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[Rant] Schlechte Regelwerke

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Weltengeist:
So, jetzt ist es also endlich soweit - ich habe die Schnauze voll.

Im Sommer 2012 habe ich wutentbrannt DSA4 in die Ecke geschmissen, weil ich diese furchtbaren Regeln nicht mehr ertragen habe, die irgendwie immer den Eindruck erweckten, die Kompromisslösung einer Kommission der deutschen Ministerialbürokratie zu sein: Umständlich, unverständlich, aufgeblasen, voller Verbote und vor allem: völlig unpraktikabel.

Ich machte mich also auf die Suche nach einem Regelwerk, das meinen Vorstellungen entspricht. Und was habe ich gesucht! Geschätzte 50 Regelwerke habe ich seither in der Hand gehabt und zumindest angelesen, mindestens 20 davon habe ich probegespielt. Aber immer wieder bin ich nach ziemlich kurzer Zeit an dem Punkt, an dem ich mich frage, ob es eigentlich eine Voraussetzung fürs Regelschreiben ist, dass man (1) keine Ahnung von Wahrscheinlichkeiten hat, (2) keine Ahnung, welche Ziele dieses Regelwerk eigentlich verfolgen soll, (3) keine Ahnung, was der Unterschied zwischen "läuft irgendwie" und "erreicht seine Ziele auf elegante Weise" ist und (4) keine Ahnung, wie man die eigenen Gedanken strukturiert zu Papier bringt.

Vielleicht bricht hier mein innerer Informatiker durch, aber was ich da für gewöhnlich in Händen halte, erinnert mich an nichts so sehr wie an die Ergebnisse eines Erstsemesterkurses im Programmieren. Da wird die Aufgabenstellung nur so halb gelesen, dann wird so lange rumgedoktert, bis irgendwas irgendwie läuft. Notwendige aber anfangs vergessene Features werden einfach irgendwie drangeklatscht, eigene Heartbreaker-Features werden auch irgendwie drangeklatscht ("because I can!"). Auf Tests kann man ohnehin verzichten (es lief für meine zwei Probeeingaben, jetzt aber ab in die Mensa!), und vernünftige Kommentierung und Dokumentation ist ohnehin was für Weicheier.

Hauptsache wir haben (hey, Geek Economy!) coole Bilder und ein abstruses Layout, das sonst noch keiner hatte. Und später machen wir dann Kohle mit coolen Follow-Up-Publikationen, die den letzten Rest an Spielbalance auch noch in den Orcus schießen.

Ich könnte jetzt Seiten um Seiten mit Beispielen füllen. Solche Sachen wie dass Runequest / BRP / Mythras es in all seinen Generationen nicht geschafft hat, sich davon zu lösen, dass bestimmte Attribute einen andere Wertebereich haben als andere. Dass ich immer wieder über Systeme stolpere, bei denen in der Erschaffung Baukasten mit Auswürfeln gemischt wird. Dass man im Probenmechanismus SOWOHL verschiedene Zielwerte ALS AUCH Zuschläge/Abzüge ALS AUCH Vor- und Nachteilswürfel verwendet. Dass zentrale Mechanismen wie Initiative oder das Sterben von Charakteren nicht sauber verregelt sind, sondern dem Spielleiter zum Händewedeln überlassen werden. Dass Kämpfe mit 3 gegen 3 auf Stufe 1 noch wunderbar funktionieren, aber das System komplett kollabiert, wenn man auf Stufe 10 ist und/oder zehn Orks gegenübersteht. Dass auf höheren Stufen alle dermaßen viele Health Points haben (ohne kompensierenden höheren Schaden), dass Kämpfe auf stundenlanges, DSA1-mäßiges Runterwürfeln rauslaufen. Dass man seltsame Wahrscheinlichkeitsverteilungen kriegt, bei denen auch die richtig guten Leute völlig selbstverständliche Sachen bei jedem zehnten Wurf verkacken. Oder dass die seltsamen Wahrscheinlichkeitsverteilungen dann durch aufwändige Nachbearbeitung (Tabellen-Lookups, Gummipunkte,...) wieder korrigiert werden müssen.

Oder dass mir (einer meiner All-Time-Favorites) immer wieder Fähigkeiten als Talente / Feats / Meisterschaften / whatever verkauft werden, die im wirklichen Leben jeder kann, der die zugehörige Fertigkeit besitzt. Sowas wie "du kannst zwar kämpfen, aber du brauchst eine Sonderfertigkeit, jemanden zurückzudrängen, zu entwaffnen, zwischen die Beine zu treten oder schlicht: um dich zu verteidigen oder nach einem Sturz wieder aufzustehen". Was für ein Bullshit! Das kann JEDER, der wirklich kämpfen gelernt hat! So etwas ist doch keine Sonderfertigkeit - es ist eine Selbstverständlichkeit, die man allen weggenommen hat und jetzt einigen wenigen für teure XP zurückgibt!

Und von solch tollen, immer wiederkehrenden Disbalancen wie "ab Stufe 7 hat ohnehin keiner mehr eine Chance gegen den Martial Artist bzw. den Magier" will ich mal gar nicht anfangen.

Manchmal scheinen auch wirklich solch obskure Designkriterien wie "wir wollen möglichst viele bunte Würfel", "wir wollen unbedingt mal alles ganz anders machen, egal wie und warum" oder "wir wollen unbedingt viel Geld mit Companion-Bänden machen" das Design zu beeinflussen. Urks.

Ich versuche ja, sachlich zu sein und zu sagen: Manche meiner Unzufriedenheiten resultieren natürlich auch daraus, dass ich ganz bestimmte Vorstellungen habe, wie ich spielen will, und dass erschreckend wenige Systeme dazu passen. Aber ganz viele meiner Unzufriedenheiten resultieren mMn schlicht daraus, dass das Regeldesign bei der überwältigenden Mehrzahl der Systeme, die ich kenne, Murks ist. Objektiver Murks im Sinne von "Regeldesign weiß nicht was es will oder wie es das elegant hinkriegen soll". Und zwar auch bei Systemen, die schon in die dritte, vierte, fünfte... Auflage gehen.

Ich glaube, ich bin jetzt endlich soweit: bevor ich noch mehr Geld und Zeit in die nächste Frustration stecke, schreibe ich es vielleicht wirklich endlich selbst. Mal sehen, was meine Tischgruppe dazu sagt. Aber nerviger, zeit- und geldaufwändiger kann es eigentlich langsam nicht mehr werden.

Der Nârr:
Jo, so sieht's aus, aber die Hype-Maschine des nächsten Regelwerks rollt schon an. Und das wird genauso fehlerbehaftet und problematisch sein.

Darum bevorzuge ich schlanke Systeme. Wenn die Regeln eh kacke sind, will ich wenigstens nicht viel damit zu tun haben. Und solche, die vielleicht nicht innovativ sind, aber dafür handwerklich gut gemacht. Also über eine gute, klare Regelsprache verfügen usw.

Und ja, die eigenen Ansprüche die man an das Regelwerk stellt haben natürlich damit etwas zu tun.

Tausch dich mal mit Falcon aus, der kann ja von all dem ein Liedchen singen und hat ja auch sein eigenes Regelwerk u.a. aus diesen Gründen geschrieben. Auch wenn die Lösung letzten Endes für ihn OSR zu sein scheint, was ich wiederum absolut absurd finde ~;D.

Maarzan:
Dem Grundtenor kann ich nur begeistert zustimmen - einigen Details nicht.

a) DSA4 krankt unter Schizophrenie, wo sich Leute mit scheinbar exakt gegensätzlichen Interessem beim Design gegenseitig zu torpedieren scheinen.

b) wenn die Designer vonRollenspielen gezwungen wären ihre Regeln auch mal zu programmieren und damit auf den Schnellhackzustand von solchen Programmierarbeiten kämen, sähe es denke ich bereits viel besser aus ...  8)

c) Bunte Bilder udn Desigbn als Primärfokus - ja, diesen Schmerz kann ich teilen.

d) Die Attrinbute sind ja aus gutem Grund unterschiedlich, weil die Attribute in Relation zu ihren Vergleichspartnern aus dem setting anders streuen.

e) bezgl. Handwedeln und Auslassungen  - d`accord. Genauso für seltsame Wahrscheinlichkeiten oder Feats "fürs Atmen" oder Hauptsache "neu und anders".

f) du willst an meine Würfel ...  d:)  my precious

g) letztlich bleibt nur: selber Schreiben. (seit 1985 dran, allerdings hat es mit einer Vorabedition schon einige Dutzend Runden gegeben, bevor es dann zur grundlegenden Restrukurierung kam - also nicht ganz ein Berliner Flughafen  ~;D )

Aedin Madasohn:
(1) keine Ahnung von Wahrscheinlichkeiten hat,

wer hat das schon? Treffer- und (Ausweich/Schild/Waffen)Parade im echten Blankwaffenkampf? Trefferwahrscheinlichkeiten von Massenware Pfeilen und Naturholzbogen im laufenden Waldlichtungsgefecht?

selbst bei "Klettere den Baum hoch" wirds doch schon vage.

(2) keine Ahnung, welche Ziele dieses Regelwerk eigentlich verfolgen soll,

 :d was soll DAS Spiel bringen?
Superhelden gegen Minions im Schnetzelmodus?
D!hard Arenamodus mit hohem Charverschleiß?
Tagesrationenabzählspiel?  >;D

 (3) keine Ahnung, was der Unterschied zwischen "läuft irgendwie" und "erreicht seine Ziele auf elegante Weise" ist und

es bedient aber charakterlich angekrängte Besserspieler und Finstermeister, wenn sie mit erhobenen Oberlehererzeigefinger von "so wird aber der Malus gerechnet!" die tumben "wir wollen doch nur Spaß beim Spielen haben"-Massen mal so richtig belehren können.
Würde die Engine "laufen", dann kann ja niemand sich als Obermaschinist aufplustern noch Sand ins Getriebe streuen.

Je abstruser und unrunder die Regeln, desto mehr können "Durchsetzer" den letzten Blödsinn ihren Runden vor den Latz knallen und sich daran erfreuen, das die konsenswilligen Weicheier sich so herumschubsen lassen.
Mit klarer Regel Engine ginge das so nicht

(4) keine Ahnung, wie man die eigenen Gedanken strukturiert zu Papier bringt

von rund 45 Millionen Arbeitnehmern in diesem Land schaffen das genau wieviele 100.000?
Und genau einer dieser 1%enter schreibt jetzt in Vollzeit Spieleregelwerke (für lau), statt als Projektleiter für 85 k Jahresgehalt eine Industriehalle(nerweiterung samt Maschine) zum Laufen zu kriegen? Oder kassiert 43 Euro die Schulstunde als Dozent*in in der beruflichen Weiterqualifikation (da muss dann aber auch "geliefert" werden)

kurzum, wieviele Regelwerke beruhen auf
- studentischen Schnaps- und Kiffideen?
- kommen ganz tief unten aus dem lichtlosen Nerdkeller ans Tageslicht gequollen? ist doch klar, dass die unter Praios kritischen Sonnenblicke zu qualmen anfangen  ~;D
- werden von spielbegeisterten Studenten voller Elan angekündigt und angesichts von Zweitjobs, Klausurstress und Partyleben dann nur "notfertiggestellt"?

Achamanian:
Ich habe vollstes Verständnis für deinen Ärger, wobei ich zugeben muss, dass ich die Probleme weniger durchdenke und mehr aus dem Bauch heraus finde, dass das nicht das richtige ist ...
Da ich weiß, dass du ganz ähnliche Systeme aus ganz ähnlichen Gründen wie ich wieder liegengelassen hast, hab ich auf jeden Fall nichts dagegen, wenn du einen eigenen Versuch unternimmst - von der Zielrichtung her sollte das zumindest etwas sein, das mich dann auch interessiert!

Ein bisschen wundere ich mich aber auch, dass du mit einem der modernen BRPs nicht glücklich wirst ... besonders bei Mythras hast du sicher schon sehr viel von dem, was du willst (einheitliches Probensystem, kein Featism, und dass die Attribute auf einer anderen Skala sind, ist ja eher ein ästhetisches Problem, da man deren Verwendung ja aus dem eigentlichen Regelablauf komplett entfernt hat). Aber da hast du dich ja eingehend mit befasst und wirst wissen, warum es nicht ganzu passt.

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