Maki. Sie ist Feuer, wie sie Schatten ist.“ Die weiße glatte Haut Neires glitzerte im Zwielicht; Ströme von Wasser liefen über sein Gesicht, tropften von seinen hellen, gelockten Haaren herab. Bevor Uthriel antworten konnte, führte Neire weiter aus: „Ich kann euch helfen, helfen eure Wunden zu schließen. Doch ihr müsst das Feuer akzeptieren, …, so sagt, habt ihr Angst vor dem Feuer?“ Uthriel schien einen Moment zu zögern. Doch er begann den Kopf zu schütteln, „Nein, ich habe keine Angst vor Feuer.“ Einen Augenblick schien die Zeit einzufrieren, im prasselnden Regen. Dann weitete sich das Lächeln Neires zu einem überzogenen Grinsen. Seine in der Mitte gespaltene Zunge fuhr über seine perfekten Zähne, als wolle er den Regen aufsaugen. Neire zog seinen linken Arm unter seinem jetzt durchnässten Umhang hervor. Er legte das vernarbte Fleisch der grausam verbrannten Hand behutsam auf die Wunde von Uthriels Seite. Seine rechte Hand begann seltsame Runen in die Luft zu zeichnen. Schlangenartige Laute der Beschwörung wurden vom Regen verschluckt. Einen kurzen Moment meinte Uthriel einen rötlichen Schimmer in den Augen von Neire zu sehen. Wie glühende Magma, durchzogen von schattigen Furchen. Dann kam der Schmerz. Wie Feuer schoss es durch seine Seite. Als ob glühender Stahl die Wunde berührte. Uthriel begann zu zittern, doch er zog die Zähne zusammen. Er spürte eine tiefe, sich chaotisch wandelnde, Macht in ihn eindringen. Als Neire von ihm abließ hatte sich die Wunde fast vollständig geschlossen.

Als die merkwürde Gruppe sich völlig durchnässt unter dem gewaltigen Baum niederließ, war das Zwielicht nicht gewichen. Sie waren einige Stunden querfeldein marschiert. Halbohr hatte die Richtung angegeben. Sie waren auf und ab gegangen, durch die von kleinen Hügeln durchzogene Landschaft. Keine weiteren Skelette waren ihnen begegnet und irgendwann hatten die Worte von Neire das Rauschen des Regens durchbrochen. Wieder und wieder hatte er Halbohr mit seinen Fragen belästigt. Ob er schon einmal einen Menschen umgebracht hätte; ob es ihm Spaß bereitet habe. Ob er bereits gefoltert hätte. Schließlich war Halbohr in Stille verfallen – dem Söldner war das Unbehagen anzusehen gewesen, doch er hielt sich stoisch an seinen ausgehandelten Vertrag. Als Neire seinem Unmut, seiner schlechten Laune freien Lauf ließ, hatte sich schließlich Uthriel eingemischt und Neire zur Stille ermahnt. Das hatte gewirkt. Jetzt kauerten sich die drei Streiter an die alte knorrige Eiche, die ihnen wenigstens ein wenig Schutz vor dem Regen gab. Sie nahmen wortlos ein karges Mahl ein. Das Gespräch, welches sie geführt hatten, nachdem Uthriel den Baum hinaufgeklettert war, war verstummt. Nur Wald und Hügel hatte er gesehen. Ein Land, begraben unter Zwielicht und überschüttet von Regen. Wortlos hüllten sie sich in ihre Wanderdecken und versanken in ferne Gedanken und unruhige Träume.​
 

Jenseher:
Neire kniete auf dem moosbewachsenen nassen Waldboden. Er hatte seinen Oberkörper entblößt, um sich in einer Pfütze zu waschen. Gerade blickte er selbstverliebt in das Spiegelbild, das er im Wasser sah und das durch den Regen immer wieder verzerrt wurde. Er war schlank, anmutig und drahtig; sein jetzt nasses, gelb-goldenes Haar fiel in Locken von seinem Kopf und umrahmte seine hohen Wangenknochen, seine gerade Stirn. Seine milchig weiße Haut schimmerte im diffusen Zwielicht. Sein gesamter linker Arm war jetzt entblößt und jeder konnte es sehen. Neire schaute sich kurz um und sah tatsächlich, dass Uthriel seinen Arm betrachtete. Bis einschließlich zur Schulter führten die grauenvollen Verbrennungen, die die Haut dunkel vernarben hatten lassen. Doch dort sah er auch das rötliche Funkeln. Die drei Fingerkuppen-große Rubine waren symmetrisch in die Haut seiner linken Schulter eingelassen und mit dem Fleisch verwachsen. Auch jetzt erfüllte Neire eine freie und ungebundene Freude, als er die drei Herzsteine betrachtete. Er blickte in das Wasser der Pfütze und begann wie in alter Gewohnheit nach den Runen zu suchen. Doch kein Glühen sah er, nur Dunkelheit und Schwärze. Bevor die Traurigkeit, die Sehnsucht erneut in ihm aufkam, raffte er sich auf. Er musste ein Gebet zu seiner Göttin sprechen.

Es wurde langsam dunkler, als Neire auf seine beiden Gefährten zuschritt. Er trat heran zu Uthriel, der sich unter die knorrige alte Eiche kauerte. Sie hatten alle eine unruhige Rast verbracht. Nur wenig Unterschlupf hatte der Baum geboten. Jetzt waren Kleidung und Decken bis auf die Knochen durchnässt. Von Uthriel waren im Zwielicht nur schattenhafte Umrisse zu erkennen. Gelbliche Augen schimmerten unter der Kapuze seines Mantels; seine dunkle Haut und die feinen Gesichtszüge ließen sein zu Teilen dunkelelfisches Blut erahnen. „Uthriel, seid ihr noch verletzt?“ Uthriel vernahm den süßlich-modrigen Geruch des seltsamen Parfüms, das Neire nach dem Waschen aufgetan hatte. Er nickte wortlos und deutete auf seine Seite, wo der dunkle Fleck von Blut unter dem Verband zu erkennen war. „Ich kann euch erneut die Macht meiner Göttin zukommen lassen, doch sie verlangt eine Gegenleistung. Lasst uns zusammen ein Gebet sprechen.“ Das Prasseln des Regens überdeckte die Stille, die in diesem Moment eintrat. Uthriel schien einen Moment zu zögern. Dann nickte er. „Gut, so soll es sein. Sprechen wir das Gebet zu Ehren der Göttin.“

Neire und Uthriel hatten sich beide auf das nasse Moos gekniet. Neire hatte seine linke Hand auf die Wunde gelegt und blickte ernst in die Augen von Uthriel. „Sprecht mir nach Uthriel, zu Ehren der Göttin.“ Der Regen fiel weiter in Strömen herab, als Neire zu sprechen begann. Das schattenhafte Licht hatte sich in eine rabenschwarze Nacht aufgelöst.

„Preiset die schwarze Natter, als Abbild unserer Göttin. Weinet nicht um die verglimmenden Feuer, weinet nicht um die erlischende Glut. Denn die Dunkelheit birgt ihre Ankunft. Schatten ist das Licht unserer Göttin und Flammen der Morgen ihrer Heiligkeit.“

Uthriel sprach die Worte Satz für Satz nach. Er blickte in Neires Augen und sah jetzt deutlich das rötliche Schimmern, das sich dort gebildet hatte. Wie funkelnde Magma, durchzogen von dunklen Rissen. Er spürte den Schmerz, wie von glühendem Eisen in seine Seite eindringen. Doch abermals fühlte er die chaotische Macht, die ihn durchflutete. Wie das Aufbrausen einer Feuersbrunst, wie flüsternde, wabernde Schatten. Seine Wunden begannen sich auf wundersame Weise zu schließen. Auch Neire spürte die Macht, doch ein sonderbares Brennen ging von dem Ring aus, den er an seiner linken Hand trug. Es war, als ob sich die silbernen Venen in dem schwarzen Stahl des Rings verformen würden. Ein leichtes Glühen war zu sehen, ein Schatten, der sich ausbreitete. Neire sah, dass sich eine neue Rune geformt hatte, die er kannte. Es war die Rune des mächtigen Dieners. Jetzt erhob sich Neire und trat auch zu Halbohr heran. Der grobschlächtige elfische Krieger mit dem silbernen Haar betrachtete mit weit geöffneten Augen die Dunkelheit des Waldes. Erkennbar waren die vielen Narben, die Halbohr als Erinnerung an vergangene Kämpfe trug. „Halbohr, ich sehe ihr seid verletzt. Meine Göttin, Heria Maki, kann auch euch helfen.“ Neire lächelte Halbohr generös zu. Als Halbohr zustimmend nickte, legte Neire seine Hand auf die Wunde und begann alte Gebete in einer seltsamen Sprache zu zitieren. Seine gespaltene Zunge brachte zischelnde Laute hervor. Doch nach kurzer Zeit brach der Jüngling ab und begann höhnisch zu lachen. „Das habt ihr davon Halbohr. Die Macht der Göttin wirkt bei euch nicht. So lange, wie ihr euch wie ein Schwächling hinter dem Vertrag versteckt, kann ich euch nicht helfen. Verbrennt den Vertrag als ein Opferzeichen und ich kann euch helfen.“ Natürlich hatte Neire die Täuschung geplant und Halbohr in die Irre geführt. Er hatte überhaupt nicht versucht die Macht der Göttin zu beschwören. Doch Halbohr schien ihm zu glauben. „Ich werde den Vertrag nicht verbrennen, er dient zu meiner Absicherung.“ Als Neire Halbohr antworten wollte, hörten die Gefährten einen entfernten Schrei leise durch den Wald hallen. Sie konnten nicht sagen, wie weit der Schrei weg war. Er hörte sich zuerst wie der eines Raubvogels an, doch wurde dann zu einem halbmenschlichen. „Wartet hier, ich werde dem Schrei nachgehen“, sagte Halbohr flüsternd und kaum durch den Regen zu erhören. Neire und Uthriel nickten zustimmend, zogen leise ihre Waffen und blickten dem Elfen nach, der schleichend in die Dunkelheit verschwand.

Halbohr bewegte sich leise durch die schwarze Nacht. Er mied größere Pfützen und umgestürzte Bäume. Weiter in die Richtung, wo er das Geräusch gehört hatte. Bald schon konnte er Kampfeslärm hören. Die Sicht auf das Geschehen wurde ihm durch einen umgestürzten Baum genommen. Er schlich sich im toten Winkel der aufragenden Wurzel weiter auf das Geräusch zu. Die Dunkelheit konnte er mit seinen elfischen Augen durchblicken. An der Wurzel ging Halbohr in Deckung und lugte vorsichtig hervor. Er sah im Regen das Aufglimmen von rötlichen Augen. Eine Reihe von Skeletten hatte einen, in eine Lederrüstung gehüllten, Krieger umzingelt. Neben den humanoiden Skeletten, die Speere und Rüstungsteile trugen, sah er außerdem tierische Kreaturen aus bleichen, vermoderten Knochen, die einst wohl große Hunde oder Wölfe gewesen sein mussten. Halbohr beobachtete die Szenerie und entschied sich abzuwarten. Der Kampf entwickelte sich gegen den Krieger. Sein Oberschenkel wurde von einem Speer durchbohrt und er stürzte zu Boden. Schon drangen die tierischen Skelette auf ihn ein. Der Krieger versuchte sich noch einmal aufzuraffen, stieß einen Schmerzensschrei aus. Dann brach er hernieder und sein Körper begann wild zu zucken. Die Skelette drangen weiter auf ihn ein, als würden sie nach jedem Funken kostbaren Lebens, nach jedem Tropfen Blut lechzen. Halbohr hielt sich verborgen und entschied weiter abzuwarten. Abzuwarten, bis die Kreaturen von der Leiche abließen. Doch wieder und wieder stachen die Speere zu; wieder und wieder rissen die Hunde Stücke von Fleisch aus der Gestalt. Plötzlich zuckte Halbohr zusammen als er eine Hand auf seiner Schulter spürt. Als er sich umdrehte, hörte er die zischelnde Stimme Neires. „Was ist mit der Gestalt, lebt sie noch? Sollen wir eingreifen?“ „Nein, wartet ab Neire. Ich werde mich von rechts anschleichen,“ antwortete der Söldner. Neire kauerte sich jetzt an die Stelle an der Halbohr verweilt war. Auch Uthriel war mit Neire den Geräuschen nachgegangen. Er versteckte sich hinter einem knorrigen Baum. Neire und Uthriel sahen die Gestalt des Söldners durch die Dunkelheit in Richtung des Kampfes huschen. Als sich Halbohr in Position gebracht hatte, näherten sich auch Neire und Uthriel aus verschiedenen Richtungen. Halbohr startete den Überraschungsangriff aus der Dunkelheit und rammte seinen Dolch von hinten in den Schädel einer Kreatur. Die Kreatur begann niederzusinken, das rötliche Glühen verschwand aus den Augen. Doch jetzt begannen sich die verbleibenden Kreaturen Halbohr zuzuwenden. Ein wilder Kampf entbrannte, als auch Neire und Uthriel sich auf die Skelette stürzen. Hin und her wogten die Angriffe, die die Streiter ausführten. Einige der Skelette wendeten sich nun Neire und Uthriel zu. Als einer der Speere Neire in der Brust traf, erfüllte sein heller Schrei den Kampfplatz. Doch sahen Neire und Uthriel wie Halbohr von zwei Speeren durchbohrt wurde und mit einem grimmigen Gesichtsausdruck zu Boden ging. Die beiden Streiter standen jetzt alleine gegen die verbleibenden Skelette. Sie konnten nicht sehen, ob Halbohr noch lebte.

Mit einem kräftigen Hieb seines Langschwertes trennte Uthriel den Kopf des Hundeskelettes ab. Das das letzte Paar glühender Augen verglimmte. Neire und Uthriel blickten sich rasch um. Es waren keine weiteren Gestalten mehr zu erkennen. Zwischen den verrotteten bleichen Knochen sahen die beiden die leblose Gestalt von Halbohr im Regen liegen. Er hielt noch immer seine beiden Dolche umklammert, sein grimmiges Gesicht war mit Blut bedeckt. Neire näherte sich Halbohr und kniete nieder. Er legte die leicht gewellte Klinge seines Degens mit dem von Schlangen verzierten Griff auf den Boden und prüfte seinen Gefährten nach Lebenszeichen. Ein schwacher Puls war noch zu erfühlen, jedoch sah Neire einen Blutstrom aus einer der Speerwunden strömen. Er begann ein Leinentuch aus seinem Rucksack zu holen und die Wunde zu verbinden. Seine Gedanken waren jedoch bei dem Vertrag, der seiner Meinung nach ihn knechten, seinen Geist unterwerfen sollte. Neire dachte zurück an die Gemächer des Turmes von Trellentorm, an die er sich nur noch verschwommen erinnern konnte. Da war es wieder, …, das Hämmern des glockenartigen Nachhalls in seinem Schädel. Ich muss ihn finden, …, muss ihn finden und vernichten. Ist das meine Aufgabe, ist das das Schicksal der Stadt? Neire drehte den Körper Halbohrs um. Er vernahm den süßlichen Geruch von Schweiß, der von dem elfischen Söldner aufstieg. Seine Hände waren noch mit dem Blut Halbohrs bedeckt, als er in dessen Rucksack nach dem Schriftstück zu suchen begann. Schließlich zog er mehrere Siegeldokumente hervor, unter denen er auch den Vertrag sah. Wut flammte in Neire auf. Er nahm das Stück Papier, schloss seine Augen und dachte an das brodelnde Magma und die sich ewig wandelnden Runen aus Schatten. Er beschwor die Macht seiner Göttin, so wie die Priester es ihm gezeigt hatten. Doch jetzt begann sich die Flamme tatsächlich zu formen. Wilde Freude erfasste ihn, als er sah wie das magische Feuer aus seiner linken Hand aufstieg. Er nahm den verhassten Vertrag und führte ihn dem Feuer seiner Göttin zu. Schon bald begannen sich die Seiten in Rauch und Asche aufzulösen.

Neire erhob sich und blickte zu Uthriel. „Habt ihr etwas gefunden?“ Uthriel hatte die Überreste der Skelette untersucht und den Inhalt des Rucksacks offenbart, den der jetzt tote Krieger bei sich trug. Neire betrachte die Gegenstände, unter denen er nichts besonders Wertvolles ausmachen konnte. Schließlich sah er die Rolle einer Kordel und es kam ihm eine Idee. Er musste grinsen. „Uthriel, …, Halbohr hat heute nicht sein Wort gehalten. Er wollte mich beschützen, doch er wurde von diesen Kreaturen niedergemacht. Nur die Macht meiner Göttin konnte ihn vor dem sicheren Tod bewahren.“ Uthriel blickte Neire fragend an. Er war noch immer über den Inhalt des Rucksacks gekniet: „Was wollt ihr mir sagen Neire, worauf wollt ihr hinaus?“ Neire trat zu Uthriel und nahm die Kordel und eine Sichel an sich, die der tote Krieger trug. „Wartet Uthriel, …, wartet; ihr werdet es schon sehen.“ Neire führte die Sichel zum Leichnam hinab und begann eines der Ohren des unbekannten Kriegers abzuschneiden. Die Haut war merkwürdig ledrig und widerstand den ersten Schnitten. Als er das Ohr abgetrennt hatte, trat er zu Halbohr und fing kindlich an zu lachen. Er erinnerte sich zurück an die guten Zeiten; als sie als Kinder der Flamme ihre schlafenden Kameraden geneckt hatten; als sie ihnen obszöne Symbole ins Gesicht gemalt hatten. Er nahm das abgetrennte Ohr und die Kordel und legte die Narbe an Halbohrs Kopf frei. Als er die silbernen Haare zur Seite gerafft hatte, drückte er das blutige Stück Fleisch auf die Stelle des fehlenden Ohrs und begann die Kordel um den Kopf zu binden. Höhnisch grinsend richtete er sich auf und blickte zu Uthriel: „Von heute an könnte er Zweiohr oder Vollohr heißen. Was meint ihr Uthriel?“

Neire und Uthriel begannen durch den Wald zu laufen. Sie hatten Geräusche aus dieser Richtung gehört; Geräusche von den sie glaubten, dass sie leiser wurden. Die Furcht, dass sie etwas belauscht hatte, trieb sie an. Sie hatten Halbohr im Regen liegengelassen und waren vorsichtig in die Schwärze der Nacht vorgedrungen. Als sie die Spuren gefunden hatten, waren sie sich sicher; jemand hatte sie beobachtet und flüchtete jetzt. Dann waren sie schneller und schneller gelaufen. Hatten hier und dort angehalten und gehorcht. Gerade hatten sie einen kleinen Hügel überquert, als sie verschwommen Bewegungen sahen. Vor ihnen flüchteten kleine Humanoide Gestalten, die von Moos und Flechten überwachsen waren. In ihrer Mitte war eine pflanzenartige Kreatur, in der Größe eines Hundes erkennbar. Keinen Kopf konnten die beiden ausmachen; als würde eine aus Dornenranken gewachsene Pflanze wandeln. „Halt!“ Neires Stimme durchbrach das gleichförmige Geräusch des Regens. Beide Streiter hatten ihre Waffen gezogen. Die Kreaturen verlangsamten ihre Flucht und drehten sich um. Doch Neire und Uthriel hörten einen schrillen hohen Schrei des Pflanzenhundes, als die Gestalten zum Angriff ansetzen. Ein wilder Kampf entbrannte, in dem die Klingen von Uthriel und Neire anfangs die Ranken der wandelnden Pflanze nicht durchdringen konnten. So konzentrierten sie sich auf die Humanoiden und töteten einen nach dem anderen. Als sie schließlich die Pflanze umzingelt hatten, durchschnitt das Langschwert von Uthriel den Rankenpanzer und zerteilte die Kreatur. Einen weiteren der flüchtenden Humanoiden machen sie rücklings nieder. Sie untersuchten noch die Leichen, doch dann kam ihnen der Gedanke: Wo war Halbohr? Im Eifer des Gefechts hatten sie die noch immer bewusstlose Gestalt liegengelassen. Hastig machten sich die beiden auf den Rückweg.​

Jenseher:
Der Wald war in Dunkelheit getaucht. Das an Laub- und Nadelbäumen hinablaufende Wasser schimmerte. Strömender Regen ließ hier und dort Rinnsale und Pfützen entstehen. Ein Schleier von Nässe betäubte die Sinne und wurde regelmäßig unterbrochen von größeren Tropfen, die sich aus dem Unterholz lösten. Die ungleichen Gefährten hatten sich am Kampfplatz versammelt. Um sie herum waren neben den Überresten von Skeletten ein frischer Leichnam zu sehen; ein Krieger mit blutbefleckten blonden Haaren. Sein Gesicht war nicht mehr zu erkennen. Eingeschlagen war sein Schädel, zerfetzt sein Brustkorb, abgetrennt war ein Ohr, geplündert seine Habseligkeiten.

Halbohr hustete Blut, als er zu Bewusstsein kam. Schmerzen überall. Irgendetwas drückte auf die Narbe seines vor langer Zeit verlorenen Ohres. Seine grünlichen Augen erfassten verschwommen die Umgebung. Direkt vor ihm sah er das Gesicht des schönen Jünglings, das fast sein gesamtes Sichtfeld versperrte. Neire hatte sich zu Halbohr niederkniet und ihm kleine Ohrfeigen geben. Als der elfische Söldner aufwachte, lächelte Neire ihn an. Obwohl Neire sein Bestes tat um fröhlich auszusehen, sah man ihm doch die Strapazen der vergangenen Tage an. Der Regen und die Kälte begannen nicht nur ihm zuzusetzen. Halbohr jedoch war dem Tode immer noch nahe. Seine Arme zitterten als er vorsichtig nach seinem Ohr tastete. Seine Stimme war vielmehr ein Flüstern: „Was ist passiert.“ „Ihr wart dem Tode nahe“, antwortete Neire. Er legte einfühlsam eine Hand auf Halbohrs Schulter. „Nur mit der Kraft meiner Göttin konnte ich euch zurückholen.“ Er ließ einen Augenblick zwischen den Worten, die er wählte. „Zuerst war meine Kunst wirkungslos, doch dann, …, doch dann konnte ich euch helfen.“ Seine Stimme kam ins Stocken, sein Lispeln und der starke Akzent einer fremden Sprache waren jetzt besonders deutlich zu hören. „Meine Göttin forderte Tribut; der Vertrag musste sich in Flammen auflösen.“ Neire versuchte so freundlich wie möglich zu wirken, doch der elfische Söldner ächzte auf, knirschte mit den Zähnen. „Auch wenn Schrift vergangen ist, haben die Worte bestand,“ flüsterte Halbohr gegen den Regen. Neire schüttelte energisch seine nassen gold-blonden Locken und erwiderte: „Nein, alles was IHREN Flammen übergeben wurde, existiert nicht mehr. Solange Ihr Euch an Gesetze klammert, werdet Ihr schwach bleiben.“ Er führte weiter fort. „Wendet Euch IHR zu, nur so kann ich Euch beim nächsten Mal helfen.“ Halbohr blickte Neire hasserfüllt an. „Vielleicht wird es kein nächstes Mal für Euch geben.“

Uthriel beugte sich über den Rucksack des toten Kriegers und suchte weiter nach geheimen Fächern. Das Leder war nass und schwer. Er beachtete Halbohr und Neire nicht weiter. Als er ein fein gearbeitetes spitzes Jagdmesser hervorzog, blickte er auf und hörte Halbohr durch den Regen zischen. „Was ist das? Wer hat das gemacht?“ Halbohr hatte das blutige Ohr samt der Kordel von seinem Kopf gelöst und hielt es vor sich. Neire war aufgestanden und wich vorsichtig über die Reste der Skelette zurück. „Wir, wir dachten es würde euch helfen, …, vielleicht anwachsen... Im Unterreich gab es Heiler, die abgetrennte Gliedmaßen anwachsen lassen konnten. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.“ Halbohr blickte Neire immer noch feindselig und ungläubig an, ließ sich dann aber erschöpft zurücksinken und schloss seine Augen. Er sah nicht, dass Neire sich zu der Gestalt des toten Kriegers herabgebeugt hatte.

Neire betrachtete den Kopf des blonden Mannes. Wie hatte wohl das Gesicht einst ausgesehen? Gleichzeitig war er geekelt und doch fasziniert von der roten Suppe aus Haut, Knochen und Zähnen. Eines der Augen war hervorgequollen und betrachtete ihn unentwegt. Regenwasser strömte hinab und vermischte sich mit dem Blut. Er bewegte einige der Knochenplatten, indem er seine Finger eindringen ließ. Darunter kam Gehirnmasse hervor. Seine Gedanken schweiften zurück in eine jetzt ferne Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die er in den letzten Tagen verdrängt hatte. Fackelschein und Gerüche von seltsamen Gewürzen. Chin’Shaar Fleisch. Als besondere Delikatesse hatte er davon gekostet. Einmal gab es sogar einen halb-geöffneten Schädel mit rohem Chin’Shaar Gehirn. Er hatte sich damals nicht getraut davon zu kosten. Versunken in Gedanken hatte Neire bereits eines der Gehirnstücke in seinen Mund geführt. Er vernahm den Geschmack von Eisen als er zu kauen begann.

Sie waren eine lange Zeit den Spuren durch die Dunkelheit und den Regen gefolgt. Neire hatte immer wieder versucht Halbohr aufzumuntern. Doch Halbohr hatte nur schmerzhafte Laute von sich gegeben. Dem elfischen Söldner schien es immer schlechter zu gehen. Irgendwann war der Wald dichter geworden und Halbohr hatte begonnen zu schwanken, zu stolpern. Neire hatte versucht ihn zu stützen, doch Halbohr hatte sich nicht helfen lassen. Schließlich war er gestürzt und Neire und Uthriel hatten ihn rückwärts an einen Baum gesetzt. Halbohr hatte gezittert und war kaum noch ansprechbar gewesen. Er schien zu fiebern. Neire und Uthriel hatten dann vereinbart, dass Uthriel den Spuren weiter folgen sollte. Eine lange Zeit war Uthriel jetzt schon fort und Neire hatte aufgehört auf Halbohr einzureden. Zudem hatte er in Halbohrs Augen etwas Grünliches gesehen, wie die Spuren von Moos. Er grübelte gerade, ob er den Begleiter mit dem Teil dunkelelfischen Blutes jemals wiedersehen würde, als er eine Stimme aus dem Wald hörte. „Neire, Halbohr, eine Hütte, …, verlassen und nicht weit von hier. Kommt…“

Sie waren Uthriel durch den Wald gefolgt, bis an einen Abhang. Neire und Uthriel hatten Halbohr unter den Armen gepackt und ihn durch den Wald gezogen. Hinter dem Abhang hatten sie die kleine Jagdhütte gesehen. Das Holz des Spitzdaches schimmerte nass in der Dunkelheit. Wie Uthriel gesagt hatte, schien die Hütte verlassen, aber nicht unbewohnt zu sein. Neire und Uthriel hatten schließlich die verschlossene Türe aufgerammt. Im Inneren hatten sich ihnen ein kleiner Ofen, zwei Stuben und eine karge, aber nützliche Einrichtung offenbart. Sie hatten die Räume durchsucht und Uthriels wachsame Augen waren auf eine geheime Falltür, unter einem Bett einer der Stuben gestoßen. Stufen hatten sie hinabgeführt in zwei aus dem Felsen geschliffene Kellerräume. Eine Quelle, Vorräte und die Spuren von Ausweidungen hatten sie aufgefunden. Schließlich waren sie mit Vorräten nach oben zurückgekehrt und hatten die Geheimtüre hinter sich verschlossen. Jetzt brannte ein kleines Feuer in dem gusseisernen Ofen; in einem Kochtopf brutzelte eine Suppe aus Trockenfleisch und Pilzen. In Halbohr war langsam wieder etwas Leben zurückgekehrt. Doch er konnte sich kaum noch wachhalten. Er hatte sich wortlos in einen der kleineren Räume zurückgezogen und war in seiner nassen Kampfausrüstung auf dem Strohlager niedergesunken. Die Flammen des Feuers spielten jetzt mit den Schatten. Eine wohlige Wärme hatte sich in dem Raum verbreitet in dem Neire und Uthriel saßen. Neire betrachtete Uthriel. Er sah das Gesicht mit der steingrauen Haut, den spitzen Ohren. So lange er auch grübelte, er konnte das Alter seines Begleiters nicht abschätzen. Uthriels gelblich schimmernde Augen wirkten nicht müde. Im Gegensatz zu Halbohr schien er Neire erfahrener und robuster zu sein. Zudem hatte er mit Neire das Gebet zu seiner Göttin gesprochen. Ich sollte ihm von der Göttin erzählen, ihren wahren Namen nennen. Vielleicht ahnt er es schon. Er scheint aus dem Unterreich zu kommen. Neire blickte in Richtung des Raumes in dem Halbohr schlief. Von dort hörte er leise Schlafgeräusche. „Uthriel ich muss euch etwas erzählen, etwas anvertrauen. Könnt ihr ein Geheimnis behalten?“ Uthriel betrachtete seinen Gegenüber. Neires lange Locken waren getrocknet und glänzten rot-golden im Lichte der Glut. „Ich kann ein Geheimnis behalten. Was ist es? Sprecht.“ Die Schatten schienen in diesem Moment länger zu werden, als sich Neire in das rötliche Licht wendete. „Meine Göttin ist nicht Heria Maki.“ Er sprach den Namen der rechtschaffenen Feuergöttin mit zischender Verachtung. „Meine Göttin ist Feuer und Schatten, sie ist die Schwertherrscherin, die Flamme des Chaos, sie hat Tausend Namen…“ Wieder war da das Glühen von Magma in Neires sonst blauen Augen zu sehen. „Sie ist die Königin von Feuer und Dunkelheit. Ihr Name ist JIARLIRAE.“

Neire und Uthriel hatten sich bei der Wache abgewechselt. Uthriel hatte die erste Wache übernommen. Wilde Träume hatten derweil Halbohr und Neire gequält. In Neires Traum hatten Wunden Blut hervorquellen lassen. Blut, das in dem Ring verschwand, den er trug. Der Ring wurde schwerer und neue Runen bildeten sich. Runen des Ringes, deren Sinn er nicht erkennen konnte. Halbohr hatte von seiner Kasernenzeit geträumt. Als sein Ohr abgetrennt wurde, spürte er doch eine Art von Unterstützung. Irgendwann hatte Uthriel Neire geweckt. Die Nacht musste jetzt bereits vergangen sein. Neire hatte seine Gebete zu Jiarlirae abgeschlossen und sein Ritual beendet. Er starrte in die Flammen des Ofens und lauschte dem Knistern der Glut und dem Prasseln des Regens. Plötzlich hörte er ein Geräusch von splitterndem Glas. Stöhnen und Ächzen drangen von draußen durch den Regen. Verrottete Hände begannen durch die Fenster zu fassen und an die Türe zu trommeln. Hastig sprang er auf, alarmierte Halbohr und Uthriel und streifte sich das dunkelelfische Kettenhemd über. Uthriel war als erster an der Türe und begann diese zu sichern. Doch vergeblich. Das Holz begann schon zu splittern, als sich die ersten Kreaturen hereindrängten. Die Leiber halb verrottet, gierten leblose Augen nach dem Fleisch der Lebenden. Ein Gestank von Verwesung machte sich in der Hütte breit, als die nassen Körper willenlos nach vorne drängten. Neire beschwor einen Degen aus purem Feuer und so begannen Uthriel und er die Türe in erster Reihe zu sichern. Halbohr warf von hinten mit Dolchen. Ein heftiger Kampf entbrannte und Körper um Körper wurde zu Fall gebracht. Doch der Strom toter Leiber ebbte nicht ab. Als das Licht von Neires Flammenklinge bereits erloschen war, sahen die drei Gefährten die Fremden, die sich durch Regen und Matsch näherten. Ein in eine Rüstung gekleideter Ritter, von zwei Schritten Größe schwang eine gewaltige Hellebarde. Ihn begleiteten zwei kleinere Krieger; ein Elf und eine Dunkelelfin. Die Hautfarbe der Dunkelelfin war schwarz wie die Nacht. Auf dem Waffenschurz des Ritters erkannte Neire das Wappen der Stadt Fürstenbad. Zwei nach oben schauende Fische, Rücken an Rücken mit aufgerissenen Mäulern auf weißem Grund. Als der letzte der Untoten bekämpft war, watete der Ritter durch den Matsch und baute sich vor Neire und Uthriel auf. Seine Stimme klang donnernd durch die Nacht: „Unleben muss vernichtet werden. Seid ihr auf unserer Seite?“

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