Autor Thema: Einfluss von Regelmechaniken auf Spielverhalten  (Gelesen 15292 mal)

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Re: Einfluss von Regelmechaniken auf Spielverhalten
« Antwort #75 am: 25.11.2011 | 15:52 »
Du bist glaube ich einer Tautologie(?) zum Opfer gefallen. Du hast bei Deiner Betrachtung nur rein gamistische Bezugpunkte genommen und siehst am Ende Deiner Ausführung ein Problem darin, dass nur rein gamistische Bezugpunkte gewählt wurden.

Zum Beispiel siehst Du nur dann den Nutzen einer Fähigkeit als gegeben, wenn diese Fähigkeit zur Lösung eines Problems verwendet wird. Das ist aber falsch. Der Nutzen einer Fähigkeit kann darin liegen, dass das "Reinschlüpfen" in Deinen Charakter und das Erleben der Spielwelt durch Deinen Charakter erleichtert wird. Du kannst Dir z.B. Deinen Charakter besser vorstellen, wenn auf Deinem Charakter zusätzlich zur Klasse oder Template "Krieger" noch dabei steht, dass er noch gute Werte in Landwirtschaft und Töpfern hat. Das erinnert Dich daran, dass Du einen bäuerlichen Krieger, der noch starken Bezug auf sein Heimatdorf hat, spielen wolltest.
Bereits damit ist die Fähigkeit "Töpfern" extrem nützlich für den Charakter.
Genauso bedeutet "Belohnung" nicht nur dass es XPs gibt, sondern auch weltlicher Lohn, Anerkennung durch die Mitspieler oder Anerkennung durch die Spielwelt. Gerade die Anerkennung durch Mitspieler (wie z.B. Fanmail) bedeutet keinen Machtanstieg innerhalb der Spielwelt und hat damit eigentlich nichts mehr mit einem gamistischen Fokus zu tun.
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Joseph Joubert (1754 - 1824), französischer Moralist

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Re: Einfluss von Regelmechaniken auf Spielverhalten
« Antwort #76 am: 25.11.2011 | 16:36 »
Gamistischer Standpunkt:

Ja, genau das meine ich, ich betrachte das Rollenspiel jetzt nur überwiegend unter gamistischen Standpunkten, zwar nicht von der anfänglichen Annahme an ("System matters") aber bei allen Folgerungen schwingt eine "gamistische" Perspektive mit. Aber unter der Prämisse, dass in jedem Rollenspieler auch soetwas wie ein kleiner Gamist steckt, erscheinen mir meine Folgerungen ganz solide.

Ich weise deswegen auf den Gamismus hin, weil ich vermute, dass ich eine "eingebaute" ins Gamistische gehende Sichtweise mitbringe (auch wenn ich diese Überbetonung von "Herausforderung" nicht so ganz teile und generell die "Herausforderung" in Rollenspielen eher als niedrig ansehen würde und meine Runden nicht ständig hardcore-gamistisch leite/spiel).

Mich würde es jetzt mal interessieren, wie Leute in einem SIM oder NAR-Blickwinkel die Beeinflussung von System/Regelmechanik auf die Spieler und zurück ansehen. Mir fällt es schwer, mir bei so Sachen wie "Töpfern" eine Bedeutung im Spiel vorzustellen, außer als kleinen Farbtupfer, der bei mir in die Sparte: "Atmosphäre ohne Abenteuerrelevanz"* fällt.

Wenn jemand/ein Spieler Fertigkeiten kauft (und mit Punkten bezahlt, für die er auch "Abenteuerfertigkeiten" kaufen könnte), die zu 90% eigentlich nur in reinen Atmosphäreszenen genutzt werden können, frage ich mich als SL immer: "Wie baue ich jetzt mein Abentuer auf, damit dieser teuer bezahlte Skill auch mal zur Anwendung kommen kann?"** Und wenn ich mir irgendwelche im Regelwerk angeboteten Skills für meinen Charakter kaufe, wundere ich mich jdesmal aufs neue, warum man die im Abenteuer noch nicht einmal gebraucht hat.

Wie gesagt, mein möglicherweise "gamistisch" geprägter Blick. Ich würde gerne mal den Zusammenhang zwischen System und Spielerverhalten aus einer anderen Perspektive zum Vergleich lesen.

* Zur Klarstellung: Atmosphäre hat Spielrelevanz, sie hilft den Spielern dabei, sich die Welt vorzustellen und fördert wahrscheinlich diese ominöse "Immersion". Atmosphäre gehört zum RSP auf jeden Fall dazu. Allerdings haben reine Atmosphäre-Szenen nach meiner Meinung keine Auswirkungen auf den Verlauf und/oder das Ergebnis des Abenteurs und sollten - so meine Meinung - so wenig wie möglich verregelt werden. In abenteuerrelevanten Szenen (wichtige Gespräche, wichtige Kämpfe, wichtige Actionsequenzen) gibt es auch Atmophäre, aber sie spielt eine untergeordnete Rolle: ein Schwerthieb trifft den Orc mit 18 Schadenspunkten tödlich - das ist relevant, das hat konkrete Folgen im Abenteuerverlauf. Aber es ist natürlich schöner, wenn es packend geschildert wird.

** Zumindest habe ich mich das früher immer gefragt, mittlerweile sage ich dem Spieler einfach: "Mach das zum Trapping eines erwartungsgemäß nützlicheren Skills."
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Re: Einfluss von Regelmechaniken auf Spielverhalten
« Antwort #77 am: 25.11.2011 | 18:15 »
Ich weiss leider nicht, was Du genau unter einer reinen Atmosphäre-Szene verstehst. Ich versuche trotzdem mal ein Beispiel zu bringen für den Einsatz von Mechaniken auf solche Szenen:
In vielen Systemen gibt es Nachteile, wie Gesucht oder Süchtig usw mit denen man weitere Generierungspunkte erkaufen. Diese Nachteile verkomplizieren meist die Lösung der Konflikte innerhalb eines Abenteuers. Aber dafür bekommt man dann einen Bonus, um die Probleme anders zu lösen. Unter dem gamistischen Standpunkt versuchst Du dann im Abenteuer Deine Nachteile so weit wie möglich aus dem Abenteuer zu halten.
In 7te See werden solche Nachteile aus einem anderen Blickwinkel gesehen. Mit den Nachteilen gibst Du dem SL zu verstehen, welche Konflikte Dich interessieren. Du willst zum Beispiel, dass Dein Charakter schönen Frauen nichts abschlagen kann oder dass dieser eine Rivale, mit dessen Frau Dein Charakter geschlafen hat, immer wieder versucht sich endlich an Deinem Charakter rächen zu können. Solche Szenen sind dann Dein Spotlight. Deswegen kosten solche Nachteile bei der Charaktergenerierung Punkte. Gleichzeitig kann der SL in passenden Situationen diese Nachteile anstossen. Da ist jetzt eine schöne Frau und die will, dass Du Deine Freunde verrätst (Übrigens eine tolle Szene. Ich würde mit meinem Charakter SOFORT meine Freunde verraten, nur um ihn danach leiden zu lassen). Wenn Deine Nachteile zum Tragen kommen, bekommst Du dafür Dramadice (das sind sowas wie Bennies bei SW). Du wirst also vom System über die Mechanik dazu gebracht freiwillig die Nachteile Deines Charakters gegen die Ziele Deines Charakters einzusetzen.
In Fate geht die Sichtweise sogar noch weiter. Dort wird mit Aspekten gearbeitet, die Du als Vorteil benutzen kannst, aber gleichzeitig auch als Nachteil. Du musst sie als Nachteil benutzen, damit Du Fatepoints bekommst, um sie als Vorteil nutzen zu können.
Welche Auswirkung hat das auf Atmosphäre-Szenen? Sie machen Atmosphäre-Szenen zu Szenen, die ganz entscheidenden Einfluss auf den weiteren Verlauf eines Abenteuers hat. Ich würde sogar so weit gehen, dass sie dann die Rolle spielen, die bei Deiner Betrachtungsweise die Kampf- oder die Abenteuerszenen haben.
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Re: Einfluss von Regelmechaniken auf Spielverhalten
« Antwort #78 am: 26.11.2011 | 11:11 »
Ich weiss leider nicht, was Du genau unter einer reinen Atmosphäre-Szene verstehst. Ich versuche trotzdem mal ein Beispiel zu bringen für den Einsatz von Mechaniken auf solche Szenen:

...
Beispiel
...

Welche Auswirkung hat das auf Atmosphäre-Szenen? Sie machen Atmosphäre-Szenen zu Szenen, die ganz entscheidenden Einfluss auf den weiteren Verlauf eines Abenteuers hat. Ich würde sogar so weit gehen, dass sie dann die Rolle spielen, die bei Deiner Betrachtungsweise die Kampf- oder die Abenteuerszenen haben.

Hmm, das Problem ist, nach meinem Verständnis sind alle Szenen, die Einfluss auf den Abenteuerverlauf oder das Abenteuerende haben, keine (reinen) Atmosphäreszenen. (Abenteuer mal grob als Folge thematisch verbundener Szenen verstanden.) Das wollte ich anhand des Kampfbeispiels verdeutlichen, weil Kämpfe in den seltensten Fällen keine Bedeutung für Verlauf und Ergebnis haben (den Spezielfall des Illusionismus/Partizipationismus/RR mal ausgenommen, da ist ja letzten Endes alles Atmo).

Kurz gesagt: Atmosphäreszenen werden (in meiner Wahrnehmung/Terminologie) durch die Abwesenheit von Auswirkungen definiert. Die Abwesenheit von Auswirkungen macht für mich die Anwendung von Regelmechaniken irrelevant: wofür würfeln (oder sonstwie das Regelbuch bemühen), wenn es keine Konsequenzen hat?

Ein typisches Beispiel wäre für mich das sogenannte "Tavernenrollenspiel": Die Charaktere trinken Bier, unterhalten sich mit Tavernengästen, spielen Dart/Billard usw., aber nichts davon hat Auswirkungen darauf, was im Abenteuer passiert. Alles dient dazu, den Spielern die Spielwelt vor Augen zu führen oder in ihren Charakteren zu versinken. Genauso Reiseszenen, bei denen die Natur der Spielwelt gezeigt wird usw. All das hat keine Auswirkungen in späteren Szenen.

Sobald eine Szene Folgen für Verlauf oder Ergebnis hat, ist sie keine reine Atmosphäre mehr, kann aber Atmosphäreelemente enthalten. Wenn ein Spieler seinen Charakter mit Konsequenzen in eine schwierige Situation bringt, die Folgen für den Charakter, die Gruppe oder das Abenteuer haben könnte, ist die Atmosphäre zweitrangig, die Konsequenzen sind erstrangig.

Am Beispiel der Nachteile: Ein Charakter, z.B. der Heiler der Gruppe, hat den Nachteil "Alkoholiker auf Entzug" (z.B. als Fate-Aspekt). In einer Tavernenszene bestellen alle SCs Bier, nur der Alkoholiker auf Entzug bestellt Tee. Am Spieltisch kommt es zu einem "in Character"-Gespräch um die Alkoholprobleme des SC - schöne Atmosphäreszene, ohne Konsequenzen für den Abenteuerverlauf. Genauso, wenn der SC ein Bier (oder eher Härteres) bestellt und die Gruppe es ihm ausreden will. Bei sowas würde ich noch keine Regeln anwenden wollen.

In einer späteren Szene werden die SCs mit einer Situation konfrontiert, deren Verlauf/Ausgang für den Verlauf bzw. Ausgang des Abenteuers Konsequenzen hat. Beispielsweise geraten sie in ein Feuergefecht, bei dem ein wichtiger Informant angeschossen wird. Der Heiler kümmert sich um diesen verletzten Informanten und auf einmal steht die Frage im Raum, ob er sich mithilfe einer herumliegenden Schnapsflasche nicht ein wenig Mut vor der Behandlung der blutenden Wunde antrinken will - hier hat der Nachteil ganz klar eine Konsequenz fürs Abenteuer.

Der Unterschied ist, glaube ich, relativ deutlich. Interessant werden dann Szenen, die z.B. von "atmosphärisch" zu "relevant" umkippen. Nehmen wir mal wieder das anfängliche Tavernenrollenspiel, bei dem ganz plötzlich, innovativ und ungewohnt ein älterer Herr mit Rauschebart und spitzem Hut auftaucht, der kompetente Abenteurer für eine kleine Mission sucht. Auf einmal wird es vielleicht interessant, ob der Charakter Symptome seiner Sucht zeigt, oder durch Alkoholeinfluss beeinträchtigt ist. In diesem Fall ist die Abenteuerrelevanz der Szene gewissermaßen von "außen" (SL-Initiative) herangetragen worden.

Umgekehrt kann natürlich die Abenteuerrelevanz durch Spielerinitiative in die Szene eingebracht werden: Die Gruppe spielt einen Streit um die Alkoholabhängigkeit ihres Heilers aus, der in eine Kneipenschlägerei bis zum Eintreffen der Stadtwache mündet (oder der Charakter trinkt und beleidigt volltrunken andere Gäste, oder ein Charakter setzt Sozialfähigkeiten/Magie ein, um den Heiler am Trinken zu hindern usw.). Damit sind natürlich Fakten in die Spielwelt gesetzt, die einen dauerhaften Einfluss haben (SCs kriegen Kneipenverbot, werden in die Ausnüchterungszelle oder aus der Stadt geworfen, geben sich als Magieanwender zu erkennen usw.).
 
Das Problematische an den Auswirkungen von Regelmechaniken auf das Spielverhalten sehe ich darin, dass diese Regelmechaniken für SIMler oder NAR-Spieler gewissermaßen redundant sind. Ein "gamistischer" Spieler, der mit Gummipunkten (oder XP) belohnt wird, wenn er die Nachteile seines Chrakters ins Spiel einbringt, kann so gewissermaßen dazu ermuntert werden, diese Schwächen ins Spiel zu bringen, die er sonst - da bin ich ganz deiner Meinung - versucht hätte, aus dem Spiel herauszuhalten. Aber ein SIMler, ein NAR, die wollen doch von sich aus das Spielen, was mit den Gummipunkten schmackhaft gemacht werden soll.

Ich sehe ein, dass solche Mechanismen ein Instrument sind, um den SL zu ermuntern, nicht nur auf sein Abenteuer/seine Spielwelt + die Regeln für geplante Szenen zu achten, sondern auch als Flaggen dafür dienen können, was der SL anbringen soll und was die Charaktere wollen. Wäre eine tolle Leistung (ohne Ironie, ich habe SLs erlebt, die keinen Meter darauf geachtet haben, was Spieler mit ihren SCs wollen, sondern nur ihr SL-Abenteuer durchgedrückt haben), aber werden da diese Mechanismen nicht überbewertet? 
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Achamanian

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Re: Einfluss von Regelmechaniken auf Spielverhalten
« Antwort #79 am: 26.11.2011 | 15:49 »
Die Atmosphären-Szenen-Definition ist interessant, ich habe mir das nie so explizit überlegt, denke aber, ich habe den Begriff immer so wie von youth dargestellt verwendet. "Atmosphärisch" können alle Szenen sein, aber "Athmosphäre-Szenen" sind für mich welche, in denen es ausschließlich um die Herstellung von Atmosphäre geht, und insofern auch eher etwas, das ich zu vermeiden suche.

Offline Naldantis

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Re: Einfluss von Regelmechaniken auf Spielverhalten
« Antwort #80 am: 27.11.2011 | 17:04 »
Eine andere - für mich überraschende Beobachtung:

Man würde jetzt denken, dass die Spieler das irgendwie auszunutzen versuchen, oder? Aber obwohl ich ihnen diese Schwäche (die sie umgekehrt genauso teilen) noch mal vorgeführt habe, indem SIE sozial angegriffen wurden, gibt es keine Verhaltensänderung.

Wenn man als Spieler (oder auch SL) einen Aspekt der Spielwelt idiotisch findet, eine Regel ableht oder sich von einer Konsequent beim der Immersion gestört fühlt, dann BESPIELT am sie nicht - ob in Deinem Bespiel die Mobbing-Anfälligkeit von Dämonen oder beiD&D der gecappte Fallschaden, die tödlichen Ratten von Midgard oder das allgegenwärtige 12Göttergefasel bei DSA.
Da nutzt auch Zuckerbrot und Peitsch nicht, dann verlassen eher die Leute wegen 'unpassender Spielweise' die Gruppe (oder werden gegangen), bevor sie durch diese Reifen springen.