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Kampagnen mit "Fokus auf Characterarc" oder mit "Fokus auf Plot"

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Zed:
Ich finde dieses Thema so spannend, dass ich es von der Frage, ob "schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet" sind, abtrennen möchte.


--- Zitat von: First Orko am  4.04.2024 | 13:29 ---Kurze Antwort - ein klares: Jain!  ;D

Lange Antwort: Wie immer kommt es auf Erwartungen, Vorlieben und Spielfokus an. Grundsätzlich hast du ja mit "progressiv" eine naheliegende Antwort vorweggenommen, denn natürlich eignet sich dafür ganz explizit nur ein System, welches Progression anbietet. Zugrunde liegt für so eine Spielweise u.a. das Motiv der Heldenreise - allerdings meist reduziert auf den Aspekt der "Verbesserung" des Charakters, während eigentlich (wenn wir mal ehrlich sind) bei Dauerkampagnen kein echtes, innerliches Wachstum stattfindet in dem Sinne, das Motivation, Überzeugung, Ziele und Umfeld der Figuren sich selten relevant ändern: Man hat seine Gruppe (manchmal wird einer ersetzt) und reist durch die Abenteuer-Weltgeschichte. Innerhalb gewisser Grenzen kann sich ein Charakter zwar entwickeln, wird sich aber bspw. kaum irgendwo länger niederlassen - einfach weil er dadurch die Kernmotivation des Spielenden "Ich will beim nächsten Abenteuer dabei sein!" unterlaufen würde.

Jetzt kann man natürlich den Spielfokus mehr auf diese inneren Werte legen und ableitend von persönlichen Motivation der SC (gemeinsam) überhaupt erst Abenteuer entwickeln, die diese Art der Charakterveränderung möglich machen und sogar fördern. In so einer Spielweise verliert die Werteprogression an Bedeutung, kann in Grenzfällen sogar hinderlich sein: Wenn ich zum Beispiel recht detailliert Charakterdramen ausspiele mit viel wörtlicher Rede, findet das quasi in Echtzeit statt. Gemessen an typischen Szenarien, wo auch mal Tage in wenigen Minuten vergehen, tun SC in der Spielzeit verhältnismäßig wenig - und doch will man ja (in einem entsprechenden System) vielleicht Erfahrungspunkte? Gibt ja auch Systeme, die für jede Sitzung pauschal Punkte vergeben. Im schlimmsten Fall habe ich dann einen SC, der 2 Stufen aufgestiegen ist und ein Dutzend Fertigkeiten verbessert hat, während man ingame nur eine Hochzeit durchgespielt hat  ;D *

Zugegeben ist das ein sehr konstruierter Fall, soll aber verdeutlichen, dass Ingame-Zeit und Progression idealerweise zusammen passen sollten. Verändere ich die Spielweise also, dass ich weniger Ingame-Zeit habe, spielt Werteprogression eine immer untergeordnete Rolle bis hin zu einem sehr konkreten Spielfokus oder sogar einem definierten Spielziel. In Honeyheist geht es darum, den Honig zu klauen - in einer Sitzung. In Ten Candles geht es um das Scheitern der SC - in einer Sitzung. In Wanderhome kann man schonmal mehrere Sitzungen damit zubringen, bis alle am Ende irgendwo ein Zuhause gefunden haben. Fate und PbtA sind dagegen durchaus auf längerfristige Charakterentwicklung eingestellt, ohne dass man spürbar "besser" wird und sich ggf. sogar voneinander entfernt - vielmehr verändern sich über die Zeit und Erlebnisse die Figuren und erhalten teilweise nur mehr bzw. andere Optionen, mit Situationen umzugehen.

Darüber hinaus brauchen simplere Systeme weniger Aufmerksamkeit von Beteiligten, es müssen seltener Regeln nachgeschlagen oder diskutiert werden und man bleibt mehr im Spielgeschehen involviert. Das sind Vorteile, die einem auf "innere Progression" fokussierte Kampagnen begünstigen können. Sie stehen dem auf jeden Fall nicht mehr im Wege, als komplexere Systeme.

Am Ende ist aber die Frage, ob sie gut geeignet sind, mit der Gegenfrage zu beantworten: Welche Art von Progression ist denn gemeint?

Einige der genannten Systeme können gut oder besser geeignet sein, als große Systeme. Andere dagegen sind gar nicht geeignet. Umgekehrt verlieren große Systeme mit langfristiger Progression ihre Stärke, wenn sie für kurze, schnelle Runden, Oneshots oder Minikampagnen genutzt werden.

--- Ende Zitat ---
Danke für Deinen sorgfältig abwägenden Beitrag!

Wenn ich Dich richtig verstehe: Du stellst eine für mich bislang noch nicht in Worte gefasste, spannende Kategorie von Kampagnen auf: Charakterprogression als eher "echtes, innerliches Wachstum" oder Charakterprogression als eher schlichter Machtzuwachs. Als Verkürzung passt vielleicht "Fokus auf Characterarc" oder "Fokus auf Plot" Man lese dies auf einer "Bandbreite der Möglichkeiten", nicht als Gegensätze im Sinn "entweder oder".

Meine Gruppe und ich fokussieren uns deutlich auf den Plot, und niemand aus meiner Gruppe hat sich einen Characterarc vorgenommen. Du beschreibst uns also absolut treffend:
--- Zitat ---meist reduziert auf den Aspekt der "Verbesserung" des Charakters, während eigentlich (wenn wir mal ehrlich sind) bei Dauerkampagnen kein echtes, innerliches Wachstum stattfindet in dem Sinne, das Motivation, Überzeugung, Ziele und Umfeld der Figuren sich selten relevant ändern: Man hat seine Gruppe (manchmal wird einer ersetzt) und reist durch die Abenteuer-Weltgeschichte.
--- Ende Zitat ---

Für uns sind die Spielsessions Wiederbegegnungen mit altbekannten Figuren, auf die wir uns jedesmal freuen. Unser Gnom ist seit fast 30 die gierige, manchmal grausame Seele, und unsere Elbin ist seitdem das moralische Leuchtfeuer der Gruppe. Uns macht es große Freude, dass diese Rollen immer wieder aufgegriffen werden - allerdings spielen wir auch nur etwa vier Mal im Jahr, da nervt uns diese Wiederbegegnung auch nicht. Natürlich gibt es auch bei uns große Charaktermomente und hier und da eine ganz langsame Charakterentwicklung, aber die passieren eher als dass sie geplant werden.

Als Fernsehserie sind wir eher Star Trek TNG, würde ich sagen.

In Critical Role sehe ich das von Dir beschriebene andere Konzept: Figuren müssen lernen, ihr Schicksal anzunehmen, oder auch, ihr Schicksal zu überwinden. Verletzungen vernarben über die gespielte Zeit hinweg, und Seelen werden gerettet oder gehen verloren. Das halte ich auch für ein spannendes Konzept.

Als Fernsehserie wäre das wohl eher Game of Thrones, würde ich sagen.

Das zweite Konzept könnte ich, glaube ich, auch spielen/spielleitern, aber es bräuchte dafür sehr viel Vertrauen untereinander und/oder auch Selbstvertrauen in die eigene Schauspielkunst, zu der ja gehört, "leicht" in eine Rolle zu schlüpfen und auch wieder herauszugehen. Ich meine, dass dieser Ansatz viel Intimität miteinander erfordert (und die ist mir manches Mal auch bei Critical Role schon zuviel) - und für mich vielleicht dann doch zuviel Intimität.

Ich denke nicht, dass viele Gruppen es (verletzungsfrei) schaffen, ihren Fokus auf Charakterarcs zu halten. Vielleicht eher bei Few-Shots, aber über 30 Jahre hinweg???

Arldwulf:
Ehrlich gesagt sehe ich Plot und Characterarc gar nicht als Gegensätze, sondern eher als sich ergänzende Ausprägungen der gleichen Herangehensweise "es entwickelt sich" welcher man eher statische Geschichten/Settings etc. gegenüberstellen kann.

Welcher Aspekt sich gerade entwickelt, sei es nun die Spielwelt, die Pläne der Bösen, die Charaktere oder etwas ganz anderes ist dabei von Situation zu Situation verschieden und nicht gegenseitig ausschließend.

Zed:
"Fokus auf X" und "Fokus auf Y" soll eigentlich verdeutlichen, dass es sich eher um die Beschreibung einer Bandbreite handelt. Insofern ist mein genutzter Begriff "Kategorie" irreführend: Die beiden Möglichkeiten sollen sich  n i c h t  ausschließen, ich werde meinen Text editieren.

Philipp.Baas:
In der epischsten und längsten Kampagne, die ich bisher gespielt habe, war auch beides vorhanden:

- Der Schwertgeselle, der als einziger von Anfang bis Ende dabei war, hat sich vom durchschnittlichen Haudrauf zum größten Kämpfer in der Welt entwickelt. Das war sein Ziel gewesen, aber die ständigen Herausforderungen durch Möchtegerns, die vielen Verletzungen und ein Wutanfall, in dessen Raserei er einen sehr schwachen Möchtegern tötete, haben aus ihm einen gebrochenen Mann gemacht, der nur seine finale Quest erfüllen wollte, um sich dann zur Ruhe zu setzen.

- Die Skaldin hatte sich in einen anderen Charakter verliebt, der aber starb. Aus der lebenslustigen Skaldin, die sich für keinen Spaß zu schade war, wurde eine von Rachedurst zerfressene Seele.

- Der misstrauische Elementarist, der immer nur auf den eigenen Vorteil bedacht war und jeden übervorteilte, erlebte in der Gruppe Freundschaft und opferte sich am Ende. Er wurde so mächtig, dass er einen Lehrstuhls an einer Magierakademie angeboten bekam, aber er zog lieber weiter auf Abenteuer

Die drei sind nur die Highlights. Bei uns wurden alle Charaktere unheimlich mächtig und durchliefen charakterliche Veränderungen. Allerdings war das auch die längste und regelmäßigste Kampagne, die ich je spielte. Also war das keinesfalls Maßstab, aber es zeigte sich bei uns dieser "Spider-Man-Effekt": "Aus großer Macht..."

Zed:
Das klingt nach einer Kampagne nach meinem Geschmack.  :d Wie lang in etwa lief sie und mit welchem System?

Würden wir häufiger spielen, dann würde sich auf der Characterarc-Ebene auch mehr tun, denke ich.

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