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Musik aus dem Mittelalter hören
korknadel:
--- Zitat von: Turgon am 23.11.2025 | 11:13 ---@korknadel: Kennst du Marc Lewon? Das wäre mittelalterliche Musik auf dem allerneuesten Stand der Forschung.
--- Ende Zitat ---
Wie bist Du denn auf den aufmerksam geworden? Warst Du mal in einem Konzert?
--- Zitat von: KWÜTEG GRÄÜWÖLF am 24.11.2025 | 10:35 ---Ich weiß nicht, ob es hier jetzt reinpasst, aber bei dieser Gelegenheit möchte ich mal hierauf aufmerksam machen:
https://www.swr.de/kultur/musik/musik-steinzeit-knochenfloete-klangstein-hoehlenakustik-musikarchaeologie-100.html
--- Ende Zitat ---
Ja, derlei ist spannend! Und sie haben das Projekt ja auch sinnigerweise "Klänge" der Steinzeit genannt und nicht "Musik". Man hat die Instrumente, kann die Klänge erzeugen, hat aber keine Ahnung, was für Musik damit gemacht wurde. Solche Rekonstruktionen gibt es auch für antike griechische und römische Klänge, und hier tatsächlich auch Musik. Zwar hat man keine notierte Musik aus der Antike, aber Beschreibungen und musikphilosophische, bzw -physikalische Abhandlungen, vor allem Pythagoras mit seinen Intervallverhältnissen, die ja für die Musik des Mittelalters so maßgeblich wurden. Anhand solcher Quellen versucht gibt es Versuche, zu rekonstruieren, wie Musik damals funktioniert haben könnte.
@Dudelsäcke: Ich mag diese schnarrenden Blasinstrumente auch! Was die Schalmei klanglich vor allem vom -- europäischen -- Dudelsack und seinen Verwandten unterscheidet ist aber nicht so sehr der Sack an sich, sondern eben die Bordunpfeifen. Mit der Schalmei kann man nur eine Melodie spielen, beim Dudelsack trötet immer eine Pfeife mit, die nur einen Ton hat (es können auch mehrere solcher Töne sein, wenn das Instrument enstprechend mehrere Pfeifen hat). Solche Borduntöne waren im Mittelalter sehr beliebt. Aber sie machen Musik und Klangbild tatsächlich auch etwas monoton. Auf so einem Dudelsack kann man nicht in andere Tonarten modulieren, das gibt der Bordunton nicht her. Außerdem hat die Melodiepfeife einen kleinen Umfang von einer Oktave, da ist nicht viel Varianz drin, und zudem sind einfache Instrumente, wie man sie sich fürs Mittelalter vorstellen muss, sehr anfällig für Druckschwankungen, was auch bedeutet, dass man dynamisch überhaupt keinen Spielraum hat. (Alte Orgeln hatten auch dieses Problem, wenn Register gezogen oder weggedrückt wurden.) Und so entsteht da eben ein Klangbild, das -- zumal auf Dauer -- etwas anstrengend werden kann für uns, die wir so viel Abwechslung gewohnt sind.
Ich habe nun tatsächlich einige sehr gelungene Aufnahmen gehört.
*Dafür, dass Léonin zu einem der Begründer der mittelalterlichen Mehrstimmigkeit gehört, sind seine zweistimmigen Kompositionen schon sehr überzeugend. Tolle, herrlich spröde, abstrakte Musik. In dieser Aufnahme auch wirklich gut anzuhören.
*Dachte ich doch, dass eine Aufnahme von Estampie in meinem SC-Regal steht! Und ja, das ist klanglich, sängerisch alles einwandfrei.
*Das New London Consort, dessen Einspielung der Carmina Burana ja so gelungen ist, interpretiert auch sehr gelungen die Lieder aus dem Llibre Vermell de Montserrat. Da die Pilger, die im Kloster Montserrat abgestiegen sind, oft Liebeslieder, unschickliche Tänze und dergleichen in der Kirche zu Gehör gebracht haben, hat das Kloster eine Sammlung von (Marien-)Liedern zusammengestellt, um das Bedürfnis der Pilger nach Gesang auf sittlichere Art zu befriedigen. Diese Lieder sind sehr wahrscheinlich im Ursprung volksliedhaft. Und das hört man bei vielen Stücken auch, da ist manches tänzerisch, und es sind insgesamt recht eingängige Melodien.
*Sarband hat von denselben Liedern eine Aufnahme gemacht, die ein bisschen weniger auf authentische Rekonstruktion abzielt, sondern das ein wenig aufbereitet. Manchmal singt der Chor in sich leicht versetzt eine sich immer wiederholende Phrase bei starkem Hall, sodass ein Wabern entsteht, in das dann eine einzelne Sopranstimme mit teils arabesken Melismen hineinjubiliert. Das soll sicher das Singen der Pilger in der Kirche verklanglichen. Aber es ist viel zu raffiniert inszeniert, als dass das damals tatsächlich so geklungen haben könnte. Derlei zieht sich durch die ganze Platte. Aber dennoch kann ich diese Aufnahme sehr empfehlen, das ist schmissig, hymnisch, mitreißend, immer gerade noch so in vertretbarem Rahmen und doch unseren Hörgewohnheiten entgegenkommend.
Unbegreiflicherweise habe ich die Einspielung des Llibre Vermell von Jordi Savall nicht. Allerdings hat er einzelne Lieder daraus immer wieder in seinen diversen Sammelprogrammen eingestreut, sodass ich sie einigermaßen im Ohr habe. Da hat man es natürlich immer mit ausgezeichnet hörbaren Interpretationen zu tun!
KWÜTEG GRÄÜWÖLF:
Dieser Thread wird mich durch massenhafte Anregungen zum Tonträgererwerb noch ruinieren.... ^-^
Dr. Evil:
--- Zitat von: KWÜTEG GRÄÜWÖLF am 25.11.2025 | 10:29 ---Dieser Thread wird mich durch massenhafte Anregungen zum Tonträgererwerb noch ruinieren.... ^-^
--- Ende Zitat ---
Du hast mein Mitgefühl. Ich bereue den Moment, als ich auf den Button fürs Abo gedrückt habe. Das wird auf Dauer ein neugieriger und teurer Spass...!
Besten Dank an dieser Stelle für die schönen Beiträge.
Issi:
- Zu pseudo mittelalter Bands: Kann damit auch wenig anfangen.
Das ist (für mich)fast so schlimm als würde man sich permanent irgendwelche pseudo mittelalterlichen KI Klang Gemische reinziehen.
Es gibt natürlich auch ne Menge vermeintlich „authentische“ Musik die mit ihrem „Getröte“ zum Stimmungskiller taugt.
Fürs Rollenspiel muss es für meinen Geschmack nicht authentisch sein.
Aber es sollte sich schon wenigstens halbwegs gut anhören.
Die Renaissance bietet da mMn. fast mehr.
Oder der ein oder andere Soundtrack.
Würde deshalb eher hier und da einzelne Stücke rauspicken. - die dann tatsächlich auch (dezent, und punktuell eingesetzt) fürs Rollenspiel taugen.
Für die, die es möglichst authentisch mögen, fällt mir zumindest die : „Capella Antiqua Bambergensis“ ein. (Die forschen da wohl dran und bauen die Instrumente dazu)
Nutze selbst jetzt eher andere Quellen, und bin kein Experte aber vielleicht hilft es dem ein oder anderen weiter.
korknadel:
Ha, die jüngsten Griffe ins CD-Regal waren fast allesamt schöne Überraschungen. (Vielleicht habe ich mich aber auch nur etwas mehr eingehört?)
*Die Doppel-CD mit Musik rund um die Pilgerreise nach Santiago ist auf einem Niveau mit der Aufnahme des Llibre Vermell de Montserrat des New London Consorts, fast noch etwas interessanter. Da ist sehr viel melodiös Schönes dabei, und auch wieder die schmissig-hymnischen Lieder mit Solo- und Chorgesang im Wechsel. Hier wird besonders deutlich, wie viele unzählige Strophen diese mittelalterlichen Lieder manchmal haben. Mir tun Chor und Instrumentalisten, die nach den Strophen dann immer den Kehrvers singen müssen, leid, spätestens nach der zehnten Wiederholung muss das anstrengend sein, und dann soll man das jedes Mal noch mit voller Überzeugung spielen/singen.
*Die zweite CD mit Musik von Léonin von den Anfängen mittelalterlicher Mehrstimmigkeit ist genauso gut wie die erste. Sonderbar, fragile, halb durchsichtige Klangkonstrukte. Tatsächlich irgendwie Musik gewordene Gotik.
*Die Wolkenstein-Platte ist großartig! Richtig gute Sängerinnen und Sänger, die da mit Spaß, Witz und opernhafter Ausdrucksstärke rangehen.
*Ich hatte in meinem ersten Post ja schon lobend das Ensemble Organum erwähnt. Das Passionsmysterienspiel, das in den Carmina Burana enthalten ist, hat dieses Ensemble in den späten 80ern aufgenommen. Und auch dies eine fantastische Aufnahme. Immer wieder erstaunlich, wie diese Musiker es schaffen, so viel Dramatik in diese mitunter so körperlos wirkende, fremde Musik zu packen. Klanglich gefällt mir das Ensemble auch sehr.
*Die CD von La Reverdie ist in den ersten Tracks ein gutes Beispiel für die Schwierigkeit, mittelalterliche Musik zu hören. Das Ensemble ist toll, die Einspielung ist gut, und doch wird man von dieser Musk nicht mitgenommen. Man muss schon sehr konzentriert zuhören und sich auf diese eigenartigen Harmoniken einlassen, die sich so oft in völlig unerwartete Richtungen bewegen, gepaart mit seltsamen Rhythmen, und sich nicht kadenzartig, wie wir es gewöhnt sind, auflösen, sondern scheinbar unvermittelt in Akkorden enden, die wegen des Fehlens der Terz dann seltsam hohl, leer, androgyn klingen. Diese Musik stammt aus dem Umfeld der Ars Nova (grob 14. Jahrhundert), dem Höhepunkt mittelalterlicher Kompositionskunst, intellektuell, formell hoch anspruchsvolle Konstrukte, aber für heutige Hörende -- und Musizierende -- eine Herausforderung. Die späteren Tracks werden dann wieder etwas eingehender, denn mit ihnen bewegen wir uns schon in die Frührenaissance, und man begrüßt die Terz fast wie den Messias.
Diese Ars Nova-Musik hat, wie ich finde, eine ähnliche Wirkung wie so manches aus der klassichen modernen oder zeitgenössischen Musik. So etwas leicht Verstörendes, Uneingängiges, was den Reiz des Aushaltens auslöst und dann auch sehr befriedigend sein kann. Nur mit dem großen Unterschied, dass moderne/zeitgenössische Musik solche Effekte fast immer durch Dissonanz erzeugt. (Deswegen auch das "Aushalten".) Die Ars Nova dagegen duldet Dissonanzen ja allenfalls als Durchgangsintervalle, betont diese also nicht und zielt immer wieder auf möglichst rein klingende Intervalle -- Quinte und auch mal Quarte -- ab. Man muss hier also eher diese hohlen, leeren, reinen Akkorde aushalten, die immer wieder aus dem komplizierten Tonsatz heraustreten, es ist als würde man andauernd in eine Sternenleere zwischen den Welten katapultiert, und das macht auf mich oft den Eindruck von Alienmusik. Ich muss mich einfach noch mehr in die Ars Nova einhören.
Hier der erste Track der CD:
https://www.youtube.com/watch?v=coVYyLsE4Jk&list=RDcoVYyLsE4Jk&start_radio=1
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