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[The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
Chiarina:
1
Angst macht,
dass wir zögern,
uns ein erstes Mal
dem Schlund des Schicksals
auszuliefern.
Angst macht,
dass wir eilen,
uns ein zweites Mal
dem Schlund des Schicksals
auszuliefern.
Chiarina:
Ich gebe Essstäbchen aus und fülle einen Becher mit Limonade.
Reihum fischen wir mit den Stäbchen Honigbienen aus Glukosesirup aus einer Dose.
Wir tauchen die Honigbienen in die Limonade und stellen uns vor, wie sie langsam aufhören zu zappeln und ertrinken.
Wir essen die ertrunkenen Honigbienen und stellen uns vor, wie uns das Bienengift leicht berauscht.
Unsere Vision beginnt.
Chiarina:
In der Morgendämmerung von Dégringolade steht ein namenloser Minotaur mit dominantem Blättermagen vor der „Seide“, einem Luxusbordell im Stadtteil Rhomoon. Er durchschreitet unsicher das Eingangstor, läuft durch den Vorgarten und klopft schließlich an die Haustür. „Komm ´rein!“, fordert ihn eine Stimme auf. Der Minotaur – nennen wir ihn den ersten Advokaten – tritt zögerlich ein. Ein anderer Minotaur kommt auf ihn zu legt ihm die Hand auf die Schulter: „Unsere neue Wache! Sei gegrüßt, Bruder!“
Vor ein paar Tagen ist es dem ersten Advokaten gelungen, in der „Seide“ eine Anstellung zu finden. Er hatte in der vergangenen Saison seine Samenkörner durch eine sehr anstrengende Anstellung als Erntehelfer verdient. Nie wieder, hatte er sich geschworen. Als Bordellwache rechnet er damit, hin und wieder Stänkerer oder Kunden, die Probleme machen, hinausschmeißen zu müssen. Sicherlich wird man ihn auch für alle möglichen Handlangerdienste einsetzen. Insgesamt wird es aber wohl kaum so schlimm werden, wie auf dem Feld bei der Ernte. Die Arbeit wird möglicherweise auch abwechslungsreicher sein und bringt ihm sogar ein kleines, eigenes Zimmer. Beim Einstellungsgespräch lernte der erste Advokat zwei Personen kennen. Das Gespräch führte Ashtavede, der Bordellier. „Ein Minotaur mit Namen“, dachte der erste Advokat, musste aber neidlos anerkennen, dass es sich um ein prächtiges Exemplar seiner Gattung handelt: Ashtavede besitzt eindrucksvolle Hörner, mehrere Tätowierungen und raucht sogar im Beisein seines Chefs grüne, handgerollte, glimmende Zigarren. Dieser Chef war der andere, den der erste Advokat bei seinem Einstellungsgespräch kennenlernte: Haygaram Ooryphas, der Besitzer des Etablissements. Der Mann hielt sich im Hintergrund, sein Nicken entschied aber schließlich über die Anstellung des ersten Advokaten.
Nun wird der erste Advokat an seinem ersten Arbeitstag vom Bordellier begrüßt. Nie würde es ihm einfallen, den Minotauren als „Bruder“ zu bezeichnen. So antwortet er: „Ashtavede, ich bin erfreut, dich zu sehen!“
Ashtavede zeigt dem ersten Advokaten das Haus. Er führt ihn in den offenen Innenhof, der mit Kieswegen ausgelegt ist. Bequeme Kissenlager, seidene Paravents, ein paar Insektenfangnetze und drei kleine Teiche dominieren den angenehmen Raum. Danach lernt der erste Advokat den Empfangsbereich kennen und wirft einen Blick in die Werkstätten, Vorratsräume, den Küchenbereich und den Speisesaal. Er bekommt gezeigt, wo sich die Räume der Damen befinden, wo das Privatgebäude des Besitzers und das kleine Haus der Minotaurendiener stehen. Schließlich bekommt er ein kleines Zimmer zugewiesen, in dem er seinen Leinensack abstellt. Dann sagt Ashtavede: „Komm jetzt, Ooryphas wartet auf dich!“
Die beiden Minotauren kehren in den Innenhof zurück. In einer der Sitzgelegenheiten lümmelt sich der Eigentümer des Bordells. Er sagt zum ersten Advokaten: „In den Teichen schwimmen Nachtfische. Hole die toten heraus und wirf sie auf den Müll. Achte darauf, dass du keinen übersiehst!“ Ashtavede zieht sich etwas zurück und beobachtet vom Rand des Innenhofes die erste Arbeit seines neuen Mitarbeiters. Der erste Advokat schaut in einen der Teiche. Im zunehmenden Tageslicht ist gerade noch zu erkennen, dass die Fische schwach leuchten. „Bei Nacht ergibt das sicherlich ein eindrucksvolles Bild“, denkt der erste Advokat. Dann aber sieht er, dass ein paar der Fische nicht mehr leuchten. Der erste Advokat nimmt einen von ihnen heraus und schaut genau hin. Woran ist der Fisch gestorben? Ooryphas schaut seinem neuen Angestellten amüsiert zu und sagt: „Sie gehören eigentlich in den Fluss. Wir müssen sie regelmäßig austauschen. Jetzt fang an, an die Arbeit! Gibt Acht, dass kein toter Fisch mehr im Wasser schwimmt. Tote Fische sind widerlich. Wenn du einen übersiehst, frisst du ihn!“
Der erste Advokat müht sich redlich. Er holt sich einen der Insektenkescher, steigt sogar in die Teiche und holt alle toten Nachtfische heraus, die er fangen kann. Zwischen den leuchtenden Überlebenden sind sie allerdings ziemlich unscheinbar. Am Ende hat der erste Advokat das Gefühl, alles gegeben zu haben, ob er aber alle toten Fische erwischt hat, weiß er nicht genau.
Haygaram Ooryphas erhebt sich ächzend aus seinem Kissenlager. Er geht zu einem der Teiche, schaut kurz hinein und nimmt einen Fisch heraus. Für einen Moment scheint es dem ersten Advokaten, als habe er das Tier in seinen Händen zerquetscht. „Hier“, ruft Ooryphas, „du hast einen übersehen! Ich habe dich gewarnt! Los, runter mit ihm! Friss ihn!“ Der erste Advokat wirft Ashtavede einen erschrockenen Blick zu. Der Bordellier schaut ihn verlegen an und zuckt mit der Schulter. Da nimmt der erste Advokat den Fisch, schließt die Augen und schluckt einen Großteil des toten Fisches. Es fühlt sich an, als werde der Fisch in seinem Blättermagen zu einem schweren Stein. Ooryphas lacht und sagt: „Weiter so, Wächter. Fürs erste hältst du dich an Ashtavede!“ Noch immer gackernd verlässt Ooryphas den Innenhof.
„Warum hat er das gemacht?“, fragt der erste Advokat Ashtavede. Der antwortet: „Er ist eben so. Das sagt er sogar von sich selbst. Es macht ihm Spaß, seine Angestellten ein wenig zu schikanieren. Andere verstellen sich, ich verstelle mich nie, behauptet er von sich selbst. Vielleicht ist das wirklich ein Vorteil. Du siehst sofort, dass er ein Widerling ist. Sei aber nicht zu besorgt. Du wirst relativ selten mit ihm zu tun bekommen, denn in der Regel bin ich für dich zuständig. Geh jetzt in die Wäscherei. Da gibt es Arbeit für dich.“ Der erste Advokat nickt und geht.
Chiarina:
In der Morgendämmerung von Dégringolade steht ein namenloser Minotaur mit dominantem Labmagen im Schneckengarten seines Herrn Porfirio Empyreus und korrigiert dessen Bewässerung. Hin und wieder reibt er sich den Schlaf aus den Augen und lässt dann seinen Blick über das Anwesen schweifen. Er blickt auf den breiten Fluss und sieht am anderen Ufer das Luxusbordell „Seide“. Dann blickt er über die niedrige Mauer des Anwesens und sieht ein paar Menschen, die an dem Grundstück vorbeiziehen. Sie deuten von der Straße aus auf die Mauer und scheinen sich über irgendetwas zu unterhalten. Der Minotaur – nennen wir ihn den ersten Soldaten – fragt sich: „Was es dort zu sehen geben mag?“
Zunächst fährt er mit seiner Arbeit fort. Schnecken werden von reichen Adligen in Dégringolade gern als Rauschmittel konsumiert. Sein Herr Porfirio ist ganz verrückt nach den Tieren und auch seine Gattin Saaroni ist keine Kostverächterin. Oft haben sie Gäste, die extra zum Schneckenessen eingeladen werden. Die Jagd auf die Schnecken gehört dabei zum Ritual, das jeder Süchtige auf sich nimmt. Damit sie aber von Erfolg gekrönt ist, sind verschiedene Anstrengungen notwendig. Hier kommt der erste Soldat ins Spiel. Er hält die kleine Bewässerungsanlage, die den Schneckengarten mit dem Wasser des nahe gelegenen ewigen Flusses Vadhm versorgt, instand, bekämpft unliebsame Kakerlaken und Pilze und sorgt ganz allgemein dafür, dass genügend Tierchen zur Verfügung stehen, wenn die Hausherren das Bedürfnis nach einem neuen Rausch verspüren. Um die sieben Kinder von Porfirio und Saaroni kümmern sich in diesen Momenten nur die im Haus arbeitenden Minotauren.
Auch heute wieder bemüht sich der erste Soldat um gewissenhafte Arbeit. Hin und wieder schweift seine Konzentration aber ab, denn immer wieder erscheinen Passanten auf der Straße, die offenbar irgendetwas Bemerkenswertes auf der Mäuerchen des Grundstücks entdecken. Manche unterhalten sich darüber, andere schauen hin und tun so, als hätten sie nichts gesehen. Den ersten Soldaten packt die Neugier, er verlässt seinen Schneckengarten und wirft einen Blick auf die Mauer. Dort findet sich ein frisch angebrachtes Sgraffito. Neben einem stilisierten Minotaurenkopf stehen die Worte: „Stutzen und sanieren!“ Der erste Soldat stutzt. Stutzen und sanieren? Was soll das? Wer soll denn stutzen? Soll etwas gestutzt werden? Er hat keine Ahnung. Schließlich kehrt zu seinem Schneckengarten zurück, ist aber mit seiner Arbeit für eine Weile nicht mehr so recht bei der Sache.
Chiarina:
In der Morgendämmerung von Dégringolade steht ein namenloser Minotaur mit dominantem Labmagen im Massageraum von Porfirio Empyreus. Aus Vorräten, die er gestern besorgt hat, mischt er ein neues Vitalisierungsöl zusammen. Plötzlich kommt eine Dachwache des Hauses herein. Der Minotaur trägt einen leise jammernden fünfzehnjährigen Knaben über der Schulter und legt ihn vorsichtig auf die Liege des Massageraums. Dann ruft er dem anderen Minotauren – nennen wir ihn zweiten Soldaten – zu: „Es gibt Arbeit, schau dir Ajatashatrus´ Knöchel an.“
Ajatashatru ist der älteste Sohn des Hauses. Der zweite Soldat besorgt nicht nur bei den lokalen Apothekern, Kräuterkundigen und Gemüsehändlern Ingredienzen, aus denen er seine Öle und Duftwässerchen zusammenmischt, er massiert auch den Hausherrn und seine Frau Saaroni, und behandelt die kleineren Wunden und Verletzungen der Familienmitglieder, was ihn in einem Haus mit sieben Kindern permanent auf Trab hält.
Heute erkennt der zweite Soldat schnell, dass der Knöchel zwar verdreht ist, aber keine gravierende Gefahr damit verbunden ist. Er renkt ihn wieder ein und untersucht Porfirios ältesten Sohn sicherheitshalber noch weiter. Das Gesicht des Knaben ist bleich, als habe er in der vergangenen Nacht keinen Schlaf gefunden. Es ergibt sich ein kleines Gespräch:
„Junger Herr, habt ihr starke Schmerzen?“
„Es geht, Rind!“
„Wie ist das geschehen, wollt ihr es mir nicht erzählen?“
„Ich bin gelaufen und vom Bordstein abgerutscht.“
„Ah, ein Sportunfall also. Darf ich eurem Vater davon berichten?“
„Nein. Behalte das für dich!“
„Ganz wie ihr wünscht, junger Herr!“
Noch während dieses Gespräches entdeckt der zweite Soldat weitere Blessuren am Körper Ajatashatrus. Auf Arm und Bein sind drei deftige blaue Flecken zu erkennen, die nach Stockschlägen oder ähnlichem aussehen. Der zweite Soldat überlegt, dann sagt er:
„Wisst ihr, junger Herr, in meiner Jugend habe ich mich hin und wieder um Höchstleistungen bemüht. Manchmal habe ich dabei meine körperliche Unversehrtheit aufs Spiel gesetzt. Ich kann von Glück sagen, dass ich keine dauerhaften Schäden davongetragen habe.“
Ajatashatru schaut den zweiten Soldaten mit erwachender Neugier an. Schließlich fragt er:
„Sag´ mal, Rind, hast du dabei so ein aufregendes Gefühl verspürt? So eine Ahnung, als befändest du dich für einen Moment im Zentrum der Welt? Und hattest du Gefährten, die dich für deine Taten bewundern?“
Die Antwort erfolgt zögerlich:
„Möglich, junger Herr, das ist lange her... ist es so ein Moment gewesen, dem ihr diese Blessuren verdankt?“
Der Knabe überlegt einen Moment, nickt dann aber. Schließlich sagt er: „Mein Vater muss davon nichts wissen. Kann das unter uns bleiben?“
Der zweite Soldat nickt: „Selbstverständlich, junger Herr. Ihr solltet euch jetzt eine Weile ausruhen.“ Schnell fallen dem Knaben die Augen zu. Dann räuspert sich die Dachwache, die immer noch im Eingang des Massageraums steht und die Behandlung mit angesehen hat:
„Er hat dir nur die Hälfte erzählt. Komm mit!“ Mit der Dachwache betritt der zweite Soldat die Wachstube. Aus einem Schrank kramt die Dachwache einen fellartigen Umhang, auf den die recht geschickte Nachbildung eines Minotaurenkopfes befestigt wurde. „Ich habe ihn in diesen Umhang gehüllt aufgegriffen. Was sagst du dazu?“
Der zweite Soldat ist verunsichert, vielleicht auch etwas angewidert: „Warum zieht sich Ajatashatru so ein Ding über den Schädel?“ Die beiden Minotauren wissen es nicht. Die Dachwache sagt: „Ajatashatru sagt, ich soll es in sein Zimmer bringen. Vorher wollte ich es dir aber gezeigt haben.“ Der zweite Soldat sagt: „Danke Bruder! Das ist ja eine mysteriöse Angelegenheit...“
Grübelnd kehrt der zweite Soldat in den Massageraum zurück.
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