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[AD&D 2.5E] Von Feuer und Düsternis – Erzählungen aus Euborea
Jenseher:
Sie starrten alle gebannt in Richtung des Altars. Für einen kurzen Moment schien alles still zu stehen. Der Ritter Rasmus war in überbordender Trunkenheit auf das Relikt einer alten, längst vergangenen Zeit zugestürmt. Doch es waren nicht die Altäre der Verrücktheit, die sie vor sich sahen. Die Verrücktheit war in ihnen; in jedem einzelnen. Veränderung der Wahrnehmung, Stimmen und Geräusche; kalte und warme Schauer, die ihnen über den Rücken liefen. Ihr Geist war zermartert, doch sie spürten eine innere Vertrautheit, eine Sehnsucht und ein Gefühl von Sicherheit, als sie den weißen Marmor mit den Fresken von Fratzen vor sich sahen. Das silberne Licht Rasmus‘ schimmernder Rüstung fiel in die Leere der großen Halle und wurde doch reflektiert von einem karmesinroten Himmel glitzernder Sterne. Aus der halb geöffneten Türe war die Silhouette der gepanzerten Gestalt zu sehen, die aus einem Meer von weißem Nebel aufragte. Rasmus schwang die gewaltige Waffe mit dem stumpfen Ende voran. Die silbern schimmerte Kugel krachte auf den weißen Marmor, der hier und dort von den Spuren längst vertrockneter Rinnsale dunkel befleckt war. Das Knirschen und Bersten von Metall und Stein war ohrenbetäubend. Neire, der sich bis jetzt hinter dem geöffneten Türflügel versteckt hielt, torkelte zurück und ließ die schwarze Türe los. Sie sahen, wie sich aus dem inneren Sanktum eine Woge von bräunlich-grünlicher Substanz in alle Richtung ausbreitete. Wie ein volatiles Gas strömte es auf sie zu, hatte Rasmus bereits voll erfasst. Die Woge drang in den steinernen Gang und fuhr über sie hinweg wie schäumende Brandung. Dann verlosch der letzte Strahl des silbernen Lichtes. Der schwarze Türflügel war zurückgefallen und Dunkelheit breitete sich aus.
Schreie und Stöhnen waren von Loec und Rowa zu hören. Beide lagen noch dort, wo der elfische Söldner Halbohr sie hin geschleift hatte. Beide hatten sich vor Furcht in eine embryonale Stellung zusammengerollt. Als sich die Augen von Gundaruk, Halbohr und Neire an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sahen sie, dass Rowa und Loec die Gesichter verzerrten. Sie begannen sich zudem an ihrer Haut zu kratzen, als wollten sie sich diese vom Schädel reißen. Und tatsächlich waren Bewegungen unter ihrer Gesichtshaut zu erkennen. Als ob eine zweite, fremde Mimik die Kontrolle übernommen hätte und scheinbar zufällige Stellen hier und dort wölbte. Loec hatte sich bereits zwei der Brandwunden aufgerissen. Frisches Blut lief zwischen seinem bis auf Stoppeln verbranntem Haar hinab. Gundaruk, Halbohr und Neire hatten die Woge der Substanz des Altares besser überstanden. Dennoch war eine Mischung aus Angst und Verrücktheit besonders bei Neire und Halbohr zu sehen. Der junge Priester der obskuren Feuergöttin starrte immer wieder auf seine linke Hand, murmelte kaum verständliche zischelnde Laute und deutete dann auf die schwarze doppelflügelige Türe. Derweil blickte sich Halbohr panisch um. Schweiß hatte sich auf Gesicht und Hals des elfischen Söldners gebildet. Nur Gundaruk bewahrte eine innere Ruhe, als er sich zu ihren beiden Mitstreitern hinabbeugte. Er zog sich die schwere Fellmütze des Luchskopfes aus dem Gesicht; seine grünlichen Augen funkelten in der Dunkelheit, als er Loec und Rowa begutachtete. Er tastete nach der steingrauen Haut von Rowas Gesicht, seine große Hand begann ihren Kopf vorsichtig zu drehen. Tatsächlich spürte Gundaruk Bewegungen, die nicht von Muskeln stammen konnten. Als ob etwas unter die Haut der Dunkelelfin gefahren war, etwas das jetzt hinaus wollte. „Neire haltet die Türe auf!“ Gundaruk wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen. Er hatte über die alten Legenden nachgedacht. Über die alten Runensteine, die ihre Geschichten trugen. Geschichten von den Geistern der Unterreiche, die im Venn hinaufstiegen und sich den Körpern der Lebenden bemächtigten. Er erinnerte sich an alte Weisheiten seines Volkes, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Und Gundaruk wusste um den Zustand der Besessenheit, der Besitzergreifung durch das Fremde, aus der großen Tiefe darunter. Er blickte sich um und sah, dass Halbohr bereits die Türe geöffnet hatte und einen seiner Dolche unter dem Flügel verkeilte. „Geht nicht… nicht dort hinein. Es ist das Heiligtum der niederen Blutgöttin, vielleicht seit Jahrhunderten verlassen. Doch von dem Altar droht Gefahr.“ Als Neire seine Worte beendet hatte, sah Gundaruk, dass der Jüngling am ganzen Körper zitterte. Mehrfach griff Neire zu seinem mit Schlangen verzierten Degen, blickte jetzt sogar in seine Richtung. Seine Augen funkelten dabei bläulich in dem silbernen Licht, das wieder durch den geöffneten Türflügel strömte. Als Gundaruk sich erneut Rowa zuwandte, sah er, dass Halbohr bereits begann sich auf den Altar zuzubewegen.
Der elfische Söldner trug zwei Dolche in den Händen, von denen einer aus purem Silber gearbeitet war. Er watete durch den Nebel und lauschte nach Geräuschen, die er in der Halle vernehmen konnte. Hier war wieder ein Schreien zu hören, dort ein Rasseln von Ketten; doch keine Spur von Rasmus. Der Altar, dem er jetzt näherkam, ragte noch immer unbeschädigt aus dem weißlichen Nebel. Halbohr hielt den Atem an und setzte Schritt für Schritt in Richtung des unheiligen Marmors. Plötzlich war es, als ob der Nebel nach ihm greifen wollte; Hände bildeten sich und verflossen wieder. Er hörte ein Strömen und Plätschern. Er bemerkte zu seinem Grauen, dass eine Fontäne aus Blut aus dem Altar hervorschoss. Halbohr begann zu zittern und wollte in den sicheren Tunnel laufen. Doch sah er einen gepanzerten Handschuh auftauchen, der sich auf dem Altar stütze. Rasmus hatte sich den Helm ausgezogen. Trotz der üblen Brandwunden, die ihn entstellten, blickte er Halbohr mit einer tiefen, trunkenen Zuversicht an. Als der Ritter sich langsam erhob, begann das Trugbild des Blutstroms für Halbohr zu schwinden. Doch nicht enden wollte die Tortur von Wahnvorstellungen. Jetzt hörte Halbohr ein Mahlen von Stein. Er dreht sich langsam in die Richtung und sah, dass sich zu seiner linken Seite ein Teil der Wand begann zu bewegen. Es eröffnete sich eine Türe. Dort, wo vorher keine gewesen war. Oder war es doch die Realität? Auch Rasmus schien die Änderung erkannt zu haben und begab sich mit seiner Hellebarde in eine Angriffshaltung. Das Grauen, das Halbohr verspürte nahm nochmals zu, denn er sah am Rande des silbernen Lichts schattenhafte Kreaturen aus der Öffnung strömen. Augenblicklich begann er sich in die Dunkelheit zu kauern. Er tauchte ein in den weißlichen Nebel und drückte sich an den Altar.
„Irgendetwas stimmt hier nicht… Gundaruk! Seid auf der Hut.“ Die Stimme von Neire war in eine Art zischelnden Singsang verfallen. Tief und fremd war sein Akzent, als er sprach. Neire hatte in Richtung von Halbohr geblickt und ihn aus dem Tunnel heraus beobachtet. Er hatte gesehen, dass der elfische Söldner zum Altar vorgedrungen war und sich plötzlich in den Nebel gekauert hatte. Auch hatte er die Angriffshaltung bemerkt, in die der Paladin sich jetzt begab. Dann waren die Schreie von Loec und Rowa angeschwollen zu einem Höhepunkt. Neire spürte, dass irgendetwas passierte; irgendetwas, dass Rasmus mit seinem Angriff auf den Altar ausgelöst hatte. Er musste jetzt bereit sein, musste die Kräfte von Feuer und Schatten beschwören. Er dachte an die Runen, die er im inneren Auge gesehen hatte, er dachte zurück an Nebelheim: Bei Nirgauz werde ich das lodernde Feuer reiten, bei Firhu gib mir die Gabe der Schatten, bei Zir’an’vaar, ich bin und werde es immer sein. Ein Kind der Flamme.
Gundaruk erhob sich und ließ von Rowa ab. Die Schreie der beiden waren ohrenbetäubend und klangen nach vollkommener Verrücktheit. Er hatte die Worte von Neire kaum gehört und spät reagiert. Als er den Speer erhob und sich schützend vor Neire postierte, merkte er, dass der Jüngling sich verändert hatte. Gundaruk spürte eine Aura, wie die brennende Düsternis. Das schöne, bleiche Gesicht von Neire war erstarrt, seine Augen fassten die Ferne. Neire hatte seine linke verbrannte Hand unter der Robe hervorgezogen und sie so vor sich gestreckt, als ob er etwas Unsichtbares halten würde. Jetzt sah Gundaruk das Glühen in dessen Augen. Als ob die dunkle schwarze Kruste eines glühenden Magmas begann zu reißen. Dann formten sich die Flammen. Die Haut begann zu brennen und es quoll Feuer aus Neires Hand. Der Gang wurde in ein rötliches Glühen versetzt. Feuer und Schatten, Schatten und Feuer. Die Flamme aus Lava begann zu tanzen, als Neire zischend murmelte. Der Jüngling griff mit seiner rechten Hand in die Flamme und zog einen Degen aus purem Feuer hervor. Aus dem rötlichen Licht, welches jetzt den Gang erhellte, blickte Gundaruk in die Dunkelheit. Er deckte mit seinem Speer den Bereich vor ihm. Plötzlich schossen drei Kreaturen vor ihm herab, die sich wie Spinnen an einer Wand fortbewegt hatten. Gundaruk sah bleiche Knochen, über die sich vertrocknete Haut zog. Staubiges zerzaustes Haar fiel von den Köpfen hinab. Die Gestalten gierten nach Blut. Gundaruk konnte ihre langen Eckzähne erkennen, als sie ihn anfielen. Doch vorher stieß er mit dem Speer zu und hörte das Knirschen von Knochen. Einen kurzen Moment später spürte er die Hitze näherkommen und hörte die Stimme von Neire von hinter ihm: „Aus dem Weg Gundaruk.“ Gundaruk machten einen Schritt zu Seite und wurde geblendet von der Feuerwelle, die aus Neires linker Flammenhand nach vorne strömte. Alle drei der Gestalten wurden in ein Meer von Feuer und Schatten gehüllt.
Die Kugel aus Magma explodierte und hüllte den gesamten Gang hinter ihnen in Flammen. Neire spürte, wie die Welle der Macht ihn verließ, als er das Feuer beschwor. Adrenalin schoss durch seinen Körper und verdrängte jedes Gefühl von Angst. Jetzt war er gefangen in der Welt von Feuer und Schatten; die Essenz seiner Göttin elektrisierte jede seiner Bewegungen. Er starrte in die Flamme seiner linken Hand und ließ sich von ihren chaotischen Bewegungen treiben. Sein scharfer Verstand war das Ventil eines elementaren Meeres aus Chaos, eines älteren, urtümlichen Bösen. Es war ein Urmeer, aus dem er schöpfte, ein unendlich dimensionales Gebilde, das nur durch den ewigen Kampf einer Dualität aufrechterhalten wurde – ein Gebilde, dem der Gleichgewichtszustand fremd war. Sie hatten verbissen gegen die drei Kreaturen gekämpft, die Neire und Halbohr als lebendige schöne Gestalten gesehen hatten. Die Kreaturen hatten vor seinen Augen unter den Speerstichen Gundaruks geblutet. Schließlich war Halbohr ihnen zur Hilfe geeilt und hatte ihre Widersacher von hinten angegriffen. Zu dritt hatten sie sie niedergerungen und als sich eine der Gestalten wie von Geisterhand wieder erhob, hatte Neire eine zweite Feuerwelle über sie ergehen lassen. Erst dann waren sie zu Asche verbrannt worden. Die Ereignisse hatten sich danach überschlagen. Sie hatten gesehen, dass Rasmus am Altar gegen vier weitere der Kreaturen kämpfte. Der Ritter war bereits übel mitgenommen und konnte sich aufgrund seiner Trunkenheit kaum auf den Beinen halten. Aus der Dunkelheit hinter Neire und Gundaruk, hatte eine weitere Kreatur angegriffen, die jetzt Loec niederrang und sein Blut trank. Zudem war hinter ihnen ein untoter Krieger aufgetaucht, der Langschwert und Panzer trug und ein knappes Dutzend an Skeletten anführte. Die von Rowa beschworenen Spinnennetze hatten ihn nicht aufhalten können und er drängte jetzt auf Gundaruk zu. Neire hatte in Richtung von Rasmus gerufen. Dass er ihnen helfen sollte; doch der Paladin hatte nicht reagiert. So hatte Neire die Macht von Jiarlirae entfesselt. Für einen Moment wurden alle Geräusche von der Explosion übertönt, alle Sicht von einem grellen Licht genommen. Dann hörten sie alle den Todesschrei von Loec, gefolgt von einem Röcheln. Der waldelfische Begleiter wurde von den Flammen Neires dahingerafft. Nachdem der Rauch sich verzogen hatte, sah Neire glühende Haufen von Knochen zusammenbrechen. Auch die Gestalt, die Loec angegriffen hatte, löste sich in glimmende Asche auf. Nur der berüstete Krieger schritt weiter auf sie zu. Neire und Rowa wichen aus dem Gang in das Sanktum zurück. Gundaruk stellte sich dem Krieger am Eingang zum Kampf. Sie sahen alle, dass Rasmus von den vier Kreaturen am Altar überwältigt wurde. Sie begannen ihre spitzen Hauer in sein Fleisch zu rammen und sein Blut zu trinken. Ein weiteres Mal beschwor Neire die alten Runen, lispelte schlangenhaft den düsteren Singsang. Doch diesmal wendete er sich in Richtung Altar. Die Explosion erschütterte die Halle. Der Altar, der Ritter Rasmus und seine Widersacher verschwanden in einem Reigen aus Feuer. Als die Flammen sich legten, lag der Ritter blutend und verbrannt auf dem Boden. Rasmus hatte sein Leben ausgehaucht. Doch Neire hatte sich bereits dem untoten Krieger zugewendet. Er schwang die Flamme seiner Göttin und den Degen aus Feuer. Erbarmungslos brannten seine glühenden Augen. Nicht hörte er Rowas warnende, fast wehleidige Stimme: „Der Altar! Zerstört den Altar. Nehmt die Viole aus Rasmus‘ Gürtel.“
Gundaruk zitterte und atmete schwer. Er konnte kaum klar denken und fasste sich immer wieder an seinen Hals. Die Klinge des untoten Kriegers war dort tief eingedrungen und warmes Blut rann in Strömen herab. Die Todesangst hatte ihn gepackt. Es schien, als ob er die Kreatur nicht hatte verletzen können. Mechanisch hatte der Untote das Schwert gegen ihn erhoben. Hieb für Hieb. Keinen Schmerz hatte sein Gegner empfunden. Und Gundaruk hatte ihm schwere, tiefe Wunden zugefügt; tödlich für jeden Sterblichen. Für einen Moment sah es aus, als ob der große Mann in sich zusammensinken würde. Der von Blut dunkel gefärbte Fellmantel bedeckte ihn gänzlich. Er dachte an den Duft des Waldes im Sommer, die alten Wurzeln, das Harz von Fichten und Tannen. Doch da war sie wieder, die Wut, die ihn heimsuchte, wie eine Woge innerer Dunkelheit. Schaum bildete sich vor seinem Mund. Er begann zu schreien als sein großer muskulöser Körper sich zu wandeln begann; Sehnen begannen zu springen, Knochen zu brechen. Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Gliedern, wie geleimt sollen sie sein. Ein gewaltiges Brüllen durchfuhr die Halle, als die Kreatur, in die Gundaruk sich verwandelt hatte, sich erhob. Der Bär nahm Geschwindigkeit auf, als er in Richtung des untoten Kriegers stürmte. In seiner neuen Form sah Gundaruk wie durch einen Tunnel. Er stellte sich auf, blickte auf die berüstete Gestalt unter ihm und ließ sein gewaltiges Gebiss zuschnappen.
Als Rowa die Viole mit dem silbern schimmernden Wasser auf dem Altar zerbrach, war der Marmor in tausende Teile zerbrochen und explodiert. Ein Regen von Steinsplittern hatte sie zerschnitten. Nicht nur die Umgebung hatte sich danach geändert. Geisterhafte Silhouetten hatten sich aus den Körpern von Neire, Halbohr und Rowa gelöst. Geister lange verstorbener Kreaturen dieses Grabes, die in sie eingedrungen waren und die ihrem Verstand übel zugerichtet hatten. Der Nebel hatte sich dann für ihre Augen auflöst, so wie ihre körperlichen Veränderungen. Gemeinsam hatten Halbohr, Neire und Gundaruk – in Bärengestalt – gegen ihren letzten Widersacher gekämpft. Der Untote schien jetzt wie gelähmt und so konnten sie ihn zu Boden bringen. Danach war Ruhe eingekehrt. Halbohr war hinter der neu geöffneten Geheimtüre verschwunden, um die dahinter liegenden Gemächer nach Schätzen zu durchsuchen. Der Bär war in den Gang getrottet und schnüffelte am toten Körper Loecs. Neire hingegen blieb stehen und betrachtete die Halle. Der karmesinrote Himmel mit den silbernen Sternen war jetzt erloschen, der Altar zerbrochen. Mit einer inneren Zufriedenheit betrachtete er das Werk seiner Zerstörung; doch er wollte mehr. Er wusste, er hatte nur die Oberfläche berührt. Die Oberfläche der Geheimnisse, die in den Schatten liegen; das Chaos der Flammen. Er musste die alten Runen der Schwertherrscher entdecken, das Unbekannte verstehen, das Wissen jenseits der Sterne ergründen. Hätte er in dieser Situation einen Spiegel gehabt, so hätte er sich lange betrachtet und seine Fantasie in das Unbekannte entgleiten lassen. Doch er hatte keinen Spiegel. So fiel sein Blick auf Rowa, die sich bereits zu Rasmus hinabgebeugt hatte und ihn zu durchsuchen begann. Neire steuerte seine Schritte in Richtung des Haufens marmorner Scherben, hob arrogant sein Kinn und stellte siegessicher ein Bein auf die Reste des Altars: „Seht ihr nicht die Größe meiner Taten. Wir haben es vollbracht Rowa.“ Er sah, wie die Dunkelelfin mit dem grobschlächtigen Gesicht ihn kurz verächtlich anschaute, dann jedoch weitersuchte. „Es sind unsere Taten, die uns von den anderen unterscheiden. Es ist unser Geist, der uns nach dem Wissen greifen lässt… Doch ihr Rowa… ihr durchwühlt und plündert bereits die Leichen.“ Seine Stimme klang überheblich. Neire fühlte sich unbesiegbar in diesem Moment. Als Rowa ruckhaft aufstand und ein Amulett samt silberner Kette hervorzog, wich dieses Gefühlt jäh. „Ja, ihr habt es vollbracht. Tut doch was immer ihr wollt.“ Rowa stieß zudem einen Fluch auf dunkelelfisch aus, der in Richtung Rasmus ging. Doch Neire verstand die Worte. Auch sah er das Symbol, das sich auf dem Amulett befand. Es war das Hauswappen der Herrscherfamilie Duorg. In den Wirren der Kriege der vergangenen Jahrhunderte hatten sie stetig an Macht verloren. In traditioneller, dunkelelfischer Weise wurde das Haus Duorg von Frauen geführt, die von Ched Vurbal aus ihre niederträchtigen Machenschaften in die Unterreiche trugen. Neire war sich nicht sicher, ob es sich bei Ched Vurbal um eine Stadt oder einen Herrschaftssitz handelte, doch er wusste, dass das Haus vor langer Zeit einen Tempel zu Ehren der Spinnengöttin Lolth errichtet hatte. Den Namen des Tempels kannte er nicht, doch er sollte die Form einer Spinne gehabt haben und in Obsidian und Eisen errichtet worden sein. In den Wirren des Krieges war Ched Vurbal schließlich zerstört oder verschüttet worden. Vom Tempel hatte man seitdem nichts mehr gehört. Sogar an den Namen der Herrscherin konnte sich Neire erinnern: Raxira. Jetzt fiel ihm ein, dass Raxira zwei Geschwister gehabt haben sollte. Einen Bruder Raxor, der seit seiner Jugend als verschollen galt, und eine Schwester Rowa. Neire, sprach nun einfühlsam. Die Überheblichkeit in seiner Stimme war einem sanften Singsang gewichen. „Raxira, ist das eure Schwester, die ihr sucht?“ Er sah, dass Rowa vor Wut zu schäumen begann. Sie zitterte am ganzen Körper und antwortete zischelnd: „Wagt es nicht ihren Namen in euren Mund zu nehmen. Raxira, verflucht soll sie sein.“ Neire senkte unterwürfig seinen Kopf und machte ein paar Schritte zurück. „Ich…“ Er wollte gerade anfangen zu sprechen, als die Luft um Rowa begann zu flimmern. Er sah, wie sich geisterhafte Konturen bildeten. Spektrale Wesen formten sich aus dem Nichts. Es waren riesenhafte durchsichtige Spinnen.
Jenseher:
Der große halbkuppelförmige Dom des Grabes war jetzt in Dunkelheit gehüllt. Der Geruch von Schwefel, von verbranntem Fleisch und verkohlten Haaren war allgegenwärtig. Neire ließ seinen Blick kurz über seine Umgebung gleiten und sah, dass marmorne Scherben den Boden bedeckten. Der gesamte Bereich hatte sich plötzlich für ihn verändert und strahlte jetzt einen morbiden Charakter des Verfalls lange verlassener Einsamkeit aus. Er hatte Rowa nie ganz aus seinem Blickfeld gelassen und sah, dass sie immer noch – wutentbrannt und vor Zorn zitternd - das schimmernde Amulett betrachtete, das sie kurz zuvor dem Leichnam des Ritters Rasmus abgenommen hatte. Der kniehohe weiße Nebel war nach der Zerstörung des marmornen Altars vollständig verschwunden und so konnte Neire sehen, wie sich das silbrige, spektrale Wesen lautlos hinter Rowa formte. Neire spürte wie das Adrenalin abermals durch ihn schoss, doch die Aufregung war nicht mehr so groß wie zuvor. Nach dem Kampf war sein zermarterter Geist in einen ruhigen, fast schläfrigen Zustand übergegangen, in dem er mehr Betrachtender als Handelnder war. Er hob seine linke Hand unter der Robe hervor, zeigte und wich zwei Schritte zurück, als er zischelnd die Worte formte: „Rowa, sie ist hinter euch. Eine Spinne!“ Rowa blickte zu ihm auf und er konnte sehen, dass ihr plumpes Gesicht ihn für einen Moment musterte. Dann fing sie in ihrem Zorn an zu lachen. Konnte sie nicht sehen, dass die durchsichtige Spinne hinter ihr begann sich zum Angriff aufzustellen? Neire sah, wie sich die langen Fangzähne des spektralen Wesens in den Rücken von Rowa gruben. Blut sprudelte auf und das Lachen erstickte zu einem Schmerzschrei. Die Dunkelelfin wurde durch die Wucht des Angriffes zu Boden geschleudert. Neire musste handeln. Die Spinne rückte unaufhaltsam auf ihn zu. Er konzentrierte sich und ließ die Kraft ein weiteres Mal die heilige Flamme hervorrufen. Klein und versunken wirkte das tanzende Magmafeuer in der Größe des inneren Sanktums. Neire erhob seine Stimme warnend: „Rowa, seht. Die Flamme meiner Göttin… Flieht!“ Die Dunkelelfin begann jetzt zu kriechen und blickte ihn verachtend an. Sie wollte etwas erwidern, doch hustete nur Blut hervor. Ihr Gesicht schien zudem plötzlich und wie durch übernatürliche Veränderung gealtert. Neire beendete den priesterlichen Singsang der Beschwörungsformeln und rief das Feuer, das Rowa und das durchsichtige Wesen umhüllten. Stichflammen aus Magma schossen aus dem Boden hervor. Ein tiefes malmendes Geräusch war zu hören, wie das dunkle Grollen eines weit entfernen Wasserfalles. Das spektrale Wesen begann sich in einem Glühen aufzulösen. Die Dunkelelfin jedoch schrie in einem hellen Ton, als sie starb. Eine tiefe innerliche Freude durchfuhr Neire, als sie ihr Leben den Flammen gab. Er erinnerte sich an ihre Worte am Eingang zum Grab. Wir werden überleben, doch einen Teil unserer Seele werden wir der Spinnengöttin opfern. Ja, Rowa, ihr habt den euch zustehenden Teil geopfert. Doch ihr gabt ihn nicht der Spinnengöttin. Ihr gabt ihn den Flammen, den Schatten…
Gundaruk und Halbohr waren mit gezogenen Waffen in den Raum gestürmt, als sie Neires Ausruf gehört hatten. Doch die Flammen waren bereits abgeklungen als sie den Kampfplatz erreicht hatten. Nur noch den verbrannten, halb verkohlten Leichnam Rowas hatten sie gesehen, der in einer kochenden Blutpfütze lag. Neire war bereits zu dem Leichnam geschritten und sie hatten gesehen, dass er Rowa die Kette mit dem Amulett abgerissen hatte. Dann waren mehrere Kreaturen aus den Wänden oberhalb und neben der bronzenen Türe erschienen. Zwei weitere der Geisterspinnen und eine Kreatur, die von grauenvoller Schönheit war. Sie war halb durchsichtig gewesen und hatte den Unterkörper einer Spinne sowie den Oberkörper einer Dunkelelfin. Sie hatten die Ähnlichkeit zu Rowas Gesicht bemerkt, doch es schien, als ob das Gesicht die vorteilhafteren Züge von Rowa gehabt hätte. Sie hatten ein schlankes, schmales Antlitz betrachtet, das eine schöne, fast übernatürliche Symmetrie innehatte. Weißliches, langes Haar war vom Kopf hinabgefallen und blaue Augen hatten in der Dunkelheit gefunkelt. Das Wesen hatte die Szenerie betrachtet und war dann beim Anblick von Rowas Leichnam in ein Lachen verfallen. Auf die Worte von Neire: „Raxira, eure Schwester ist tot.“ Hatte sie geantwortet: „Habt Dank, habt Dank.“ Sie war daraufhin mit ihren Spinnen in der Wand verschwunden, doch Gundaruk, Halbohr und Neire hatten ein weiteres Mal ihre Stimme im Nachhall gehört: „Ihr habt mir einen großen Gefallen getan, doch ihr habt etwas das mir gehört… und ich werde es mir holen.“
Halbohr starrte Neire für einen Moment an. Hatte er den jungen Priester falsch eingeschätzt? Er war sich seiner Menschenkenntnis sicher, hatte nie oder selten falsch gelegen. Am Ende hatte er doch immer überlebt… und die anderen? Zu ihren Göttern hatten sie gebetet, hatten sie gefleht. Doch ihr Blut hatte den Sand gerötet, ins Gras hatten sie gebissen. Er, Halbohr, hatte sie überlebt. Er hatte sich auf seine Fähigkeiten verlassen. Jetzt blickte ihn Neire an. Als ob er seine Gedanken erahnen könnte. Das Gesicht des Jungen war lieblich auf den ersten Eindruck, wirkte unschuldig. Doch wie in einem Rausch hatte Neire bereits drei ihrer Mitstreiter ermordet. Und die rötlich glühenden Augen betrachteten ihn jetzt. Die Flamme aus Magma und Schatten in der linken Hand Neires erhellte und verzerrte sein Antlitz. Hatte er, hatte sich Halbohr vertan? Hatte er die Macht der Götter, die Macht von Jiarlirae unterschätzt? Einen kurzen Moment verspürte er den puren Hass und das Chaos, das in den Augen von Neire zu sehen war. Doch Halbohr verdrängte die aufkommende Furcht. Er ist doch nur ein Junge, noch ein halbes Kind. Halbohr erhob beschwichtigend die Hände und sprach ruhig: „Neire, werft das Amulett weg und folgt mir den Tunnel. Sie wird es sich holen. Es ist es nicht wert.“ Für einen kurzen Moment sah Halbohr den Hass in Neires Augen brodeln. Als ob man einem Kind etwas wegnehmen wollte. Doch dann beruhigte er sich. Die Flamme in seiner Hand wurde kleiner und erlosch. Er warf das Amulett in Richtung der bronzenen Türe, nickte ihm zu und folgte ihm. Auch Gundaruk kam ihnen in den Tunnel nach und deckte ihren Rücken. Halbohr kniete sich nieder, lauschte und betrachtete mit seinen grünlichen, fast katzenhaft schimmernden Augen fortwährend den dunklen Dom. Tatsächlich hörte er ein leises Rascheln in der Dunkelheit und sah wie sich erneut zwei geisterhafte Körper begannen aus dem Boden zu schälen. Die durchsichtigen Kreaturen richteten sich über dem Leichnam Rowas auf. Sie trugen ein dunkelelfisches Wappen auf ihren Hinterleibern. Jetzt stürzten sie sich auf den leblosen Körper hinab und begannen ihn mit ihren Hauern zu zerfetzen. Das Knacken von Knochen, das Flatschen von Gedärmen und das Schmatzen von Fleisch war zu hören. Die Zerteilung des Körpers in der Mitte war grausam anzusehen - es war die Zerstückelung von Rowa - unanständig und obszön.
Als der große Mann die geheime Türe zur Gruft zudrückte, hatten sich Neire und Halbohr bereits zur Rast niedergelassen. Gundaruk blickte ein letztes Mal in den stillen Dom des Sanktums, doch er sah keine Bewegung. Der Stein schloss sich nun mit einem Knirschen. Gundaruk drehte sich um und näherte sich dem Raum durch den kleinen Gang. Die Gruft hatte eine ovale Form. Hier und dort ragten Grabesnischen auf. Staubige Knochen von Skeletten bedeckten den Boden. Obwohl Gundaruk so lange geschlafen hatte, fühlte er sich müde. Er dachte zurück an die jüngsten Ereignisse. Sie hatten gesehen wie die Spinnen verschwanden, wie sie gekommen waren. Das Amulett hatten sie noch mitgenommen, doch den zerfetzen Körper Rowas zurückgelassen. Halbohr, Neire und er selbst hatten sich dann in der Gruft niedergelassen und auf Bitten von Neire den schweren Leichnam des Ritters mit sich geschleift. Gundaruk hatte ihnen gesagt, dass er einen Schutzzauber wirken würde. Er erinnerte sich zurück an seine Zeit in Mark und Tal, seine Streifzüge durch Wald und Venn. Er würde die Kreatur aus den Schatten ein weiteres Mal beschwören. Sie hatte ihm schon oft gute Dienste erwiesen. Immer wenn er allein unterwegs gewesen war. Er kniete sich nieder und sog die Luft ein; er hörte und roch den Wald, als wäre dieser noch immer um ihn herum. Er ließ die goldenen Runen des heiligen Bandes an seinem Speer durch seine Hand gleiten und murmelte die Verse in der alten Sprache. Und der Greif antwortete ihm. Gundaruk wusste, dass er ihn nicht sehen konnte, doch in den Schatten spürte er seine Anwesenheit. Der Greif würde über sie wachen, wie er es immer für ihn getan hatte. Dann hatte auch Gundaruk sich niedergelegt und war sofort eingeschlafen. Träume quälten ihn. Immer wieder wachte er schweißgebadet auf. Einmal erinnerte er sich an das Licht von Fackeln. Einmal an Neire, wie er betete. Ein rotes Funkeln ging von Neires entblößter Schulter aus. War es wirklich ein Traum?
Neire hatte lange geschlafen. Auch ihn hatten Träume gequält. Er erinnerte sich an die verschwommene Silhouette einer Frau. Eine Frau mit einem blauen und einem schwarzen Auge. Nach dem Schlaf hatte er die Fackeln entzündet und an das ewige Nebelheim gedacht. Er hatte gebetet und meditiert. Und sie hatte ihn erhört, sie hatte ihn wahrlich erhört. Er spürte es, als er über den alten Formeln brütete. Er wusste, dass ihm jetzt eine große Aufgabe bevorstand. Mit mutigem und geöffnetem Geist musste er voranschreiten. Er dachte über das Grenzreich nach, in das er eindringen würde. Die Seelen der Toten wanderten dort, sie suchten ihren Weg ins Jenseits. In den alten Schriften der Yeer’Yuen’Ti hatte er darüber gelesen. Oftmals wussten die Toten nicht, dass sie tot sind. In diesem Grenzreich, der Schattenmark, verfügten die Seelen doch über normale Leiber. Er fasste sich und ihm kam der rettende Gedanke. Er musste seine Erfahrungen niederschreiben in einem Buch, er musste die Erinnerungen bewahren. Er beugte sich über den großen Leib von Rasmus und legte sorgsam seine Hände um den verbrannten Kopf. Er begann zischelnd den Singsang des Totenliedes zu rezitieren. Halbohr und Gundaruk starrten gebannt auf ihn. Sie sahen, dass Neire sich in einen Kniesitz begeben hatte. Er hatte seinen Oberkörper entblößt und offenbarte den grauenvoll verbrannten linken Arm, an dem die drei mit der Haut verwachsenen Rubine zu leuchten begannen.
Es war das erste Jahr nach meiner Flucht aus Nebelheim als ich in die Schattenmark eindrang. Die Seele des Sünders zu finden war meine Aufgabe, die Seele der schwachen Kreatur zu finden war mein Ziel; die Seele, die nicht finden sollte, was sie suchte. So stieg ich hinab ins Nichts, das mir gepriesen zu sein als dasselbe wie die Fülle. Einen Ort an dem Anfang und Ende vereint ist und SIE so viel größer als Ursache und Wirkung. Der Ort meiner Bestimmung war Nebelheim, in dem das größte Heiligtum dieser Erde liegt: Das innere Auge. Es ist doch hier wo das Gegensatzpaar IHRER Heiligkeit sich zeigt. Feuer und Schatten, Schatten und Feuer. Und doch ist SIE mehr als die Summe aller Teile, SIE war schon immer mehr und SIE wird immer mehr sein.
Ich selbst war es, den ich im inneren Auge sah. Ein kleiner Junge an einem heiligen Ort. Ihm - mir, lief der Schweiß in Strömen vom Gesicht. Ich säuberte den obsidianernen Boden, der glänzte wie ein dunkler Spiegel. Die Luft um mich herum war voll von Wasserdampf. Es war die Hitze des inneren Auges, die hervorquoll und das Schmelzwasser des ewigen Gletschers noch in der Luft verdunsten ließ, bevor es den Boden erreichen konnte. So sah ich in mein Antlitz im schwarzen Obsidian und sah mich selbst, mein jüngeres Ich. Ein Junge mit nacktem Oberkörper und blasser milchig-weiß schimmernder Haut. Erhellt vom dunklen Glanz der immerbrennenden Fackeln. Der Körper noch unversehrt, bis auf die rötlich wulstige Narbe an der linken Seite meines Bauches. Ich war schlank, anmutig und drahtig; für mein kindliches Alter bereits groß gewachsen. Langes, jetzt nasses, gelb-goldenes Haar fiel in Locken von meinem Kopf und umrahmte meine gerade Stirn. Meine Augen schimmerten in tiefstem Nachtblau. Doch ich war nicht hier, um mich selbst zu betrachten. Ich war hier um ihn zu finden, die schwache Seele, ein Nichts und doch eine menschliche Seele. Ich spürte seine Präsenz; ich spürte wie er litt; ich spürte seine Suche, sein Unwissen. Ich rief ihn hervor, bei seinem Namen, bei seinem menschlichen Namen. Dem Namen, der vergessen sein soll, weil dieser, wie seine Seele, Nichts lautete. Ich sah ihn, wie ich ihn sah, als er sein Leben aushauchte. Ich nahm ihn an der Hand und sang ihm ein Lied, ein Lied in der alten Sprache der Yeer’Yuen’Ti. Ein Lied voll von brennender Düsternis und aus dem Licht der schwarzen Sonne:
Kommet und seht, oh lauschet meiner Stimme, gefunden habt ihr mich
Irrt ihr doch durch die ew‘ge Nacht, nicht lebend nicht lebendig, und wisset nicht davon
Noch könnt ihr euch erinnern, an eure Taten, was einst war, so grauenvoll und abartig
Der Weg führt euch nur weiter, die sieben Tore warten, das große Untere
Verdammt, verloren, nie neu geboren, verlassen, vermissend, nie wieder wissend
Er fing an bitterlich zu weinen und ich nahm ihn bei der Hand. Wir näherten uns gemeinsam dem inneren Auge. Die Luft wurde zunehmend wärmer und begann zu strömen. So heiß war es am Rand, dass alles um uns herum zu flimmern begann. Wir knieten uns nieder und blickten in die Tiefe. Es war, als ob keine Wände zu sehen waren. Das große Ungewisse des Gegensatzpaares. Der Geruch von Schwefel und brennendem Stein; brodelnde Magma, chaotisch und sich ständig wandelnd. Hier und dort zogen sich dunkle Krusten zwischen den helleren Stellen entlang. Orangene bis gelbe Farbtöne verliehen dem Unteren einen furchteinflößenden Charakter. Ich sagte ihm, er solle sich nicht fürchten. Ich erzählte ihm von der Herrlichkeit der wahren Göttin und er lauschte meiner Stimme. Dann war da die Stimme einer Frau. Lieblich und furchteinflößend zugleich, flüsterte sie mir zu, was zu tun sei. Und ich sah ein A und ein F in den Rissen des Magmas. Ich blickte ihn an und sagte: „Horcht, ihr seid alleine gestorben und werdet für ewig alleine wandeln. Doch die Flamme und der Schatten waren nie allein. Wendet euch IHR zu und ihr werdet neu geboren werden. Ihr werdet nie wieder alleine sein. Gebt offen und frohmütig eure Seele, versprecht sie IHR und es wird geschehen.“ Erneut fing er an zu schluchzen, blickte hinab in die Tiefe. Ich las die Runen für ihn, wie ich es in Nebelheim schon einmal getan hatte. „Dunkle Schatten sind das Licht unserer Göttin, wer ihr Feuer atmet, der strebet nach den Schlüsseln des Jenseits… Die Rune Nirgauz verheißt loderndes Feuer und gleichwohl eine gute Zukunft. Die Rune Firhu ist die Gabe, die Gabe des Feuers und der Schatten. Die Rune Zir’an’vaar spricht von Hingabe und von Opferung.“ Er lauschte meiner Prophezeiung. „Ihr müsst mir nur nachsprechen. Dreimal,“ sagte ich. Und er nickte. So blickten wir hinab und ich sprach die Worte, die Beschwörungen, die nie ein Ungläubiger erfahren darf:
„Ich rufe Euch Danuar'Agoth, ich rufe euch. Ich rufe Euch, Danuar'Agoth, die weiß-rot-schwarze Flamme.
Ich rufe Euch Hemia'Galdur, ich rufe euch. Ich rufe Euch, Hemia'Galdur, die Hüterin des grün-rot-goldenen Magmas.
Ich rufe Euch Vocorax'ut'Lavia, ich rufe euch. Ich rufe Euch, Vocorax'ut'Lavia, den Henker der letzten Einöde.
Ich rufe Euch Asmar‘fana, ich rufe euch. Ich rufe Euch, Asmar‘fana, die noch ruhende Heldin, Schlächterin von Ur’tor‘braahr.
Jiarlirae, älteste und höchste Göttin, Schwertherrscherin, Königin von Feuer und Dunkelheit, Dame des abyssalen Chaos, Herrin der Acht Schlüssel der brennenden Düsternis.
Damit er losgebunden, frei, befreit von Pein,
erfahre er was Wiedergeburt und nie wieder allein sein sei."
Mit diesem Beschwörungspakt wurde er wiedergeboren als neue Seele, als Seele Jiarliraes. Er war kein Nichts mehr. Sein Name war Bargh, ein Diener Jiarliraes. Glorreich soll seine Zukunft sein, groß seine Taten. Er wird nie wieder alleine sein. Flamme und Schatten werden ihn begleiten.
Jenseher:
Sie alle blickten gespannt auf den von Brandwunden gezeichneten Körper des Ritters. Gundaruk, der seine Fellkapuze tief in sein Gesicht gezogen hatte und sich kniend auf seinen Speer stütze, schaute auf. Halbohrs kantiges Gesicht kam zum Vorschein, als er seinen breiten Nacken drehte und den jungen Priester beobachtete, der sich nun vom Leichnam erhob. Neire sang weiter den fremden Choral und seine Augen funkelten rötlich. Als er sah, dass der gewaltige Oberkörper des Ritters zuckend nach Luft schnappte, verstummte er. Die Extremitäten des Paladins begannen jetzt zu zittern, seine Muskeln zu verkrampfen. Neire warf seine gold-blonden Locken zurück und drehte seinen Kopf zu seinen Kameraden. Ein höhnisches Grinsen verzerrte das schlanke, wohlgeformte Gesicht des jungen Priesters, als er sprach: „Heißt ihn willkommen, er ist wiederauferstanden von den Toten. Ein Wunder Jiarliraes, deren treuer Anhänger er jetzt ist. Sein Name lautet Bargh. Flamme und Schatten werden ihn begleiten.“ Tatsächlich kam langsam Leben in den Körper des Ritters. Er hustete und röchelte schwer, als er sich aufrichtete. Die Haut seines Kopfes war rötlich verbrannt; hier und dort waren noch Reste des einst vollen schwarzen Haares zu erkennen. Neire beugte sich jetzt behutsam hinab, legte Bargh eine Hand auf die Schulter und half ihm auf. Sie konnten sehen, dass ein rötlich-glühender Edelstein sein rechtes Auge ersetzte. Der kostbare Rubin verlieh dem Antlitz des Ritters eine furchteinflößende Aura. „Bargh, steht auf. Wartet, ich helfe euch.“ Die Worte von Neire hatten einen wohlklingenden Singsang inne; fremd und zischelnd, aber emphatisch und melodisch zugleich. Als Bargh sich erhob, hörte ihn Neire sprechen; anteilslos blickte sein verbliebenes blaues Auge in die Ferne. „Mein Kopf, ahh… es ist so schwer…“ Neire nickte ihm zu und dachte an den kleinen Bargh aus Nebelheim zurück; wie sein schmächtiger Körper zu Asche verbrannt war. Trauer erfüllte ihn wie ein nostalgisches Gefühl. Ein Gefühl, das er hegen und pflegen musste; doch da war auch etwas anderes, das in ihm loderte, etwas, das den Selbstzweifel verschwinden ließ: Wir waren dort, als es brannte, als es schmerzte, als das Licht an unserem Fleisch leckte. Gen Himmel, Rauch, eine Wolke unserer Form.
Bargh war von Gundaruk geheilt worden. Einen mächtigen Spruch hatte der kürzlich in einem Grab Erwachte gewirkt; einen Spruch, der die kalte, modrige Gruft für einen kurzen Moment mit dem Geruch von Sommer, Wald und Tannennadeln überzogen hatte. Bargh hatte zuvor röchelnd gehustet. Neben seinem Gesicht und seinen Händen hatten die Flammen anscheinend auch seine Lunge verletzt. Er holte tief Luft und blickte hinauf in das Gesicht der hünenhaften Gestalt, die selbst ihn noch um zwei Kopflängen überragte. Er dachte zurück an den schönen, warmen Ort, das dunkle Obsidian, die nebelhafte Luft und die rötlichen Flammen. Der Name und das Gebet an die Göttin hatten sich in seinen Geist gebrannt, wie ein schattenhafter Traum, der ihn auch jetzt im Wachzustand verfolgte. Bargh lehnte seine Hellebarde zur Seite. Ein kaltes lähmendes Gefühl ging nun von der Waffe aus. Seine einst so vertraute Hellebarde, die ihm plötzlich fremd geworden war. Als ob seine Muskeln sich gegen den heiligen Stahl wehren würden, fingen sie an zu zucken. Er schaute Gundaruk an und sah das goldene Runenband, das um seinen Speer gewickelt war. Irgendetwas war falsch an diesen Runen, irgendetwas störte ihn an dem Geruch des Waldes. „Seid ihr auch ein Anhänger Jiarliraes?“ fragte er mit zunehmend misstrauischer Miene. „Nein, ich …“ antwortete Gundaruk, bevor er von den Worten Neires unterbrochen wurde. „Das ist alles, was von Rowa übriggeblieben ist. Sie hat euch hintergangen Bargh und sie hat dafür gezahlt. Sie diente der schwachen Spinnengöttin. Jeder der nicht Jiarlirae dient, wird unwissend bleiben und einst den Preis dafür zahlen.“ Bargh sah, dass Neire Gundaruk mit arroganter, herausfordernder Miene betrach¬tete. Neire hatte den zerteilten Oberkörper von Rowa an den verbrannten Haaren gepackt und warf ihn ihm zu. Bargh hörte wie Neire fortfuhr. „Ihr seid jetzt frei und ihr könnt tun, was immer ihr wollt.“ Bargh sah den Oberkörper seiner ehemaligen Begleiterin und ein lange unterdrückter Hass begann wie eine lodernde Flamme in ihm zu brennen. Er trat mit seinen gepanzerten Stiefeln auf den Kopf von Rowa. Immer und immer wieder. Schließlich begann der Schädel zu knacken und das Gesicht von Rowa verschwand unter einem Schwall von Blut. Er keuchte und seine Bewegungen wurden langsamer. Für einen Moment verschwand der Schmerz aus seinem Kopf, das Zittern seiner Muskeln legte sich. Für einen Moment fühlte sich frei, befreit von Pein. Er fühlte sich gut… er fühlte sich sehr gut… er fühlte sich wie wiedergeboren.
Sie hatten eine Zeit lang über das weitere Vorgehen beraten und sich entschlossen eine Ortschaft aufzusuchen. Es gab die Wahl zwischen Grimmertal, Klingenheim und Fürstenbad. Sie hatten sich schließlich für Grimmertal entschieden, da es dem Grab wohl am nächsten lag. Sie waren dann aufgebrochen. Auf dem Weg nach draußen hatte Halbohr noch eine weitere Geheimtüre und eine verborgene Kammer, gefüllt mit Skeletten, entdeckt. Sie hatten diese Kammer nur kurz abgesucht und waren durch den noch immer anhaltenden Regen aufgebrochen. Bevor sie das Tal um den glattgespülten, gewaltigen Felsen verlassen hatten, hatten sie noch einmal die Höhle mit den getöteten Wölfen aufgesucht. In den unterirdischen Kammern hatten sie weitere essbare Pilze von Wänden und Boden geschnitten und so ihre Vorräte aufgefüllt. Hier hatten sich Neire und Bargh leise unterhalten und Bargh hatte Neire gefragt, ob sie ihre beiden Mitstreiter im Schlaf töten sollten. Doch Neire hatte ablehnt; er glaubte, dass Halbohr einem größeren Schicksal diente. Es musste so sein, denn er wurde ja von der geheimnisvollen Dunkelelfin als sein Weggefährte auserwählt. Sie waren dann in Regen und Dunkelheit aufgebrochen und hatten das Tal verlassen. Jetzt stapften sie durch den nassen Wald und den aufgeweichten Laubboden. Es musste wohl Nacht sein, denn nur durch ihre an die Dunkelheit angepassten Augen konnten sie das Dickicht um sie herum durchdringen. Es waren keine Geräusche von Tieren zu hören. Nur das Prasseln des Regens. Plötzlich durchdrang die Stimme von Neire den schweigsamen Marsch der Gruppe. „Ach, wie sehr täte mir ein Mahl von Schnecken, Schlangen, Moosen und Farnen jetzt gefallen. In Nebelheim durften die Kinder der Flamme an den Festen teilnehmen. Ihr müsst wissen Bargh, ich war und werde es immer sein: Ein Kind der Flamme.“ Der Regen lief Bargh in Strömen über das verbrannte Gesicht und der gefallene Paladin nickte andächtig. „Manchmal gab es sogar das Fleisch eines Chin’Shaar. Eine Köstlichkeit, die ihr bestimmt einmal essen werdet, sollten wir nach Nebelheim zurückkehren. Und das werden wir. Bestimmt.“ Obwohl Neire leise sprach, sah er, dass auch Halbohr und Gundaruk versuchten seinen Worten zu lauschen. So fuhr er weiter fort mit seinen Geschichten von exotischen Zutaten und rauschenden Festen, tief unter der Erde, tief unter dem Gletscher von Nebelheim. Er sah, dass Bargh an seinen Ausführungen Gefallen fand.
Unter der Wurzel eines umgestürzten Riesen hatten sie schließlich eine trockene Stelle gefunden. Ein kleines Erdloch, das ihnen durch den mächtigen Stamm des Baumes ein wenig Schutz bot. Zuvor waren sie Stunde um Stunde weitermarschiert, bis sie müde und bis auf die Knochen durchnässt waren. Jetzt hatten sie ihre Winterdecken über das feuchte Erdreich ausgebreitet und sich zum Ruhen niedergelegt. Halbohr übernahm die erste Wache. Das Schimmern seiner grünlichen, katzenhaften elfischen Augen war der letzte was sie sahen, bevor sie einschliefen. Halbohr starrte unentwegt in den prasselnden Regen und durch das Gewirr der Wurzel, die über ihm aufragte. Die Zeit verging langsam. Doch er verharrte regungslos. Er hatte dies schon so oft getan. Er betrachtete die Schlieren, die der Regen durch die Nacht zog. Fast war es windstill, doch immer wieder zog eine kleine Böe kalten Windes an seinen Kleidern. Dann sah er sie. Ein kalter Schauer lief über seinen Rücken. Die Umrisse einer Gestalt zwischen den Bäumen; schemenhaft, menschengroß und am Rande seines Blickfeldes. Für einen Moment bewegte Halbohr sich nicht und hielt die Luft an. Es sah so aus als würde die Gestalt verharren. Dann sah er erneut Bewegung. Langsam verschmolz die Silhouette mit den Bäumen und entfernte sich tiefer in den Wald. Halbohr dachte hastig nach: Ich muss ihr folgen. Doch was ist mit den anderen? Ich muss einen von ihnen wecken. Ich muss Neire schützen… muss mich an den Vertrag halten. Halbohr begann Neire leicht zu schütteln. Es dauerte eine Weile, bis der Junge wach wurde. Seine blauen Augen funkelten ihn in der Dunkelheit an. „Neire, wir wurden beobachtet. Eine Gestalt, nicht erkennbar. Jetzt ist sie hinfort.“ Neire schaute ihn verschlafen und fragend an. Dann sah Halbohr, dass der junge Priester plötzlich wach wurde. „Bleibt ihr hier Neire. Ich werde versuchen der Gestalt lautlos zu folgen.“ Halbohr sah, das Neire nickte und seinen Oberkörper aufrichtete. Er raffte leise seine Decke zusammen, verstaute sie im Rucksack und glitt in den Regen hinaus. Die Tropfen prasselten auf seine Kapuze hinab, als er sich aus dem Wurzelloch zog. Er bewegte sich vorsichtig und spähend zu der Stelle, an der er die Umrisse zuletzt gesehen hatte. Er beugte sich hinab um das Laub zu untersuchen. Tatsächlich konnte er Spuren entdecken; menschengroß, doch Konturen wie von ungleich langen Zehen und einer spitzen Ferse. Die Kreatur musste wohl barfuß gehen, anders konnte er sich die Abdrücke nicht erklären. Als er das Geräusch hinter ihm hörte, blieb sein Körper für einen Moment völlig reglos. Der schwere Filzmantel bedeckte ihn wie einen grauen Felsblock in der Dunkelheit. Nur sein Kopf zuckte herum und offenbarte sein fehlendes, vernarbtes Ohr. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, dass das Geräusch von Neire kam. Der Junge war ihm offensichtlich gefolgt. Für einen kurzen Moment spürte Halbohr die Wut auf Neire. Konnte der junge Priester nicht zuverlässig seinen Befehlen folgen? Doch vielleicht war es besser so; vielleicht konnte er Neire so besser schützen. Vielleicht war es auch die Macht des Feuers, die er gerne auf seiner Seite wägte. Er nickte Neire zu und flüsterte: „Kommt, ich habe Spuren gefunden.“ Gemeinsam und wortlos folgten die beiden den Spuren durch die Dunkelheit. Irgendwann glaubten sie ein Geräusch gehört zu haben. Wie ein Rascheln, gefolgt von einem Schmatzen von Schlick. Halbohr und Neire wurden jetzt noch vorsichtiger. Die Spuren führten in ein Dickicht von immergrünem Unterwuchs. Hier und dort ragten alte, von Efeu bewachsene Eichen heraus, die ihre blattlosen Kronen wie nasse, vielgliedrige Finger dem dunklen Himmel entgegenstreckten. Plötzlich endeten die Spuren. Halbohr hob seine Hand in alter militärischer Manier und betrachtete seine Umgebung. Er suche nach Augenpaaren, die sie beobachteten. Doch ihm fiel sofort die Abdeckung aus Dornen und Ranken auf, die einen Teil des Bodens bedeckte. Teils waren die Ranken verwelkt und zusammengesteckt. Nur das Auge eines geübten Betrachters konnte das Geflecht als natürliche Tarnung ausmachen. Halbohr war sich sicher, dass darunter etwas verborgen lag. Er deutete Neire an sich zurückzuziehen. Sie mussten die anderen wecken. Sie mussten hierher zurückkehren und die Initiative ergreifen, bevor sie etwas überraschen konnte.
Halbohr schaute sich um und blickte in durchnässte, erschöpfte, aber angespannten Gesichter. Dann griff er vorsichtig in das Geflecht von Dornen und Ranken und begann es hochzuheben. Er konnte nur hoffen alle der Dornen entdeckt zu haben, die mit dem schwarzen todbringenden Gift bestrichen waren. Zuvor waren Neire und er zu ihren immer noch schlafenden Mitstreitern zurückgekehrt. Sie hatten sie schnell und unsanft geweckt. Nur kurz hatten sie beraten. Dann hatten sie rasch ihre Winterdecken eingepackt und waren aufgebrochen, um dem nachzugehen, was sie beobachtet hatten. Alle waren einstimmig gewesen in der Entscheidung. Das Adrenalin hatte sie wachgehalten und sie hatten kurz die Kälte und den Regen vergessen. Halbohr war den Spuren erneut gefolgt und hatte sie an die Stelle geführt, wo er die Abdeckung aus Dornen und Ranken gefunden hatte. Glücklicherweise hatte er das Geflecht nach verborgenen Mechanismen abgetastet und tatsächlich sorgsam präparierte einzelne Dornen gefunden, die mit einer schwarzen Substanz bestrichen waren. Mit diesen Substanzen kannte er sich aus. Eine kurze Probe hatte ergeben, dass es sich um todbringendes Gift handelte, sollte der Dorn in das Fleisch eindringen. Er war sich sicher. Jetzt raschelte das nasse Geflecht, als er es anhob. Er fühlte keinen Schmerz und atmete erleichtert auf. Unter ihm offenbarte sich ein Erdloch, das fast senkrecht in die Tiefe hinab führte. Im oberen Bereich waren noch Wurzeln zu sehen, die im Regen nass schimmerten. Er konnte nicht sagen wie tief es hinab ging, da er kein Ende erkennen konnte. Er drehte sich um und sprach leise: „Die Kreatur muss hier hinabgestiegen sein. Hier enden die Spuren. Wir müssen ihr folgen. Wir müssen zuerst zuschlagen, bevor sie Hilfe holt und uns überrascht.“ Halbohr blickte in grimmige und entschlossene Gesichter. Nur Neire schien etwas ängstlich und runzelte die Stirn, als ob er eine Frage stellen wollte. Doch es herrschte Schweigen. Einzig der prasselnde Regen war zu hören. „Folgt mir hinab in die Tiefe“, flüsterte Halbohr und begann sich hinabzulassen. Schon nach wenigen Griffen an Wurzeln verlor er den Halt und begann hinab zu rutschen. Das Erdreich war weich und glitschig, doch seine Geschwindigkeit begann sich zu verlangsamen. Der Tunnel änderte seinen Neigungswinkel und wurde waagerechter. So kam er schließlich zu einem Halt, stand auf und blickte sich um. Er schaute hinein in eine natürliche Höhle. Hier und dort sah er andere Tunnel hinfort führen. Kleine Erdlöcher wie dieses, durch das er gekommen war. Die große Höhle führte weiter hinab in die Tiefe und er bemerkte in der Ferne des Ganges das fluoreszierende Licht einzelner Flechten dort aufschimmern. Die Luft war kalt und roch nach Erdreich und Moder. Hinter ihm hörte er schließlich Geräusche und sah seine Kameraden auftauchen, die ihm in die Tiefe gefolgt waren. Wortlos schauten sie sich um, tauschten dann Blicke aus. Ein jeder hatte seine Waffe gezogen und sie sahen das Schimmern von Stahl in der Dunkelheit. Sie drangen durch den Haupttunnel hinab in die Tiefe. Der Schacht eröffnete sich schon bald in ein Gewölbe, aus dem sie vielfarbiges mattes Licht dringen sahen. Der Geruch von Moder und Fäulnis nahm zu und vor ihnen öffnete sich eine von einem Pilzwald bewachsene Höhle. Teils hüfthoch waren die Pilze, von denen ein farblich unterschiedliches Glühen ausging. Dieses Schimmern machte die Betrachtung von Einzelheiten schwer; Licht, Schatten und Dunkelheit gingen wie ein Flickenteppich ineinander über. Doch sie sahen drei Ausgänge in die Dunkelheit hinfort führen. Als Gundaruk sich zu einem Pilz hinabbeugte hörten sie das Surren, dass die Höhle erfüllte. Sie waren in einen Hinterhalt geraten.
Jenseher:
Bargh, Halbohr und Neire hatten ihre Waffen gezogen und blickten sich hastig um. Sie waren der Höhle gefolgt, die tiefer unter die Erde führte. Immer höher ragten die Pilze vom moosigen Grund der Grotte auf und das fluoreszierende Glühen einzelner Flechten und Farne behinderte die Sicht der Gruppe. Sie sahen in diesem diffusen Licht, dass mehrere Kreaturen auf Pilze vor ihnen gesprungen waren und Speere schleuderten. Sie hörten zudem ein hochfrequentes Kreischen von den Gestalten ausgehen, die wie aufrechtgehende Pflanzen aussahen. In den menschenähnlich geformten Schädeln gähnten, anstelle von Augen, zwei schwarze Löcher. Neire, der sich unter der Erde wohler fühlte als im Regen der Oberwelt, reagierte als erster und duckte sich hinter Bargh. Er hörte dumpfe metallene Geräusche, als einige der Speere von den schweren Metallplatten der Rüstung seines Begleiters abprallen. Doch Neire bemerkte ein Aufächzen und sah, dass einer der Speere Bargh am Hals gestreift hatte. Auch Halbohr hatte sich rechtzeitig hinter einen Pilz geduckt und bereits einige seiner Dolche auf die Kreaturen geworfen. Aus den Augenwinkeln sah der elfische Söldner, dass Neire die linke verbrannte Hand unter seiner Robe hervorzog und begann zu murmeln. Die Augen des jungen Jiarlirae Priesters begannen zu glühen und in seiner linken Hand entzündete sich eine dunkle Magmaflamme. Halbohr roch den Geruch von Schwefel und er sah, dass eine grünlich-gelbliche Substanz in der Magmaflamme knisternd verbrannte. Nur einen kurzen Moment dauerte die Beschwörung, dann warf Neire die Kugel aus purem Magma. Die Zeit schien still zu stehen, dann erfüllte eine ohrenbetäubende Explosion die Höhle vor ihnen. Pilze und Pflanzenwesen wurden eingehüllt in des Feuers Brunst und zerfetzt; doch die glühenden Reste der Wesen fielen zu Boden und begannen zu wachsen. Gelb-bräunlich, flechtenähnlich war die Substanz die in den Flammen und im Rauch wuchs. Überall dort wo die Flechte mit dem Flammen in Kontakt kam, erloschen diese sofort. Schließlich kam das Wachstum zwei Schritte vor ihnen zum Erliegen. Die Flechte hatte jetzt einen großen Bereich vor ihnen überwuchert; von den Pflanzenkreaturen fehlte jede Spur.
Sie hatten sich zurückgezogen und am Rand der Höhle Schutz gesucht. Ein Riesenpilz ragte über ihnen auf. Je tiefer sie in die Höhle vorgedrungen waren, desto höher wuchsen die Pilze. Einige Exemplare hatten hier eine Höhe von über zwei Schritt. Halbohr war nach dem kurzen Kampf zum Rand des Bereiches geschritten, der mit der gelb-bräunlichen Flechte bewachsen war. Doch augenblicklich hatte sich eine Kältewelle über ihn aufgebreitet. Blutgefäße waren in seinem kantigen Gesicht geplatzt und er fröstelte. Die Kälte schien von dem, unter Feuereinfluss gewachsenen, Geflecht ausgegangen zu sein. Er war zurückgetorkelt und hatte Neire und Bargh berichtet. Neire hatte nachgedacht: Ihm war tatsächlich etwas zur braunen Flechte eingefallen. Er hatte von diesem Lebewesen gehört, dass es Teile des Unterreichs bevölkerte und empfindlich gegenüber Sonnenlicht war. Die braune Flechte ernährte sich von der Körperwärme warmblütiger Lebensformen. Er wusste allerdings nicht, was gegen diese Kreatur half; nur dass sie resistent gegenüber allerlei Energieformen war. So hatten sie sich niedergelegt und Bargh hatte die erste Wache übernommen. Doch schon nach kurzer Zeit hatte der Krieger Jiarliraes sie sanft geweckt. Barghs verbrannter Kopf musterte einen Bereich, in dem sich die Höhle in mehrere Tunnel eröffnete. Der rote Rubin, der mit dem Fleisch seines rechten Augensockels verwachsen war, glühte, als er auf einen Bereich grünlich fluoreszierender Moose deutete. „Dort, schaut. Schatten die sich bewegen.“ Halbohr und Neire betrachteten die Höhle, doch sie sahen nichts. Nach wenigen weiteren Augenblicken des Starrens in das diffuse Licht, erklang die flüsternde Stimme Barghs ein zweites Mal. „Sie bewegt sich. Jetzt ist sie dort!“ Neire und Halbohr blickten in die Richtung, in die der gepanzerte Handschuh Barghs deutete und jetzt sahen auch sie die schattenhafte Gestalt, mit der Form eines Pflanzenwesen. Neire überwand seine Furcht und erhob zischelnd seine Stimme. „Ihr dort, wir sehen euch. Kommt hervor oder Bargh wird euch töten.“ Er sprach in der allgemeinen Zunge des Unterreichs und zeigte mit seiner verbrannten Hand auf die Gestalt. Abermals hörten sie ein leises, hochfrequentes Fiepen. Sie sahen, dass sich die Kreatur in Richtung eines Tunnels zu bewegen begann. Als Halbohrs scharfes elfisches Ohr Geräusche aus dem Tunnel hörte erhob er seine Stimme. „Ich höre Schritte, ein Surren und ein Klacken, wie von vielen. Sie kommen! Wir müssen angreifen.“ Bargh und Neire nickten wortlos und zogen ihre Waffen. Gemeinsam folgten sie rasch, aber vorsichtig dem Wesen, doch schon kurz vor dem Höhlentunnel sahen sie die Kreaturen, die aus der Dunkelheit auf sie zukamen. Weitere aufrecht schreitende, lebende Pflanzen, von denen einige mit der braunen Flechte überwachsen waren. Andere waren größer und hatten grünlich glühende Augen. Ein weiterer Kampf entbrannte und sie warfen sich gegen die ihnen entgegenkommenden Horden. Bargh ließ sein Schwert mit steigender Präzision mehrere Gegner fällen und Halbohr griff aus dem Hinterhalt an. Neire beschwor Blitze aus purer Schwärze und grausamer Magie; dann stimmte er einen gebetsartigen Gesang an Jiarlirae an, der fortan durch den Tunnel hallte. Weitere Ströme von Gegnern kamen jetzt auch aus den Seitengängen. Darunter waren schwarze, hässliche Riesenspinnen, die die Größe von ausgewachsenen Wildschweinen hatten. Neben der Vielzahl von Gegnern bereitete den Streitern vor allem die Kälte der braunen Flechte Probleme, die um sie herum war und ihre Bewegungen verlangsamte. Doch mit vereinter Kampfkraft und nach dem weiteren Aufschimmern einer Magmaexplosion konnten sie die letzte der Kreaturen besiegen.
Schließlich hatten sie sich wieder unter dem Riesenpilz niedergelassen und das Licht von drei Fackeln erhellte die Lamellen über ihnen in einem fast magischen Licht. Neire hatte die Fackeln um Bargh und ihn selbst in einem Dreieck in den Boden gesteckt. Jetzt warf der Schein lange unwirkliche Schatten. Bargh betrachte Neire, der seinen Oberkörper entblößt hatte. Hier und dort traten Sehnen und Muskeln hervor. Der Jüngling sah nicht besonders stark, aber drahtig und durchhaltefähig aus. Die drei rot schimmernden Rubine, die mit der Haut von Neires linker Schulter verwachsen waren, erweckten ein vertrautes Gefühl in ihm. Eine tiefe innere Sehnsucht nach Wissen und Macht. Neire nickte ihm zu und sprach: „Bargh, weit weg sind wir von den immerbrennenden Fackeln von Nebelheim, doch jetzt ist ihr Licht und Schatten bei uns, leitet uns und wir wollen beten…“
Jenseher:
„Also preiset die schwarze Natter, feiert ihren unsterblichen Namen, trinkt euch in die schattige immerwährende Nacht, tanzt im Glanz der schwindenden Feuer, tanzt, denn die Zeiten des Kampfes sind vorüber. Und weinet nicht im Antlitz des Todes, weinet nicht im Grauen der Entropie, denn der Lebenszyklus ist das Chaos und alle Dinge sterben; denn die Dinge sterben um sich im Licht unserer Göttin aufs Neue zu entzünden.“ Beide Anhänger Jiarliraes hatten sich im Licht der Fackeln niedergelassen und eine Art Singsang begonnen. Die Stimme von Neire intonierte einzelne Verse in einem Choralgesang, die Bargh dann nachsang. Die Flammen der Fackeln zuckten und zitterten in chaotischen Formen und die Betenden warfen lange Schatten in die Höhle. Unter dem Dach des Riesenpilzes hatte die Szenerie etwas Gespenstiges. Halbohr hatte sich derweil an die Höhlenwand gekauert und beobachtete die beiden. Er konnte jetzt sehen, dass Neire sich vor Bargh hinkniete und ihm eine Hand auf die Schulter legte. Die drei Rubine, die im verbrannten Fleisch von Neires Schulter verwachsen waren, begannen sanft zu glühen. Halbohr spürte, dass der Jüngling eine unwirkliche Macht entfesselte. Der Gesang verstummte und er hörte fremde arkane Worte. Dann sah er, dass sich das Gesicht von Bargh veränderte. Zuvor geöffnete Wunden begannen sich zu schließen. Ein Lächeln fuhr über das Gesicht von Bargh und er erhob seine Stimme. „Jiarlirae, Herrin, auf ewig bin ich dir verpflichtet.“ Er wiederholte diese Worte mehrfach und Halbohr sah, dass auch sein Juwel, welches den Sockel seines rechten Auges gänzlich ausfüllte, rötlich schimmerte. Der Rubin in dem von frischen Brandnarben bedeckten Gesicht verlieh Bargh eine furchteinflößende Aura. So ging das Schauspiel noch eine Zeit lang weiter, bis Neire die Fackeln einsammelte und die Flammen mit der bloßen Hand erstickte. Halbohr sah, dass Neire dabei in seine Richtung blickte und ihm zulächelte. Er schien als ob der junge Priester ihm etwas sagen oder zeigen wollte. Doch Neire drehte sich schließlich um und begann sich zu Rast niederzulassen.
„Halbohr wacht auf, euer Ohr! Es ist etwas passiert… euer Ohr ist hinfort.“ Instinktiv griff sich Halbohr an sein fehlendes Ohr, obwohl er die Missetat von Neire bereits spürte. Schon im Halbschlaf begriff er, dass ihm übel zugespielt wurde. Er blickte in das Gesicht des Jünglings und sah die makellosen weißen Zähne von Neire in der Dunkelheit aufschimmern. Das Lächeln von Neire war inniglich und nicht falsch, doch Halbohr fühlte eine Wut in ihm aufsteigen. So dachte er doch an den Vertrag und unterdrückte die Gefühle. Er war gebunden an die Abmachung mit der Dunkelelfin, deren Namen er nicht kannte. Auch war er gebunden an das Übereinkommen mit Neire, auch wenn der Priester der Chaosgöttin den Vertrag verbrannt hatte. Doch das war nicht sein, das war nicht Halbohrs Problem. Der Vertrag war immer noch gültig; er sollte bis in alle Ewigkeit gültig sein. Bis er, bis Halbohr ihn auflösen würde. Halbohr richtete seinen Oberkörper auf, als er seine Müdigkeit bekämpfte. Seine Wunden und die Kälte setzten ihm immer noch zu. Er biss die Zähne zusammen und dachte kurz an Neire: Ein Junge, der nicht weiß wo er hingehört. Er ist getrieben und hat seine Flausen. Er ist nicht falsch. Nur hören muss er, mir gehorchen. Ich muss ihn erziehen, damit er besser dienen kann. Damit sich der Vertrag erfüllt. Doch vorsichtig muss ich sein. Damit er mich nicht verbrennt, so wie er die anderen verbrannt hat. Halbohr richtete sich auf und blickte in das unschuldige, kindliche Gesicht, das er sah. Das Gesicht von Neire war eingerahmt von gold-blonden Locken als er sprach. Ein Gesicht, das man lieben musste. Neire nickte ihm lächelnd zu und erhob seine Stimme: „Halbohr es ist eure Wache. Macht euch bereit und wacht über uns. Ich werde mich schlafen legen.“ Eine kurze Pause setzte ein, in der Halbohr mit den Zähnen knirschte. Dann streckte er seinen müden Körper und stand langsam auf. Er fühlte die Verletzungen der Kälte, die von der braunen Flechte ausgegangen waren. Die Kälte steckte noch immer in ihm und schmerzte in seinen Gelenken. Doch er setzte sich an die Höhlenwand und blickte über seine Kameraden. Er sah Neire auf Zehenspitzen aufgestellt in die Lamellen des weißlichen Riesenpilz greifen, der über ihnen thronte. Seine Hand war von Schleim bedeckt, als er sie wieder hervorzog. Neire hatte eine dicke, vom Sekret des Pilzes bedeckte, schwarze Fliege gefangen, die jetzt zwischen seinen Fingern summte. Halbohr sah, wie der Jüngling das monströse Insekt der Größe einer Walnuss mit einer Mischung aus Neugier und Ekel betrachtete. Er beobachtete wie Neire begann sadistisch zu lächeln, als er dem Tier die Flügel ausriss. Jetzt legte er den Kopf in den Nacken, öffnete den Mund und ließ die Fliege hineinfallen. Halbohr hörte das Knacken des Körpers und ein Schmatzen, als Neire sich, das schleimige Insekt kauend, zum Schlafen hinlegte.
Der Traum war über ihn gekommen wie der andauernde Regen des Gletschers von Nebelheim. Langsam und zäh hatten ihn Bilder und Gefühle heimgesucht. Neire hatte sich erinnert an das monströse Insekt, das er gesehen hatte. Die schwarze Fliege in der Größe eines Menschen hatte eine kupferne Rüstung getragen. Sie hatte ausgerissene Flügel und einen menschlichen Kopf gehabt, doch er hatte ihr Gesicht nicht sehen können. Sie hatte versucht hinfort zufliegen und sie war versunken in den Fluten des andauernden Regens. Nachdem er aufgewacht war, hatte Neire Bargh vom Traum erzählt. Sie beide hatten gerätselt über dessen Bedeutung. Bargh war sich unsicher gewesen in der Deutung. Er wollte jedoch eine göttliche Aufgabe annehmen um sich die Gunst von Jiarlirae zu sichern. Neire hatte dieses Vorhaben begrüßt und Bargh in seinem Bestreben bestärkt. Dann hatten sie alle das schwarze Eichhörnchen entdeckt, dass sich ihnen durch den Pilzwald näherte und sie mit wachen Augen musterte. Schon bevor sie reagieren konnten, begann sich die kleine Kreatur zu wandeln. Zum Vorschein kam die hünenhafte Gestalt von Gundaruk, der sich auf seinen Speer stütze und sie begrüßte. Sie waren jetzt wieder vollständig und brachen auf, um die noch unerforschten Tunnel der Höhle zu durchsuchen. Mehrere Gänge erkundeten sie, doch diese endeten alle in Sackgassen. In einer größeren Höhle ohne Ausgang fanden sie neben menschlichen Knochen Nischen, die mit dunklem Schleim gefüllt waren. Eine kurze Untersuchung zeigte, dass dies die Nester der Spinnen waren, die sie zuvor angegriffen hatten. „Neire, wir sollten den Schleim samt den Eiern verbrennen, bevor sich diese Brut aufs Neue erheben kann.“ Halbohr blickte in Richtung des jungen Priesters als er sprach und wies auf eine der Nischen. Bevor Neire antworten konnte sprach Gundaruk: „Der natürliche Kreislauf der Dinge ist der Tod und die Geburt neuen Lebens. Wir sollten nicht eingreifen und sie sich selbst überlassen. Falls sie überleben, soll es der Lauf der Dinge sein.“ Neire sah, dass Halbohr Gundaruk feindselig anblickte. Auch Neire selbst grübelte über den Worten Gundaruks und konnte keinen Sinn darin erkennen. Seine einzige Erklärung war, dass der ihm immer noch fremde Mensch das Unterreich nicht kannte. Oder er war verrückt geworden, bevor sie ihn aus dem Grab hatten befreien können. „Gundaruk“, sprach Neire ihn mit runzelnder Stirn an, während er überheblich lächelte. „Ihr kennt anscheinend das Unterreich nicht. Hier gilt das Gesetz des Stärkeren. Und wir sind die Stärkeren. Nichts kann uns aufhalten. Wenn Halbohr die Nester verbrennen will, kann er es tun, weil er es kann.“
Sie hatten sich entschieden weiter die Höhlen abzusuchen, bevor sie die Nester verbrennen wollten. Jetzt standen sie in der letzten Höhle. Es offenbarte sich ihnen ein beeindruckender Anblick. Wände und Boden der Höhle waren zu einem Teil von einem gewaltigen grünlichen Schleimpilz überdeckt. Neire und Halbohr hatten schon einmal etwas über diesen Pilz gelesen. Der längere Kontakt mit dem Schleim sollte lebendiges Gewebe zersetzen. Sie hatten gehört, dass der Pilz von Bewohnern des Unterreiches eingesetzt wurde, um Gefangene oder Sklaven zu quälen, die bei lebendigem Leibe dem Pilz ausgesetzt wurden. Der gesamte Boden der Höhle war von Pflanzen bewachsen, die hier und dort Nester formten. Zudem sahen die Streiter kleine Pilze ein und derselben Gattung wachsen, die verschiedene Farben trugen. Sie erkannten diesen Pilz als bunten Vierling, der die Farben gelb, grün, blau und violett annehmen konnte. Je nach Alter des Pilzes nahm er eine dieser Farben an, wobei gelb einen jungen und violett einen alten Pilz kennzeichnete. Sie wussten zudem, dass die jungen Pilze berauschend, die älteren hingegen tödlich giftig waren. Zu ihrem Erschrecken sahen sie in zwei der Nester Leichname liegen, die schon halb von Pflanzen überwuchert waren. Halbohr, Gundaruk, Neire und Bargh begannen die Höhle und die Nester zu untersuchen und einige der Pilze zu sammeln. Als Bargh und Neire an das erste Nest mit dem Leichnam herantraten, konnte Neire sofort den Leichnam von Rowa erkennen. Der verbrannte, zerteilte Körper und der von den Stiefeln Barghs zertretene Kopf ragte aus den Ranken hervor, die sich hier und dort bereits in das Fleisch des Leichnams gebohrt hatten. Der zweite Leichnam stellte sich jedoch als interessanter heraus. In einem weiteren Nest konnten sie einen männlichen Menschen liegen sehen, der in einen Plattenpanzer gekleidet war, ein Schild bei sich hatte und einen Streitkolben trug. Als Bargh den leblosen Körper betrachte murmelte er: „Ich kenne diesen Mann.“ Er zog den Leichnam aus dem Nest und sie konnten ihn so betrachten. „Das ist Calmer, der stellvertretende Abt des Tempels von Grimmertal“, sagte Bargh zu Neire. Neire betrachtete das Schild und sah ein Auge, dass auf dem Rücken einer ausgestreckten Hand abgebildet war. „Es ist der Tempel des Wächters, eine niedere schwache Gottheit“, sagte Neire. „Ich habe von diesem Tempel gelesen. Er wurde vor einigen Jahrzehnten in Grimmertal erbaut. Der Abt dort ist Terion. Seht Bargh, was mit ihm passiert ist. Seht was denen passiert, die dieser schwachen Gottheit dienen.“ Bargh betrachtete den Körper seines ehemaligen Kameraden abfällig. „Ich diene jetzt Jiarlirae und nicht mehr dieser Gottheit. Mein Schicksal wird ein anderes sein.“ Als sie den Körper durchsuchen zog Bargh plötzlich einen silbernen Schlüssel hervor und lächelte. „Neire, dies ist der Schlüssel zum Tempel. Zu den heiligen Gemächern, zu denen ich keinen Zutritt hatte.“ Auch Neire musste jetzt grinsen. „Bargh, soeben habt ihr noch vom Schicksal gesprochen, jetzt halten wir den Schlüssel zum Tempel des Wächters von Grimmertal in unseren Händen. Es scheint als ob die Göttin von Feuer und Schatten uns ein Geschenk machen wollte. Der Schlüssel zu deren Heiligtum.“ Bargh nickte und der Rubin seines rechten Auges funkelte in der Dunkelheit. „Wir müssen den Körper verbrennen Neire. Vielleicht haben sie einen Trupp losgeschickt, der nach ihm suchen soll.“ Neire nickte und war kurz in Gedanken versunken. Er dachte an den Ruhm den er Nebelheim bringen wollte; er würde die Feuer brennen lassen und den Gletscher zurückdrängen. So sehr träumte er bereits von ihren zukünftigen Taten, dass er fast nicht die Stimme hörte, die ihn aus den Gedanken riss. „Neire, Halbohr, Gundaruk. Ich habe Spuren gefunden. Sie führen in Richtung des grünen Schleimpilzes.“ Bargh hatte sich in seiner schweren silbernen Rüstung niedergekniet. Er deutete auf die Wand vor ihnen die von dem grünen Pilz bedeckt war. Augenblicklich begann die Anspannung der Gruppe zu steigen. Gundaruk hob seinen Speer mit dem goldenen Runenband in eine Kampfhaltung und näherte sich der grünen Wand. Vorsichtig begann er hier und dort in den Pilz hineinzustechen. Zuerst hörten sie das Klingen von Metall auf Stein, jedoch an einer Stelle glitt der Speer ins Leere. Gundaruk zerschnitt den Pilz und die Helden sahen, wie sich dahinter ein schmaler natürlicher Gang auftat, der weiter in die Tiefe hinabführte. Ein sanfter wärmerer Luftstrom kam Gundaruk entgegen. Sie vernahmen den Geruch von Wasser und von Stein. Nach einer kurzen Beratung entschieden sie sich, dem Tunnel zu folgen. Irgendwo von hier mussten die Kreaturen gekommen sein. Sie ließen die beiden Leichname zurück und stiegen weiter hinab in die Tiefe des Erdreiches.
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