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[AD&D 2.5E] Von Feuer und Düsternis – Erzählungen aus Euborea

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Jenseher:
Durch die halb zerbrochene Türe offenbarte sich der Blick in den strömenden Regen; in einen urtümlichen Wald, der von einem wolkenverhangenen Himmel in zwielichtige Dunkelheit gehüllt wurde. Kalte, nasse Luft drang in das Innere der Jagdhütte. Der kleine hölzerne Raum, der den Streitern als scheinbar sicherer Rückzugsort gedient hatte, war jetzt in einem chaotischen Zustand. Holzsplitter, Glasscherben und umgestürzte Möbel bedeckten den Boden. Der gesamte Türbereich war von halb verwesten Leichen bedeckt. Der Gestank war allgegenwärtig. Blut und Leichensäfte glitzerten am Boden und an Wänden, im Lichte der langsam verglimmenden Glut.

Neire stolperte über die Leichen zurück. Er versuchte, so gut wie es ging, seinen verbrannten Arm hinter dem Rücken zu verstecken. Noch immer schmerzte die blutende Wunde, die er sich selbst im Kampf mit der flammenden Klinge zugefügt hatte. Er atmete schwer und beugte den Kopf unterwürfig, als der Ritter in der silbernen Rüstung ihn betrachte. Er sah aus den Augenwinkeln, wie Halbohr aus dem hinteren Teil des Raumes herüber humpelte. Den elfischen Söldner hatte es wieder hart getroffen. Wunden und Schmutz bedeckten seinen Körper und Haare. Neire und Uthriel antworteten dem Ritter nicht, doch Halbohr erhob seine Stimme: „Wir sind auf eurer Seite, Fremder.“ In diesem Moment trat eine weitere Gestalt über die Leichen hinweg und in den Raum hinein. Die kleine Frau der Größe eines heranwachsenden Kindes, mit platinblondem Haar und kohlrabenschwarzer Haut erhob die Stimme. „Seht ihr es nicht? Sie sind nicht die Urheber.“ Die Dunkelelfin mit dem plumpen Gesicht trug einen silbernen Stab und betrachte Uthriel, Halbohr und Neire der Reihe nach. Ihr war ein niederträchtiger Ausdruck anzusehen. Die Spannung, die über dem Raum lag, schien sich dennoch zu lösen. Die Streiter sahen, wie der Ritter seinen bereits halb geöffneten Helm vom Kopf zog. Eine Aura von Zuversicht und Geborgenheit ging von ihm aus. Er lächelte den Gefährten zu. „Nun, wir sind euren Spuren gefolgt, haben die Leichenreste gesehen, die ihr hinterlassen habt. Ihr haben meinen Respekt, wenn ihr es mit all diesen untoten Kreaturen aufgenommen habt.“ Er lächelte die drei an. Seine blauen Augen wirkten aufgeweckt; die schwarzen kurzen Haare, die unter seinem Helm gelegen hatten, dampften nass. „Aber entschuldigt bitte meine Unhöflichkeit. Ich vergaß, mich vorzustellen. Mein Name ist Rasmus. Paladin, in den Diensten der Stadt Fürstenbad.“ Er blickte sich um. Doch ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er fort. „Dies sind meine Gefährten. Loec, vom Volk der Waldelfen und Rowa, vom Volk der Dunkelelfen.“ Erst jetzt sahen die drei Gefährten die dritte Gestalt aus der Gruppe der Fremden, die bei den Leichen der Türe stand. Der Waldelf war größer als Rowa und trug unscheinbare, der Umgebung angepasste Jagdkleidung. Unter seinem schulterlangen braunen Haar, sah man die Ringe eines Kettenhemdes glänzen. Loec hatte einen Bogen geschultert und trug einen Speer, dessen silberne Spitze in der Dunkelheit funkelte. Jetzt erhob Halbohr seine Stimme und antwortete auf die Vorstellung: „Es freut mich euch kennenzulernen. Mein Name ist Halbohr. Wir sind eine Jägergilde und hier gestrandet. Wir wurden von den Untoten überrascht.“ Neire hatte den Moment der Ablenkung genutzt und war bereits in den hinteren Teil des Raumes zurückgewichen. Hastig und so unauffällig wie möglich begann er seine Kleidung über das dunkelelfische Kettenhemd zu streifen. Er spürte den wohligen Geruch des Chin’Shaar Leders. Mit wachsender Zuversicht begann er sich umzudrehen. Er versteckte den linken Arm unter dem heiligen Umhang seiner Göttin.

Sie hatten die Leichen aus dem Raum geräumt und die Eingangstüre behelfsmäßig repariert. Uthriel hatte dabei herausgefunden, dass die Rüstungsteile der jetzt toten Leiber Muster einer alten Zeit trugen. Eine Zeit, die er auf 500-600 Jahre in der Vergangenheit schätzte; eine Zeit, in der diese Gegend von Kriegen überzogen wurde. Währenddessen hatte sich Rasmus um die Wunden von Halbohr gekümmert. Rowa hatte begonnen die Hütte abzusuchen und war auch auf die Geheimtüre gestoßen. Nun saßen sie alle am Feuer, das Neire mit trockenen Holzscheiten wieder entfacht hatte. Obwohl die Fenster noch immer zerschlagen waren, hatte sich wieder eine wohlige Wärme in der kleinen Hütte gebildet. Gerade zog Rasmus einen schweren Lederschlauch hervor und ließ seine mächtige Stimme ertönen: „Wer von euch trinkt einen Becher Wein mit mir? Ich lade euch alle ein.“ Neire nickte in freudiger Erwartung und begann alsbald Becher zusammenzusuchen. Schon goss Rasmus jedem einen vollen Becher ein. Nur Loec und Rowa verwehrten das Geschenk. Als sie den ersten Becher geleert hatten, schenkte Rasmus eine zweite Runde nach, an der nur er und Neire teilnahmen. Auch Halbohr und Uthriel lehnten jetzt ab. Rasmus nahm nochmals einen großen Schluck und begann zu erzählen. „Ihr müsst wissen, wir dienen einem alten Bund. Das bringt solch seltsame Gefährten wie uns zusammen.“ Loec und Rowa blickten missmutig auf ihren Anführer. „Aber vereint sind wir im Kampf gegen das Unleben. Irgendwo muss es einen Quell geben, einen Ursprung für diese Seuche.“ Er sah, dass Neire bereits seinen zweiten Becher geleert hatte, hielt kurz inne, um seinen ebenso zu leeren und schenke dem Jüngling und sich selbst eine weitere Runde nach. „Ja, dieses Jahr, in diesen Zeiten ist es besonders schlimm. Gerade Grimmertal scheint davon betroffen zu sein… und dann dieser Regen… ha…“ Als Rasmus zu fluchen begann, dachte Neire nach. Er hatte den Namen Grimmertal schon einmal gehört. Er erinnerte sich daran, von einer dünn besiedelten Region im Süden von Fürstenbad gehört zu haben, eine Region, mit wenigen kleinen Ortschaften und umso mehr Jagdhütten. Eine Region, in der ein Dorf selbst Grimmertal hieß. Als Neire nachdachte, hatte Rasmus seine Ausführungen bereits fortgeführt und der Name Klingenheim war gefallen. Auch diesen Namen hatte Neire bereits gehört. Doch nichts Gutes war ihm in Erinnerung geblieben. Er hatte gehört von einem Hort zwielichtiger Gestalten, die umgänglich als Abschaum bezeichnet wurden; von Tagelöhnern und leichten Damen, von Glücksspiel und Gewaltexzessen.

Neire hatte bereits seinen dritten Becher geleert und sah, dass Rasmus ihn jetzt angrinste. Er schenkte ihm nochmal nach und fragte: „Was ist mit euch Junge? Woher kommt ihr und was hat euch mit diesen ungleichen Gefährten zusammengebracht?“ Neire spürte jetzt den Rausch. Adrenalin begann zudem durch seine Adern zu pulsieren, als er die Augenpaare sah, die auf ihn gerichtet waren. Ich muss unerkannt bleiben, ich darf meine Suche nicht gefährden. Sein Magen rutschte plötzlich hinab und das Denken wart ihm schwer. Immer wieder kam ihm die Suche in den Sinn. Er ließ den Kopf hängen und fing an zu weinen. Keiner sah die Tränen, da sein Gesicht bedeckt war von seinen blonden Locken, die jetzt rötlich in des Feuers Glut schimmerten. Er begann schluchzend zu sprechen und so gut es ging seinen schweren Akzent und seine zischende Aussprache zu verbergen. „Ich komme ursprünglich aus Fürstenbad. Doch wurde ich entführt. Schon als Kind… vom Volk dieser dort.“ Er blickte auf und musterte Rowa. Tränen schimmerten in seinen blauen Augen und liefen über die reine weiße Haut seiner Wangen hinab. „Meine Mutter haben sie getötet, doch ich konnte entkommen.“ Als Rasmus den Arm auf seine Schulter legte, schluchzte er umso lauter auf. Er hörte die dunkle, jetzt fast andächtige Stimme von Rasmus: „Ich verstehe, ihr habt einiges mitgemacht. Doch es müssen Kräfte in euch schlummern, so habt ihr doch die Flucht aus dem Unterreich geschafft.“ Rowa machte in diesem Moment ein zischendes Geräusch und schaute Neire hasserfüllt an. Sie erhob ihre Stimme in der Sprache der Dunkelelfen. „Ich sehe es doch, ihr lügt!“

Sie hatten danach noch einige Zeit am Kamin gesessen und Geschichten ausgetauscht. Gerührt von Neires Schicksal, hatte Rasmus ihm immer wieder Wein nachgeschenkt. Erzählt hatte Rasmus zudem von der Geschichte des alten Bundes, der nach den Kriegen zwischen den verschiedenen Völkern errichtet wurde. Schließlich hatte Halbohr die Begegnung mit dem Jäger ausgeplappert und auf die Frage hin, ob sie den Leichnam beerdigt hatten, herrschte kurz Schweigen. Die Stimmung war fast gekippt; das Misstrauen von Rowa und Loec hatte überhandgenommen. Dann hatte Neire von der Krankheit von Halbohr und von seinem Zustand berichtet; dass es sich um einen Notfall gehandelt hatte. Das hatte die Fremden beruhigt. Das Gespräch war dann um eine mögliche Route nach Grimmertal gekreist. Als sie bereits einige Wege erörtert hatten war Neire angetrunken aufgestanden. „Ich habe genug, ich kann das nicht mehr. Ich weiß gar nicht, wie lange ich jetzt auf der Flucht bin. Wollt ihr uns nicht nach Grimmertal begleiten Rasmus?“ Rasmus hatte kurz überlegt, seine Kameraden angeschaut und dann tatsächlich zustimmend genickt.

Neire blickte durch den Nebel von Feuer. Das Gesicht war kurz dagewesen und doch zwischen der flimmernden Hitze verschwunden. Er spürte die Flammen auf seiner Haut brennen; es war als ob sie mit ihm spielen wollten. Hatte er seinen Geist geöffnet? Hier und dort sah er das Feuer dunkle Schatten formen; doch so sehr er sich auch bemühte, seine Runen konnte er nicht sehen. Jetzt hörte er die Flammen hinter ihm knistern und knacken. Ein Raunen, das sich zu einer bekannten Stimme formte. Er drehte sich um und da war es wieder. Das liebliche Gesicht, nach dem er sich so gesehnet hatte. Rötlich wallendes Haar umspielte ihre prominenten Wangenknochen. Die Zeremonienrüstung aus Kupferplatten schimmerte sanft im Antlitz der allgegenwärtigen Glut. Sie lächelte ihm zu, so dass er ihre spitzen Eckzähne und die Schlangenzunge sehen konnte. Ihre Augen funkelten wie brennende Rubine; ein Jedes geteilt durch eine schlangenhafte Spur vertikaler Dunkelheit. Er wollte nach ihr greifen, sie umarmen. Doch je näher er kam, desto weiter schwebte sie davon. Der Schmerz wurde größer und größer…
Neire wachte weinend in der dunklen Kammer auf. Er hatte sich zuvor geheilt und wollte eigentlich nur etwas meditieren. Er musste wohl eingeschlafen sein. Die Emotionen waren so allgegenwärtig, so überwältigend, dass er im Weinen verkrampfte. Er murmelte mehrfach ihren Namen: „Lyriell, oh Lyriell…“ Jetzt sah er die dunkle Silhouette von Uthriel, der in seinem Raum gewacht hatte. Die Augen des Streiters halb-dunkelelfischen Blutes schimmerten leicht gelblich in den Schatten. Er trat zu Neire heran und frage: „Was ist mit euch, habt ihr geträumt? Wer ist Lyriell?“ Neire blickte auf und erwiderte: „Meine einzige Liebe. Sie ist nicht mehr… sie ist jetzt im Reich meiner Göttin.“ Schließlich hatten sie sich aufbruchbereit gemacht. Neire hatte die Gebete zu seiner Göttin gesprochen. Noch immer fühlte er neben den Auswirkungen der Trunkenheit, die Traurigkeit. Uthriel hatte gesehen, dass Neire fast willenlos die Kruste von der frisch vernarbten Wunde seines linken Armes abkratze, während er Formeln einer fremden Sprache zischelte. Das ging so lange, bis das Blut hervorquoll und über seinen von Brandnarben gezeichneten Arm herabrann. Die Stücke Kruste hatte Neire immer wieder gegessen. „Seid ihr bereit? Wir wollen aufbrechen.“ Neire und Uthriel hörten neben dem Klopfen an die Türe die Stimme von Halbohr. Sie schnallten sich kurzerhand ihre Rucksäcke auf und sahen beim Verlassen des Raumes, dass der Rest ihrer neuen Mitstreiter bereits aufbruchbereit war. Alle nickten sich zu und verließen wortlos einer nach dem anderen die kleine Jagdhütte, in den noch immer an anhaltenden Regen. Nur Neire blieb im Raum zurück und bewegte sich auf den Ofen zu. Als Uthriel in das Zwielicht schritt, sah er aus den Augenwinkeln wie Neire ein glühendes Holzscheit mit der bloßen Hand seines linken, verbrannten Armes herausnahm. Er murmelte dabei etwas vor sich hin, das Uthriel nicht verstehen konnte. Der Geruch von verbrannter Haut verteilte sich ihm Raum, als die Glut sich in Neires Fleisch fraß. Doch Neire lächelte unter den Schmerzen; die Glut schimmerte rötlich in seinen nachtblauen Augen.

Sie gingen jetzt schon einige Zeit durch Regen und Wald. Halbohr und Loec dienten ihnen als Vorhut und Spurenleser. Neire hatte sich mit Rasmus unterhalten. Schmutz und Dreck schienen von dem Paladin wie auf eine übernatürliche Weise abzufallen. Das Gespräch hatte sich schließlich um Götterglauben gedreht und Neire hatte von Heria Maki erzählt. Das hatte Rasmus beineindruckt. Er hatte berichtet davon, dass die meisten Menschen die wahren Namen der Götter nicht mehr kennen und nur noch Aspekte anbeten würden. Sie unterhielten sich gerade angeregt, als sie im Zwielicht plötzlich die durchnässten Gestalten von Halbohr und Loec sahen. Beide knieten über dem von Laub bedeckten Boden und wiesen auf die Spuren hin. Spuren von großen Wölfen, vielleicht vier oder fünf an der Zahl. Nach kurzer Beratung entschieden sie sich den Spuren zu folgen. Tiefer und tiefer führten die Spuren in Wald, obwohl die grobe Richtung nach Grimmertal nicht verlassen wurde. Schließlich kamen sie an ein Tal, in dem das Wasser in Pfützen und Tümpeln stand. Ein großer Plateau-ähnlicher Fels war im Zwielicht zu sehen. Der Regen schien den Felsen reingewaschen zu haben. Niedergekniet betrachteten sie die Situation am Rande des Abhangs. Kälte und Nässe setzten mittlerweile allen zu. „Die Spuren führen den Abhang hinab, direkt auf den Felsen zu. Kennt ihr ihn? Vielleicht als Landmarke?“ Die Stimme von Halbohr war in Richtung von Rasmus gerichtet, doch der Paladin schüttelte mit dem Kopf. „Nein, noch nie etwas von einem solchen Felsen gehört, als ob er vorher noch nicht dagewesen wäre.“ Sie entschieden sich weiter den Spuren zu folgen und umrundeten den Felsen in großer Nähe. Hoch ragten die Wände neben ihnen auf, an denen Regenwasser herablief. Die Streiter zogen jetzt ihre Waffen und machten sich kampfbereit. Tatsächlich öffnete sich hinter einer Felsnadel eine Spalte, die in einer gähnenden Höhlenöffnung mündete. Vorsichtig und Schritt für Schritt drangen sie weiter in die Spalte vor. Schon bald waren sie aus dem Regen in die Dunkelheit gelangt. Rasmus fasste an seinen Helm und schon strömte ein silbernes Licht von ihm aus, das einen Tunnel erhellte, in dem Steine lagen. Weiter drangen sie vor und der sich langsam verjüngende Gang führte sie leicht hinab. An einer Kreuzung, von der drei Tunnel hinwegführten, horchte Halbohr. Er hörte aus dem linken Gang ein leises Knurren. In Erwartung eines Kampfes schlichen sie weiter voran. Hinter einer Ecke war das Knurren nun von allen zu vernehmen. Rasmus riss seine Hellebarde zum Sturmangriff hervor und stürzte um die Ecke. Neire reagierte als erster und folgte ihm. Er beschwor die Kräfte seiner Göttin. Keinen Moment zu spät, denn die drei gewaltigen Wolfskreaturen, die hinter der Ecke lauerten, wurden in eine Wand von malmenden Flammen eingehüllt. Die Höhle, die sie vor sich sahen, war von humanoiden Knochen gefüllt; Moos wuchs an den Wänden. Eine kurze Zeit nur loderte das Licht der Magmaflammen auf. Dann brach ein erbitterter Kampf los, als der Paladin gewaltige Hiebe auf die Kreaturen verteilte. Auch die weiteren Mitstreiter drängten jetzt nach und warfen sich auf die scheußlich anzusehenden Bestien, die die Größe von kleinen Pferden hatten. Der Kampf schien sich schon zugunsten der Gruppe um Rasmus zu wenden, als Halbohr von einem Biss schwer verwundet wurde. Wie zuvor sank er bewusstlos zu Boden. Zudem griff ein weiterer Wolf aus dem Hinterhalt an und versuchte Neire zu Boden zu reißen. Doch Uthriel drängte entschlossen und heldenhaft an seine Seite und stach auf die Beste ein. Mit gemeinsamen Kräften konnten sie auch die letzte Kreatur erschlagen. Über die Leiber der gewaltigen Leichen eröffnete sich ihnen der Blick auf eine Höhle, in der sie die Jungen der Wölfe sahen. Die Welpen drängten sich, von Furcht getrieben, in die Dunkelheit.

Jenseher:
Das silberne Licht von Rasmus Helm drang durch die Höhle und zeigte die gewaltigen Körper von vier erschlagenen Kreaturen. Die Leiber der Kreaturen waren einst prachtvolle, furchteinflößende Tiere gewesen. Jetzt waren die Knochen zerschmettert und drei der vier toten Tiere zeigten starke Spuren von Verbrennungen. Für einen kurzen Moment kehrte Stille ein. Neben dem schweren Atmen des verletzten Paladins – er hatte eine große Bisswunde in der Seite davongetragen – war ein wehleidiges Wimmern aus der sich verengenden Höhle zu hören. In diese Richtung stahl sich Neire davon. Er sah die vier Welpen, die sich, getrieben von Furcht, in eine Ecke der Höhle kauerten. Als er die Jungtiere bereits fast erreicht hatte, hörte er ein Husten hinter sich und drehte sich um. Hinter ihm konnte er die Gestalt der Dunkelelfin Rowa erkennen, die über den elfischen Söldner Halbohr gebeugt hatte und ihm einen Heiltrank einflößte. Sie hatte ihren Kampfstab zur Seite gelegt und Neire konnte ihre blauen Augen im silbernen Licht aufblitzen sehen. Halbohr kam in diesem Moment wieder zum Bewusstsein, doch er sah übel zugerichtet aus. Sein schwarzer Filzmantel war mittlerweile zerrissen und offenbarte zwei Wunden; eine an seinem Hals und eine an seinem Oberschenkel.

Neire drehte sich jetzt wieder um und musterte die Welpen. Sie hatten bereits eine stattliche Größe von etwa einem Fuß der Länge nach. Sie waren niedlich anzusehen, wie kleine Fellbälle von einer silber-grauen Farbe. Doch anstelle von Mitleid beschlich Neire ein Gefühl von Abneigung. Sie versuchen mich zu umgarnen mit ihren treuen, furchterfüllten Augen. Doch nicht für einen Tag wären sie überlebensfähig in dieser Welt. Ich habe mich durchgekämpft, ich war stärker, keine Eltern hatte ich, die sich um mich sorgen. Trotzdem habe ich alleine überlebt. Er dachte an das reinigende Feuer seiner Göttin. Ja, er würde sie opfern. So versunken war Neire in Gedankten, dass er nicht bemerkt hatte, wie Loec sich ihm von hinten genähert hatte. Der Waldelf trug seinen Speer mit der silbernen Spitze. Grünliche Augen blickten Neire ernst an. „Loec, …, wenn wir sie nicht töten werden sie durch die Höhle hinfort laufen und Feinde auf unsere Anwesenheit aufmerksam machen.“ Neire strich sich die noch immer nassen Locken aus seinem Gesicht zurück und wies in die Richtung des Ausganges. Loec packte seinen Speer entschlossen und nickte grimmig. „Ihr habt recht, lasst uns sie von ihrem Schicksal erlösen.“ Er begann den Speer bereits nach vorne zu stoßen und durchbohrte eine der Kreaturen. Seltsamerweise winselten die anderen jetzt umso mehr. Neire konnte die Angst in ihren weit aufgerissenen Augen sehen. Jetzt kochte Wut in Neire auf und er packte eines der Wesen am Nackenfell. Das Wolfsjunge wehrte sich nicht, doch Neire war erstaunt wie schwer die Kreatur schon war. In der Zeit hatte Loec bereits die zweite Kreatur durchbohrt und schwang den Speer in Richtung der Dritten. Neire wendete sich ab und trug das Wolfsjunge hinfort. Er musste Knochen zusammensammeln um ein Feuer zu machen.

„Seht ihr denn nicht, Rasmus, er ist verwundet.“ Rasmus, der sich gerade seine Seite verbunden hatte, schaute auf und sah wie Rowa auf die Wunden von Halbohr deutet. Wieso ist sie auf einmal so führsorglich? Sie denkt doch sonst nur an sich selbst. Er verwarf den Gedanken, bevor er Schlimmeres mit ihm anrichten konnte und richtete sich auf. Als er sich zu Halbohr herabbeugte kam ihm eine Welle von Gestank entgegen. Der elfische Söldner hatte sich anscheinend eine längere Zeit nicht mehr gewaschen. Rasmus blickte die Wunden an und sah, dass dort noch immer Wolfsgeifer klebte. Tief waren die Risse im Fleisch. Er nickte Halbohr zu, blickte ihm ernst in die Augen und legte ihm eine Hand auf die Schulter. So hatte er es immer bei verwundeten Kameraden gemacht. Doch war Halbohr wert das Artefakt zu opfern? Er hat noch nicht das Gegenteil bewiesen und tapfer gekämpft. Rasmus erinnerte sich an den Kampf zurück. Wie Halbohr ihm zur Seite geeilt war. Vielleicht hatte er ihm das Leben gerettet durch seinen heldenhaften Vorstoß. Er löste unter Schmerzen den großen Rucksack von seinen Schultern; die Stahlplatten seines Panzers schnitten ihm in seine Wunde. Trotzdem lächelte er Halbohr jetzt an. „Nun, lasst mich einmal schauen was ich für euch habe.“ Er griff zu einer kleinen Viole aus dickem Glas. Als er sie hervorholte, schimmerte die enthaltene Flüssigkeit in einem magischen, hell-blauen Licht. „Trinkt dies Halbohr. Es ist pures Leben.“ Er entkorkte die Viole und gab sie Halbohr, der ihn misstrauisch anblickte. Irgendwie amüsierte ihn diese Reaktion. „Trinkt, Halbohr und ihr werdet schon sehen.“ Er sah zu wie der zerlumpte elfische Söldner den unbezahlbaren Nektar des Lebens undankbar hinabstürzte. Tief in seinem Inneren sagte ihm eine Stimme, dass er dennoch das Richtige getan hatte. Was würde die Zukunft wohl bringen?

Neire blickte in die auflodernden Flammen. Er hatte mit einem Knie den Hals des Wolfjungen fixiert und hastig Knochenstücke zusammengesucht. Das Feuer aus den trockenen Knochen brannte höher und höher. Als er sein Knie löste, sah er, dass das Jungtier, der Besinnungslosigkeit nahe, nach Luft schnappte. Er erhob sich und begann den Choral anzustimmen:

„Das Feuer rauscht mit Ihrer Stimme, die Schatten bergen Ihre Weisheit.“

Er wiederholte die Worte wieder und wieder. Die Flammen brannten jetzt höher und spiegelten sich in seinen Augen. Er packte das Tier mit seiner linken Hand am Nacken und war mit den Gedanken bei seiner Göttin. Er blickte hinauf und sah die Schatten an den Wänden der Höhle tanzen. Langsam kehrte das Leben in die kleine Kreatur zurück; er spürte wie sie zu zappeln begann. War das Opfer genug für seine Göttin? Es war ein Leben, eine Seele, die er ihr darreichte. Er begann eine Oktave höher zu singen, mit seiner schönsten Stimme, als er die Kreatur in die Flammen führte. Er spürte die Hitze der Flammen auf seiner Haut, den sengenden Schmerz. Nicht ließ er locker, als das Wesen begann zu schreien, nicht ließ er locker, als es anfing zu zappeln. Der junge Wolf schnappte, doch von Flammen geblendet, ins Leere. Plötzlich begann der Bauch der Gestalt aufzuplatzen und Blut sprudelte hervor. Das Blut wiederum begann wie Öl zu brennen und lief glühend den Arm von Neire hinab. Als es auf seinen Ring traf, fing dieser an zu rötlich zu funkeln. Wie glitzerndes Quecksilber verflossen die Runen zu neuen Formen, als sich eine weitere Rune bildete. Neire sah die Runen deren Bedeutung er nur erahnen konnte. War es die Rune des untertänigen Dieners?

Danach hatte sich Neire zur Meditation zurückgezogen und das Feuer brennen lassen. Er hatte undeutlich gehört, wie Rowa sich mit Halbohr unterhalten hatte. Es hatte sich so angehört, als wäre der elfische Söldner der Konversation nicht besonders zugetan gewesen. Die Dunkelelfin hatte ihn anscheinend auf seine Nahtoderfahrung angesprochen; was er gesehen hätte. Halbohr hatte mit „Ich habe nur Schwärze gesehen“ geantwortet. Auf die Frage hin, an was er glaubte, hatte Halbohr mit „Ich glaube nur an mich selber“ geantwortet. Auf weitere Fragen nach seiner Herkunft war Halbohr gereizt ausgewichen. Schließlich hatte sich die Dunkelelfin abgewendet und Halbohr in ihrer Sprache verflucht. Anscheinend konnte Halbohr Dunkelelfisch nicht verstehen, dachte Neire, der jetzt seine Medition beendet hatte. Das hätte sich Halbohr nicht bieten lassen. Oder war sein Mitstreiter doch schwächer, als er allen anderen vorgaukelte? Neire sah, dass Rowa auf ihn zukam. Ihr Gesicht war für eine Dunkelelfin ungewöhnlich hässlich, gar plump. Sie nickte Neire zu, als sie über die Glut des jetzt ausgehenden Feuers hinwegschritt. „Neire, seid ihr auserwählt?“ Neire wunderte sich über die plötzliche Freundlichkeit, als sie ihm ihren Weinschlauch reichte. „Was meint ihr, auserwählt? Auserwählt von meiner Göttin?“ Er dachte wieder zurück an seine Aufgabe, daran, dass er seine wahren Ziele verbergen musste. „Ja, seid ihr auserwählt von eurer Göttin?“ Neire dachte an Jiarlirae, an die Flammen, an die Schatten. „Ich diene meiner Göttin Heria Maki. Sie ist das reinigende Feuer. Sie kennt kein Gesetz. Nur die zehrenden Flammen.“ Er ließ den Teil mit den Schatten absichtlich hinfort. Als er einen zweiten Schluck aus dem Weinschlauch nahm, lächelte Rowa ihn an. „Auch wenn unsere Göttinnen sich vielleicht nicht ganz verstehen und ich glaube, dass ihr nicht die ganze Wahrheit sprecht, so sollten wir uns dennoch verbünden.“

Sie waren wieder in den Regen aufgebrochen. Halbohr hatte den Höhlenkomplex abgesucht, doch die Tunnel mündeten alle in Sackgassen. Als Halbohr und Neire einen kurzen Moment alleine waren, hatte ihn Neire auf den Fluch der Dunkelelfin angesprochen. Halbohr hatte tatsächlich nicht die Sprache der Dunkelelfin verstanden und jetzt flammte sein Hass auf. Als sie wieder zusammentrafen, hatte Rasmus gesagt, dass sie weitersuchen mussten, dass hier irgendwas schlummern würde. Dass er eine dunkle, böse Präsenz spürte, die über diesem unseligen Orten lag. Als ob seine Worte ein Omen waren, für das, was ihnen widerfahren sollte. Der Regen prasselte ununterbrochen auf sie hinab, als sie weiter um den Felsen schlichen. Rasmus und Loec waren vorangegangen. Sie waren an einem weiteren Tunnel vorbeigekommen, der in den Stein führte. Doch keine Zeit hatten sie gehabt für weitere Untersuchungen. Rasmus war um eine Biegung in die Dunkelheit gestürmt. Als sie dem Paladin folgten sahen sie ein grausames Bild. Zwischen umgestürzten Bäumen, kleinen Felsen und Pfützen näherten sich ihnen dutzende von Skeletten. Behangen mit den Resten von bronzenen Rüstungsteilen sahen sie verschiedene Gruppen von Kreaturen durch die Dunkelheit auf sie zukommen. Eine Gruppe von etwa einem Dutzend Skeletten hatte Rasmus anvisiert, der seine silberne Hellebarde zum Kampf erhob. Doch Neire reagierte schneller. Mit Worten göttlicher Macht beschwor er eine Kugel aus Magma-artigem Feuer, die inmitten der Skelette explodierte. Knochen wurden zerfetzt und glühende Rüstungsteile flogen durch die Luft. Nur noch eines der Skelette kroch weiter auf Rasmus zu. Doch weitere eilten aus der Dunkelheit nach. Ein unerbittlicher Kampf entbrannte. Die Streiter wussten, dass die Kreaturen nicht aufgeben würden. Sie waren willenlos und geiferten nach dem Leben, vielleicht nach dem freien Willen selbst. Eines der Skelette hatte die Form eines Tieres und war zu Lebzeiten wohl eine große Raubkatze gewesen. Es stürmte auf Loec zu, der sich der Kreatur mutig stellte. Doch Hieb um Hieb wurde er von den Klauen verwundet, sein Bein wurde schließlich fast zerfetzt, so dass er sich nicht mehr fortbewegen konnte. Das Blatt schien sich gegen die lebenden Streiter zu wenden, bis Rasmus heilige Bannkräfte mit Hilfe seiner Hellebarde beschwor. Fast ein Dutzend weitere Kreaturen brachen plötzlich in Knochenhaufen zusammen. Aus den Händen von Rowa schossen Blitze hervor, die einige Kreaturen niedermachten. Gemeinsam eilten Halbohr und Rasmus Loec zu Hilfe und brachten die große Gestalt des tierischen Skelettes zu Fall. Überrascht von der Heftigkeit des Kampfes blickten sich die Helden im zwielichtigen Regen um. Für den Augenblick waren keine weiteren Gestalten zu sehen.

Jenseher:
Unentwegt prasselte der Regen hinab. Das Tal war in Zwielicht gehüllt. Der Fels ragte dunkel und drohend in die Höhe. Nachdem das letzte der Skelette gefallen war, kehrte Ruhe ein. Nur das schmerzhafte Stöhnen von Loec war zu hören. Das Bein des Waldelfen blutete stark und war anscheinend gebrochen. Neire sah, wie Rasmus auf Loec zuging und sich um sein Bein kümmerte. Neire selbst ließ sich auf ein Knie herniedersinken, wobei er dieses auf einem knöchernen Schädel platzierte. Er keuchte noch immer von der Anstrengung des Kampfes und betrachtete jetzt seine Wunden. An zwei Stellen hatten ihm die bronzenen Speere der Skelette tiefe Schnitte zugefügt. Rotes Blut rann über seinen linken vernarbten Arm, mit dem er versucht hatte die Speere zur Seite zu stoßen. Er blickte sich um und sah unweit von ihm Halbohr. Der elfische Söldner hatte sich ebenfalls niedergekniet und wischte sich das regenasse Haar aus dem Gesicht. Halbohr war in diesem Kampf unverwundet geblieben, doch sein Filzmantel war verdreckt und zerrissen. Als Neire in das Wasser der Pfütze unter ihm griff, sah er für einen kurzen Moment in sein Spiegelbild. Er hatte durch die Strapazen der letzten Tage Gewicht verloren. Seine hohen Wangenknochen traten dadurch noch markanter hervor. Seine weiße Haut schimmerte matt. Ab und an löste sich ein Tropfen von seinen gold-blonden gelockten Haaren, die ihm nass bis auf die Schultern herabhingen. Einen kurzen Moment war er wie in eine Trance versunken, doch die donnernde Stimme des Ritters schallte nun durch den Regen. „Bewacht den Platz, es kommen vielleicht noch weitere dieser Kreaturen.“ Neire sah, wie Rasmus Loec stützend in Richtung des Felsen führte. Er richtete sich auf und bewegte sich langsam auf Halbohr zu, der noch immer im Morast niedergekniet war. „Halbohr, was sollen wir tun?“ Neire flüsterte die Worte in Richtung seines Mitstreiters. In diesem Moment hörten sie beide die Stimme von Rowa. „Folgt mir, beide! Wir werden den Rest des Felsen abgehen.“ Die Dunkelelfin war in dunkle, nasse Gewänder gekleidet und blickte sie jetzt grimmig an. „Wollt ihr euch von ihr herumkommandieren lassen?“ Flüsterte Neire in Richtung von Halbohr und tatsächlich nahm sich der elfische Söldner seiner Worte an. „Nein, wir werden die kleine Höhle absuchen, an der wir vorbeigekommen sind“, sagte Halbohr. Sie beide sahen wie Rowa nickte und in Richtung des Felsen verschwand.

Neire und Halbohr machten sich sogleich in Richtung der kleinen Öffnung auf, an der sie zuvor vorbeigekommen waren. Als sie um eine Ecke des Felsen kamen und die Sichtlinie zu ihren Mitstreitern verloren hatten, begann Neire Gebete zu murmeln. Er beschwor die Macht seiner Göttin und strich sich über die Wunden, die sich sogleich zu schließen begannen. Als er den zweiten Heilzauber wirkte, spürte er jedoch, wie die zweite Wunde anfing zu schmerzen. Schwarzer Teer quoll aus der Wunde hervor und tropfte in eine Pfütze, wo er zu brennen begann. Neire starrte gebannt in die Flammen und biss die Zähne zusammen als die Schmerzen durch seinen linken Arm schossen. Er bemerkte nicht, ob nur er oder auch Halbohr die Flammen sehen konnte. In den Flammen erschien plötzlich ein blaues und dann ein schwarzes Auge und betrachtete ihn. Er hielt den Atem an und starrte in das Feuer. In alten Schriften hatte Neire schon einmal von Dämonen mit verschiedenfarbigen Augen gehört. Schließlich brannten die Flammen hernieder und der Schmerz in seinem Arm ließ nach. Die Wunden hatten sich verschlossen. Neire blickte sich um und fragte sich ob nur er diese Dinge hatte sehen können. War es eine Illusion? Vielleicht eine Vision? Er bückte sich zu der kleinen Pfütze und tastete nach dem Wasser. Er spürte, dass das Wasser noch kochend heiß war.

Sie waren durch die Öffnung im Felsen gestiegen und einen kleinen Abhang in die Dunkelheit hinab gerutscht. Als ihre Augen die Dunkelheit durchdrangen, sahen Neire und Halbohr die Höhle kuppelartig über ihnen aufragen. Ihr Atem kondensierte und die Luft schien von tausenden kleiner Sporen erfüllt zu sein, die sich im Luftstrom wiegten. Die gesamten Wände der Höhle waren von einem nass schimmernden Schleimpilz bedeckt, der einen modrigen Geruch verbreitete. Nach kurzer Beratung entschied sich Halbohr die Höhle abzusuchen. Mit seinem Dolch fuhr er durch den Schleim. Er hörte das Kratzen von Metall auf Stein – hinter dem Schleimpilz befand sich Fels. So ging Halbohr die Höhle ab, bis sein Dolch plötzlich ins Leere stieß. „Neire kommt her, ich habe etwas gefunden.“ Die Stimme von Halbohr drang flüsternd durch die Höhle. Neire trat näher heran und sah, wie Halbohr den Schleimpilz wie lebendiges Gewebe zerteilte. Es war als würde der Pilz zucken, als würde er Schmerz empfinden. Durch das Loch sahen die beiden einen dunklen, dünnen Gang im schwarzen Stein aufragen. Er endete an einer Wand aus Ziegelsteinen. „Seht ihr das? Der Gang scheint zugemauert“, sagte Halbohr. Neire hatte seinen Degen gezogen, blickte sich hastig um und versuchte Gedanken zu fassen. War der Tunnel von innen zugemauert worden, um Eindringlinge abzuhalten oder war er gar von außen verschlossen worden? „Ich werde die anderen holen, Neire, ihr wartet hier bis ich zurückkehre.“ Neire, aus seinen Gedanken gerissen, schaute sich unsicher um, nickte allerdings, da er sah, dass der Pilz langsam wieder zuwuchs. Er glaubte nicht, dass von innen Gefahr drohte. Außerdem fühlte er sich in dieser Höhle sicherer. Er nickte Halbohr zu und antwortete: „Geht, aber lasst mich nicht zu lange hier warten.“

Halbohr war den Spuren im Morast gefolgt. In der Felsnische hatte er ihre ungleichen Mitstreiter nicht mehr gesehen. Dort hatte er nur noch die Spuren von Blut entdeckt. So war er weiter um den Felsen geschritten und hatte schließlich durch den Regen gedämpfte Stimmen gehört. Als er um eine Felsnadel gekommen war, hatte er sie gesehen. Gerade hatte Rasmus, gekleidet in einen Plattenpanzer aus silbern schimmerndem Metall, mit seiner Hellebarde auf den Felsen gezeigt. Loec hatte sich gestützt auf einen Ast, sein Bein war bereits bandagiert. Rowa hatte ihn unfreundlich gemustert. Sie hatten ihn begrüßt und so war es für ihn auch zu ersehen gewesen: Große doppelflügelige Türen aus Bronze, halb versunken in der morastigen Erde und durch ein großes Loch freigelegt. Eine Zeit lang hatten sie gemeinsam versucht die Schrift zu entschlüsseln, die auf die Türen eingelassen war. Doch schließlich hatten sie sich von Halbohr überreden lassen in der Höhle mit dem Schleimpilz zu rasten. Jetzt waren sie gerade zurückgekehrt, vollkommen durchnässt vom Regen. Neire sah das silbern-blaue Licht von Rasmus‘ Rüstung ausgehen, als der Paladin den Abhang hinabrutschte. Er hörte die Stimme des Ritters zu ihm sprechen: „Neire, könnt ihr alte Sprachen entziffern? Von meinen ach so gelehrten Mitstreitern ist leider keiner fähig, das zu tun.“ Neire, lächelte und verneinte. So begannen sie alle ihre Winterdecken auf dem unebenen Boden auszubreiten. Loec trank an diesem Abend aus seinem Weinschlauch, wahrscheinlich um den Schmerz des gebrochenen Beines zu vergessen. Auch Rasmus holte seinen Weinschlauch hervor, nahm einen großen Schluck und lud Neire ein. Neire verneinte auch diesmal nicht und nahm dankend ein paar Schlücke. Er sah, dass Rowa in einem Buch las und begann eine Geschichte zu erzählen, die er einst gelesen hatte. Sie handelte von fernen Reichen, die im Stein und in den hohen Wipfeln uralter Eschen errichtet wurden. Von Königen, Kriegern und Prinzessinnen. Vom Aufstieg und vom Fall der Sippen. Von Reichtum und von Verrat. Die Geschichten schienen Loec und Rasmus aufzuheitern. Rasmus lallte bereits stark, als Neire seine Erzählung beendete. Schließlich bot Rasmus an die erste Wache zu übernehmen, was niemand ablehnte. So begaben sie sich alle in ihre Winterdecken und lauschten dem Prasseln des Regens, dessen Geräusch in die Höhle drang. Neire und Halbohr sahen aus den Augenwinkeln wie Rowa instinktiv etwas an ihrem Gürtel prüfte. War es ein Säckchen? Es sah so aus, als wollte die Dunkelelfin die Anwesenheit des Gegenstandes bestätigen.

Nun schienen alle bis auf Rasmus zu schlafen. Neire hatte auf diesen Moment gewartet. Er sah das silbern-blaue Licht von Rasmus‘ Wacht in die Höhle dringen. Der Paladin hatte sich an den höher gelegenen Eingang der Höhle gesetzt, ohne vom Regen erfasst zu werden. Neire war in Gedanken bereits bei den immerbrennenden Fackeln. Er raffte sich auf und schwelgte in Gedanken. Auch wenn ich das Licht der Fackeln nicht in die Welt hinaustrage, so soll es einmal in jeder Nacht die Welt erhellen. Ja, ich werde für immer ein Kind der Flamme sein. Er nahm drei seiner Fackeln und bohrte sie in Anordnung eines Drecks um ihn herum in den Boden. Bevor er sie entzündete nahm er seine Maske und betrachtete sie eine Zeit lang. Sie stellte die Form einer Feuerschlange dar und war mit Gold und Juwelen verziert. Es überkam ihn eine tiefe Traurigkeit als er sich an sie zurückerinnerte. An seine Freunde, die oftmals auch seine Feinde gewesen waren. Wie sie gemeinsam ihre Masken hergestellt hatten. Ja, die Maske des großen Balles hatten sie in die ewige Glut hinabgeworfen, doch seine erste Maske besaß er immer noch. Er zog die Maske auf und entzündete die Fackeln. Seine Stimme zischelte die Runen in der alten Sprache von Nebelheim. Er streifte seinen karmesinroten Kapuzenmantel mit den goldenen Runen ab, entledigte sich seiner Lederkleidung und seines Kettenhemdes. Sein drahtiger Oberkörper kam zum Vorschein, seine Haut war milchig weiß und makellos. Sein linker Arm war jedoch bis zur Unkenntlichkeit verbrannt und von dickem, dunklem Narbengewebe bedeckt. Im Licht der Fackeln schimmerten die drei Herzsteine, rote Rubine, die mit dem Fleisch seiner Schultern verwachsen waren. Er begann die alten Verse anzustimmen, die ihn die Platinernen Priester gelehrt hatten.

Sie hatten sich aufbruchbereit gemacht. Alle hatten getrunken und gespeist. In Loec war etwas Leben zurückgekehrt. Halbohr hatte Rasmus, Loec und Rowa die geheime Türe im Schleim gezeigt. Daraufhin hatten sie sich entschieden die Ziegelwand einzureißen oder vielmehr diese bis zu einem betretbaren Loch zu öffnen. Halbohr stand vorne und benutze seinen Dolch um einzelne Ziegel zu lösen. Es dauerte einige Zeit bis er eine Öffnung geschaffen hatte, die breit genug war um hindurch zu steigen. Aus dem Inneren drang vermoderte Luft heraus. Keine Geräusche waren zu hören. Als Rasmus das Licht löschte, stieg Halbohr durch den Eingang und erkundete den dort hinter liegenden Raum. Dieser Raum, der durch einen Vorhang verdeckt wurde, stellte sich als königlich eingerichtete Gruft heraus. Von Fresken verzierte Wände waren zu erkennen. Alte Relikte, wie kostbare bronzene Speere und Schilde ragten über den Fresken auf. In der Mitte der Gruft stand ein gewaltiger, golden-verzierter Streitwagen, der einen Sarkophag trug. Zwei steinerne Gänge führten aus dem Grab in die Dunkelheit. Nachdem Halbohr das Signal gegeben hatte, folgte einer nach dem anderen Halbohr in das Grabmal. Zuletzt waren Rowa und Neire übrig. Bevor Rowa durch die Öffnung stieg, fragte Neire: „Rowa, was erwartet uns? Werden wir überleben?“ „Wir werden überleben, doch einen Teil unserer Seele werden wir der Spinnengöttin opfern“, erwiderte Rowa lächelnd. So drangen sie alle in das Grab ein. Neire betrachtete die Schilde und es kam ihm eine alte Legende in den Sinn. Die Sage sprach von Krajan, einem Kriegsherrn und tyrannischem Herrscher, der einem Kult angehörte und ein Reich des Terrors schaffen wollte. Nachdem sie den Wagen geplündert hatten, offenbarte eine Suche eine anliegende Nebengruft. Wände und Decke waren von tiefroter Farbe; Muster von grünen Ranken waren an den Wänden angedeutet. Zwei verschlossene Sarkophage standen einer Grabnische gegenüber, in der eine mumifizierte, hübsche Frau zu sehen war. Halbohr begann die Särge zu untersuchen, konnte aber keine Falle feststellen. So öffneten sie die Särge und fanden in einem ein Skelett und im anderen einen Schädel. Nach einer weiteren Beratung beschlossen sie den Schädel an den Rumpf des Skelettes zu legen. In angespannter Erwartung betrachteten sie den Leichnam. Nichts passierte. Doch plötzlich begann sich die Gestalt zu bewegen. Leben war in sie zurückgekehrt. Ein Kampf entbrannte als die Gestalt sich erhob. Gemeinsam konnte die Gestalt niedergestreckt werden und verbrannte sogleich zu Asche. Neire begann die Überreste in eine Viole abzufüllen, als Halbohr sich der Mumie der Frau näherte und nach dem Dolch griff, den sie in ihrer Hand hielt. In diesem Moment explodierte die Gestalt zu Asche, die sich in Windeseile im ganzen Raum zu verbreiten begann. Die Helden hielten die Luft an und hasteten davon. Sie versuchten der Wolke von Asche zu entkommen.

Jenseher:
Dunkelheit – weißer Staub – flackerndes silbernes Licht. Für einen kurzes Moment wurde die Grabkammer in einen Reigen von Chaos getaucht. Die in einer Grabnische sitzende Gestalt der mumifizierten schönen Frau war in einer Aschewolke explodiert, als Halbohr unvorsichtig und gierig nach dem Dolch gegriffen hatte. Jetzt rollte die Aschewolke über die Kammer hinweg. Die Gefährten hielten die Luft an und versuchten sich in Richtung des größeren Grabes mit dem Streitwagen zu retten, doch weiße Asche und Staub drang durch Nasen und Augen in ihre Körper ein. Für einen kurzen Moment stützte sich Neire auf dem Sarkophag ab, den sie kurz zuvor geöffnet hatten. Er röchelte und versuchte zu husten. Fast automatisch kamen ihm die alten Verse in den Sinn, die er mit den Platinernen Priestern gebetet hatte. Er begann so gut es ging zu murmeln. „…die schwarze Natter, … ihren unsterblichen Namen, trinkt euch in die schattige immerwährende Nacht, tanzt im Glanz der schwinden Feuer, tanzt, denn die Zeiten des Kampfes sind vorüber…“ Seine Stimme wurde immer wieder durch Hustenanfälle unterbrochen. Schemenhaft sah er, dass Loec und Rowa an ihm vorbeihumpelten und sich kaum auf den Füßen halten konnten. Instinktiv richtete er sich auf, blickte sich um und folgte ihnen. An der Grabnische, wo einst die mumifizierte Gestalt der Frau zu sehen gewesen war, sah Neire Halbohr. Der elfische Söldner hatte die Augen weit aufgerissen. Halbohrs Kopf, der auf einem muskulösen Nacken saß, bewegte sich unruhig. Sein fettiges, schulterlanges silbernes Haar wurde dabei wild hin und hergeworfen. Neire sah, wie Halbohr in Richtung des Königsgrabes stolperte. Sein Gesicht blickte grimmig drein und die Narbe, die bis zu seinem fehlenden Ohr reichte, war prominent zu erkennen. Halbohr und Neire bemerkten, dass auch Rasmus an ihnen vorbeigeeilt war. Das silberne Licht, das von seiner strahlenden Plattenrüstung ausging, brach sich im Nebel der Asche und erhellte den vor ihnen liegenden Raum. Als beide Streiter sich ihren drei neuen Gefährten anschlossen, erkannten sie, dass sich ihre Umgebung geändert hatte. Die Wände des Ganges zum Grab waren jetzt weißlich getüncht und auf ihnen Szenen einer Wandmalerei zu erkennen, die eine Schlacht darstellte. Auf dem Boden hatte sich weißlicher Nebel verteilt durch den sie jetzt wateten. Plötzlich hörten sie die Geräusche von Wind und von Schlachtenlärm. Eine warme Brise von rußigem Brandgeruch kam ihnen entgegen und unter das silberne Licht mischte sich das Flackern eines Feuers. Halbohr wandte sich zu Neire um, der etwas zurückfiel und weiter vor sich hinmurmelte. Er sah, dass sein junger Begleiter bleich geworden war. Die gold-blonden Locken Neires schulterlangen Haares waren getrocknet und umspielten sein Gesicht. Es lag irgendetwas verträumtes in Neires sternenblau schimmernden Augen. Dann sah Halbohr die langen Eckzähne, die sich in Neires Mund gebildet hatten. In diesem Moment lächelte Neire ihn an. Halbohr wollte gerade etwas sagen, da wurde er von einem Geräusch unterbrochen. Neire und Halbohr traten in das Königsgrab und starrten gebannt auf die sich ihnen öffnende Szenerie: Unter dem archaischen Streitwagen und den bronzenen Pferden brannte ein Feuer; Dampf stieg aus den Nüstern der Tiere und ihre Augen glühten in der Dunkelheit. Auf dem Streitwagen stand eine zwei Schritt große Gestalt, in eine schwarze prachtvolle Rüstung gekleidet, mit bernsteinfarbenen Augen und von weißlicher, fast blasser Haut. Vor dem Krieger kniete eine schöne Frau, mit wallendem Haar. Der Krieger starrte sie an und fing an in einer alten, fremden Sprache zu sprechen. Neire konnte keines der Worte verstehen und dachte nach. Er hatte in alten Geschichten von Krajan, dem Gnadenlosen, dem Schatten, dem Fürst des Blutes gehört. Eine legendäre Gestalt eines Kriegerherrschers, der die Lande mit blutigen Schlachten überzogen hatte. Er sollte eine schwarze, nass-rötlich schimmernde Rüstung getragen haben; an dieses Detail konnte sich Neire erinnern. Die alten Schriften hatten von einer großen Gefahr berichtet, die von ihm ausgegangen war. Vielleicht die größte Gefahr, die diesem Teil der Oberwelt widerfahren war. Schließlich waren die vereinigten Heere von Menschen und Elfen siegreich gewesen. Das heutige Fürstentum Leuvengard war 300 Jahre später auf dem Gebiet dieser historischen Ereignisse entstanden, die jetzt etwa 600 Jahre zurücklagen. Neire konnte seine Gedanken nicht fortführen, da die Stimme der alten Sprache, der Schlachtenlärm und die Hitze auf ihn eindrang. Vor Neire und Halbohr sprachen Loec und Rowa die Worte des Kriegers nach, als ob sie in seinen Bann verfallen wären. Der Krieger zögerte nicht lange und packte den Kopf der Frau, die ihm ihren nackten, schlanken Hals präsentierte. Als er sie biss, konnten sie seine langen Fangzähne sehen. Er trank ihr Blut, ließ sie leblos fallen und starrte die Helden mit rot-verschmiertem Gesicht an. In diesem Moment erinnerte sich Neire an den Namen Shangrila. Eine niedere Blutgottheit, der vor langer Zeit Kulte verschworen waren. Vom ärmeren Teil der Bevölkerung hatten die Anhänger sogar Rückhalt erhalten, da sie des Öfteren Speisungen für diese durchführten. Doch es war keine Zeit mehr für weitere Gedanken. Die Gestalt des Kriegers fing an zu schreien und sprang von dem Streitwagen hinab auf sie zu. Die Dinge überschlugen sich jetzt. Halbohr hatte seine Dolche in beiden Händen erhoben und wich ein paar Schritte zurück. Rasmus, Loec und Rowa machten sich kampfbereit. Neire reagierte am schnellsten und begann die Formeln von Feuer und Schatten zu rezitieren. Er beschwor eine Kugel aus glühendem Magma und wabernden Schatten, die er nach vorne warf. Das gleißende Licht einer gewaltigen Explosion erfüllte das Grab und blendete sie alle für einen kurzen Moment. Die Explosionswelle erfasste auch Rasmus, Loec und Rowa. Für einen Augenblick hörten die Helden ein helles Lachen und sahen im verglimmenden Feuer wie die Gestalt des fremden Kriegers sich in weißen Rauch auflöste. Er mischte sich in den weißen Nebel, der mittlerweile kniehoch das gesamte Grab bedeckte.

Neire bewegte sich wie in Trance auf den brennenden Vorhang zu. Er sah nicht, dass seine Welle des Feuers Rasmus stark verwundet hatte. Er bemerkte nicht, dass Rowa bewusstlos zu Boden sank, nahm keine Notiz davon, dass Loecs langes Haar bis auf ein paar Büschel zu Asche verbrannt war. Vor ihm war der dicke Stoff durch die Wucht der Explosion vollständig in Flammen geraten. Neire blickte in ein Meer von Feuer, das sich vor ihm auftat. Er trat so nah heran, dass die Flammen drohten seine Haut zu verzehren. Er zog seinen linken Arm unter seiner Robe hervor und tastete in das Feuer hin. Die Flammen brannten auf dem vernarbten Fleisch und er vernahm den Geruch von verbrannter Haut. Er blickte in die Glut, in die Muster der Flammen. Die Göttin musste ihm ein Zeichen geben, er musste die Runen erkennen. Doch er sah nichts. Bevor die Verzweiflung in ihm aufkam erinnerte er sich an die alten Bräuche. Er stimmte den priesterlichen Choral an, den er schon zuvor am Grab zitiert hatte. Jetzt sang er mit dem Flammen, mit seiner schönsten Stimme. „Und weinet nicht im Antlitz des Todes, weinet nicht im Grauen der Entropie, denn der Lebenszyklus ist das Chaos und alle Dinge sterben. Denn die Dinge sterben, um sich im Licht unserer Göttin aufs Neue zu entzünden.“ Als der Vorhang an einigen Stellen begann einzustürzen, ließ er seine Augen aus der Starre erwachen. Neire blickte auf seine linke Hand und sah zu seinem Grauen, dass diese zu bleichen Knochen verbrannt waren. Er sank auf die Knie, als ihn eine Woge von geistiger Pein heimsuchte. Hatte ihn seine Göttin verlassen?

Halbohr hatte immer wieder in Richtung von Neire geblickt, als sich die anderen um ihre Wunden gekümmert hatten. Wie als ob er Schlafwandeln würde, war der junge Priester, der sich ihm als Kind der Flamme vorgestellt hatte, willentlich in das Feuer des brennenden Umhangs eingetreten. Anscheinend konnten ihm die Flammen nichts anhaben. Halbohr hörte neben dem Knacken von Flammen immer noch das Stürmen von Wind und das Getöse ferner Schlachten. Auch an seinen anderen Mitstreitern sah er hier und dort seltsame Veränderungen, wie hervorgetretene spitze Eckzähne. War denn die Welt um ihn herum im Chaos versunken, konnte er nicht mehr seinen Sinnen trauen? Er betrachtete Neire, den brennenden Wagen und dann Rasmus, Loec und Rowa. Er konzentrierte sich und versuchte durch den Nebel zu schauen, der auf dem Boden lag. Kurz schloss er seine Augen, dachte zurück an jetzt ferne Zeiten und atmete lange und ruhig aus. Als er die Augen öffnete hatte sich nichts geändert. Leise hörte er flüsternde Stimmen in der Dunkelheit. Als er zu Neire blickte sah er, dass der Junge in den Flammen des Vorhangs auf die Knie gesunken war. Sein rot-goldener Mantel schimmerte übernatürlich im Licht der Flammen, seine Augen waren wie glühende Kohlen. Neire hatte seinen linken verbrannten Arm erhoben und betrachtete diesen mit den weit aufgerissenen Augen eines Verrückten.

Schließlich hatte sich Neire aufgerafft und war zu den anderen zurückgekehrt. Er konnte seltsamerweise seine skelettene Hand rühren, als wäre sie noch immer von Muskeln bewegt. Er hatte auch Halbohr verzweifelt gefragt, ob er sähe was mit seiner Hand passiert war. Doch der elfische Söldner hatte ihn nur verwundert angeschaut. Er war der Verzweiflung nahe. Auch die Moral ihrer neuen Begleiter schien gebrochen. Sie ächzten unter den Brandwunden und husteten den vergifteten Staub, der in ihren Lungen brannte. Zudem hatten sie bemerkt, dass der Eingang, durch den sie gekommen waren, wie auf wundersame Weise verschwunden war. Nur Halbohr schien einigermaßen besonnen, doch der elfische Söldner hielt sich zurück, lauschte und betrachtete die Bewegungen des Nebels in die Dunkelheit hinein. Als die Verzweiflung immer größer wurde hatte sich Neire an Rasmus gewandt. Er sprach jetzt mit stark akzentuierter Stimme einer fernen Sprache. Lispelnd fuhr seine gespaltene Zunge über seine Lippe, als er an die starke Führung der Platinernen Priester dachte: „Rasmus, ihr seid doch der Anführer dieser Gruppe. Also führt uns durch dieses Grab.“ Der Paladin blickte Neire für einen Moment unsicher an. Halbohr hielt sich zurück und beobachtete die Szene genau. Erst jetzt wurde ihm das junge Alter von Rasmus bewusst. Der Paladin hatte sich die meiste Zeit hinter einem Helm aus Stahl verborgen, hatte nach außen eine Fassade der Erfahrung und der kriegerischen Überlegenheit getragen. Rasmus richtete sich ächzend, doch überraschend schnell auf. Er nahm seinen Weinschlauch und trank ihn fast in einem Zug leer. Den Rest des Weins reichte er Neire, der ihn dankend annahm. Jetzt schwang seine sonore Stimme überheblich durch das Grab: „Folgt mir Kameraden, wir werden diesen Ort im Sturm erobern. Folgt mir und ich werde euch zum Sieg führen.“ Halbohr zog sich in diesem Moment ein Stück weiter in die Schatten zurück. Er hatte in seinem Leben einige dieser Führer gesehen. Er wusste, dass Rasmus brechen würde, und dann… dann würde seine Stunde kommen.

Tiefer und tiefer waren sie in das Grab eingedrungen. Schließlich waren sie an einer weiteren Gruft angelangt, in deren Mitte sich eine Stele befand. Auf der Stele war eine bronzene Urne platziert. Hier war schließlich die Stimmung gekippt. Rasmus war weiter vorgeeilt, ohne auf Halbohr und Neire zu achten. Neire plagten zudem weitere Zweifel. Er hatte neben dem Wein, den ihm Rasmus angeboten hatte, etwas von dem Grausud aus dem verborgenen Fach seines Degens genommen. Jetzt hörte er die fremden Stimmen umso mehr in der Dunkelheit zischeln. Zudem spürte er Hitzeströmungen, durch die Gänge ziehen. Hitze die an seinem Geist zehrte, die ihn irgendwo hinlocken wollte. So hatten Halbohr und Neire sich zurückfallen lassen und sich kurz beraten. Sie hatten die drei Gefährten in der Gruft gelassen um die Gänge zu erkunden, an denen sie vorbeigeeilt waren. Dabei hatten sie schließlich zwei weitere Kammern gefunden, von denen eine Kammer eine Türe besaß. Nachdem die beiden Rasmus, Loec und Rowa belauscht hatten und nach einem kurzen Streitgespräch mit Loec, hatten sie sich entschlossen in der kleinen Kammer zu rasten. Die große steinerne Türe war von innen verriegelbar und somit recht sicher. Schließlich hatte Neire sich niedergelassen um Kontakt zu seiner Göttin aufzunehmen.

„Ich kann nicht, sie… SIE antwortet nicht. Die Stimmen… sie sind überall.“ Halbohr betrachtete Neire, der sich hustend aus dem Nebel erhob. Die Augen von Neire glitzerten groß und bläulich in der Dunkelheit, als ob er im nächsten Moment zu weinen beginnen würde. Sie hatten die Kammer verschlossen und Neire hatte bereits das zweite Mal versucht zu meditieren. „Es ist als ob sich der Ort verändert hätte. Die Wandmalereien von Ranken und Knospen. Eben habe ich einen warmen Hauch in meinem Nacken gespürt. Als ob jemand dicht hinter mir stehen würde.“ Als Halbohr den Satz beendete drehte er sich tatsächlich um, doch hinter ihm sah er nur die von Spinnenweben bedeckte steinerne Wand. Neire war sich sicher, dass er während der Meditation kurz eingenickt war. Er konnte sich an ein Bild erinnern, dass er gesehen hatte. Eine von Nebel bedeckte Landschaft, aus der die Spitzen von Fichten aufragten. Dann hatte er sie gesehen. Bleich wie Schnee und mit toten Tieren behangen. Langsam hatte sie sich umgedreht. Ein Teil ihres Gesichtes war von einem Totenkopf bedeckt gewesen. War es eine Krone aus Ranken die sie trug? Er erinnerte sich an die blutroten Augen und den Mund – es musste die Blutgöttin gewesen sein. „Ich habe Lyriell gesehen, in meinem Traum.“ Neire entschloss sich Halbohr anzulügen. „Sie war oft in den Eishöhlen der ewigen Dunkelheit. Sie jagte dort die Chin’Shaar.“ Neires Stimme klang traurig als er sprach. „Doch sie hatte stets den Segen der Göttin.“ Halbohr schüttelte den Kopf. „Neire, wir können nicht weiter warten. Rasmus wird sie in die Dunkelheit führen. Was wenn sie dort etwas freilassen. Wir werden hier in der Falle sitzen.“ Neire nickte lächelnd. „Im Raum mit der Urne habe ich ein Banner gesehen. Rowa las die alten Runen vor, die dort zu sehen waren. Es war von einer Blutgöttin die Rede. Sie ist schwach, eine niedere Gottheit… Von Blinden angebetet, die zu den Sternen aufschauen und sie niemals sehen werden. Halbohr, ich muss es weiter versuchen, Jiarlirae wird mir antworten und wir werden nach der Weisheit in Feuer und Schatten greifen.“ Halbohr betrachtete misstrauisch Neire. Er wusste nicht was er von dem jugendlichen Priester des Feuers und der Schatten halten sollte.

Jenseher:
Ein weißer kriechender Nebel lag kniehoch über dem steinernen Boden des Grabes. Das kleine runde Gewölbe, in dem Halbohr und Neire ruhten, war in vollkommene Dunkelheit gehüllt. Dennoch durchdrangen die Augen der beiden Streiter mit übernatürlicher Schärfe ihre Umgebung. Sie hatten die steinerne Türe, die den einzigen Eingang darstellte, von innen verschlossen. Um sie herum ragten dunkle, teils glattgeschliffene Wände auf, die Spuren von Bearbeitung im Felsgestein zeigten. Neire erhob sich ächzend aus seinem Kniesitz und dem Nebel. Er spürte seine Lunge brennen und ihm liefen wechselnd kalte und heiße Schauer über den Rücken. Aus der Leere der Gruft hörte er das Rauschen von Wind und von Wasser, das Keuchen von leidenden Gestalten und das Rasseln von Ketten. Noch immer dachte er an das Bild der fremden Frau, das er in seinem Traum gesehen hatte. Neire blickte in Richtung von Halbohr als er seine Stimme erhob. Seine Augen funkelten nachtblau in der Dunkelheit, als ob er den Tränen nahe wäre. „Oh Göttin von Feuer und Dunkelheit, Dame der Acht Schlüssel, Herrscherin über die niederen Reiche, oh Schwertherrscherin.“ Während er sprach, verfiel er immer wieder in einen merkwürdig zischelnden Singsang und sein Gesicht formte ein verrückt wirkendes Lächeln. Halbohr betrachtete Neire genau und stieß verächtlich die Luft aus. Der Söldner mit dem grobschlächtigen Gesicht wirkte jetzt auffallend nervös. Immer wieder drehte er hastig seinen Kopf und offenbarte so die grässliche Narbe des einstigen Schnittes, die sich bis zu seinem fehlenden Ohr zog. Er hatte kurz zuvor an der Türe gelauscht, doch nur Kettengerassel und ein fernes Stöhnen gehört. „Neire, wir können nicht weiter hierbleiben. Rafft euch auf und bewahrt Haltung.“ Halbohr bemerkte, dass seine Worte kaum zum jugendlichen Priester durchdrangen. Der Jüngling hatte gerade seinen von gold-blonden, schulterlangen Locken bedeckten Kopf gesenkt und betrachtete seine linke verbrannte Hand. Nur langsam sah Halbohr wie Neire seinen Kopf hob und lächelnd in seine Richtung blickte. Für einen kurzen Moment bemerkte Halbohr die spitzen Eckzähne, die sich Neires Gesicht geformt hatten, nachdem sie den Leichenstaub der mumifizierten Frau eingeatmet hatten.

„Beim reinigenden Feuer von Heria Maki haltet ein!“ Die Stimme von Neire drang in das Gewölbe vor ihnen, in dem Neire und Halbohr ihre ungleichen Mitstreiter gehört hatten. Sie waren aus ihrem sicheren Zufluchtsort aufgebrochen und hatten die steinerne Türe vorsichtig geöffnet. Zuerst hatten sie nochmals das Königsgrab aufgesucht und nach dem geheimen Eingang Ausschau gehalten, durch den sie den Komplex betreten hatten. Doch dort, wo sie noch vor kurzer Zeit die alten Ziegel aus der Wand gebrochen hatten, befand sich jetzt von Fresken bedeckter massiver Stein. Die Szenen von Schlachten und großen, Blut trinkenden Kreaturen waren zu sehen gewesen. Insbesondere eine Szene, in der ein Granitblock und eine Flamme zu sehen war, war ihnen als Abstiegsort in das Unterreich bekannt gewesen. Neire hatte lange seine knöcherne Hand betrachtet - die nur er sehen konnte - und versucht seinen Geist zu öffnen. Doch den alten Durchgang hatte er nicht erkannt. Ohne dass sie es bemerkten, schien dieser Ort ihnen eine verfluchte, vielleicht längst vergangene Version der Realität vorzugaukeln. So waren sie schließlich zurückgekehrt und standen jetzt vor der Gruft mit dem goldenen Banner und der Urne; wobei letztere auf einer brusthohen Stehle in der Mitte des Raumes aufgebracht war. Noch bevor die Worte von Neire verhallt waren, drehte sich der Ritter, dessen stählerne Rüstung schimmerte und den Raum in bläulich-silbernes Licht warf, um. Rasmus trug seine gewaltige Hellebarde, doch der Paladin schwankte, als er lallend zur Antwort einsetzte: „Ihr… ihr… ihr seid zurückgekehrt um uns beizustehen, um diesen Ort von allem Bösen zu befreien.“ Sein rötlich-verbranntes, aufgequollenes Gesicht begann einen freundlicheren Ausdruck anzunehmen, als er sprach. Neire nickte ihm zu und antwortete. „Wir sind zurückgekehrt um euch zu helfen. Mit dem reinigenden Feuer von Heria Maki. Doch haltet ein; dieser Ort ist verflucht.“ Neires Blick musterte Loec, der gerade im Begriff war den Deckel der Urne zu öffnen. Der Waldelf hatte seinen Speer geschultert und befand sich offensichtlich in einem mitgenommenen Zustand. Sein vorher schulterlanges braunes Haar war jetzt zu Stummeln verbrannt. Halbohr, der in diesem Moment aus den Schatten hervortrat sah, dass Rasmus kurz seine Miene verdunkelte. „Seht ihr nicht was sich in der Urne befindet? Es ist ein Überbleibsel einer bösen Kraft. Es muss vernichtet werden, bevor es sich wieder erheben kann, um weiteren Schaden anzurichten.“ Der Paladin drehte sich in diesem Moment um und gab Loec einen barschen Befehl. Neire versuchte noch zu intervenieren. Er begann eindringlich zu sprechen: „Wir sind gekommen um euch zu helfen, doch nicht…“ Seine Worte kamen zu spät. Halbohr und Neire sahen, wie Loec bereits den Deckel der Urne löste und ein zischendes Geräusch durch das Gewölbe ging. Es war eine Wolke von grünlichem Gas zu erkennen, die sich rasch im Raum verteilte. Die Ereignisse überschlugen sich nun. Sie sahen, dass Rowa und Leoc aus dem Raum torkelten. Beide rieben sich die Augen, aus denen Blut strömte. „Wir sind hier“, sprach Neire in die Dunkelheit, als er sah, dass Rowa und Loec erblindet schienen. Rasmus aber war zurückgeblieben, atmete heldenhaft das Gift und entleerte die Flüssigkeit aus einer Viole in die Urne. Dann kam auch der Ritter torkelnd aus dem Raum hervor. Für Neire und Halbohr sah es einen Moment so aus, als ob sich in einem seiner Augen ein kleiner schwarzer Tentakel gebildet hätte. Zudem wischte sich Rasmus die blutigen Tränen aus dem Gesicht und leckte das Blut von seinem gepanzerten Handschuh, als ob es Honignektar wäre. Auch seine spitzen Eckzähne waren jetzt wieder zu erkennen. Rasmus, Rowa und Loec ließen sich ächzend nieder oder begannen nach einer Wand zu tasten. So verblieb Neire und Halbohr etwas Zeit die Urne zu untersuchen, denn sie hatten bemerkt, dass das grünliche Gas sich schon bald aufgelöst hatte. In der Urne waren neben Asche und menschlichen Überresten, das Glitzern von rötlichen Edelsteinen zu erkennen. Doch Halbohr wollte diese nicht bergen. Zu groß war sein Respekt vor dem Fluch des alten Grabes. So überkam die Neire die Neugier, denn er vermutete Feuersteine in der Urne. Er hielt die Luft an, als er nach den Steinen tastete und brachte tatsächlich drei Walnuss-große, funkelnde Rubine zum Vorschein, die er sogleich in einer seiner Gürteltaschen verschwinden ließ.

Das Leben kam in den Körper des großen Mannes zurück. Es war wie ein elektrisierendes Prickeln, das durch seine Extremitäten ging. Als ob Arme und Beine eingeschlafen wären. Nur langsam begann er - konnte er - seine Muskeln bewegen. Um ihn herum vernahm er modrige Luft; Schimmelpilz und Erde, Grabesfäulnis. Käfer krochen über sein Gesicht. Noch immer hatte er das Bild des Traumes vor sich, das er fieberhaft in allen Facetten wiederholt hatte; das er für eine lange Zeit nicht hatte überwinden können. Wie lange? Wieso jetzt? Waren das Geräusche, vielleicht Stimmen? Er ließ das Bild der knorrigen, zerborstenen Eiche von sich gleiten, wie eine alte, morsche Rinde. Er dachte nicht mehr an das Wurzelportal, durch das er geschritten war. Die Enge raubte ihm die Gedanken; die Enge trieb ihn in Panik, wie ein tollwütiges Tier. Dann hörte er sie wieder: Stimmen. „Hier,… hierher,…, hört mich jemand?“ Sein Gaumen war trocken und er schmeckte Erde auf seiner Zunge. Er begann gegen den Stein zu treten. In die Richtung, wo die Geräusche herkamen. Schließlich gab es ein Knacken und der Stein brach. Er begann sich frei zu graben. Alles ging so beschwerlich, so langsam. Schließlich brachte er sich hervor in das seltsame Licht, das ihn blendete. Merkwürde Gedanken suchten ihn heim. Wiedergeboren aus der Dunkelheit, wiedergeboren aus der Erde, der Fäulnis. Zurückgebracht in das Leben aus dem Grab. Er tastete nach seinem Speer mit dem heiligen Runenband. Als er diesen hervorzog, spürte er das Gefühl von gewohnter Sicherheit, einer alten Vertrautheit. Noch immer blendete ihn das Licht. Dann hörte er die Stimme: „Er lebt. Kommt und schaut. Es ist ein Überlebender.“ Trotz einer sonoren Kraft, war die Trunkenheit in der Stimme nicht zu überhören. Doch der Akzent war merkwürdig. Er war ihm nicht bekannt. „Lasst mich euch vorstellten. Mein Name ist…“ In diesem Moment wurde die tiefe, trunkene Stimme unterbrochen. „Mein Name ist Neire von Nebelheim und das ist Rasmus, Paladin aus Fürstenbad. Mit uns ist Halbohr, der Söldner. Ja, er besitzt wirklich nur noch ein Ohr. Ihr müsst wissen, wir bringen das reinigende Feuer unserer Göttin Heria Maki an diesen Ort, um ihn von niederen Göttern zu befreien.“ Die zweite Stimme klang knabenhaft, mehr nach einem Singsang, fremd und doch wohlklingend-bezaubernd. Ein Zischen, vielmehr ein Lispeln, war nicht zu überhören. Auch hier erkannte er den seltsamen Akzent nicht, der jedoch ein anderer war, als der der trunkenen Stimme. „Göttin, ha. Sprecht, für euch selbst Priester. Ich diene niemand anderem als mir selbst und meinem eisernen Gesetz.“ Die letztere Stimme, war näher und hatte einen elfischen Akzent. Er holte tief Luft, hustete den Staub aus seiner Lunge und ließ das stumpfe Ende des Speeres auf den Boden pochen, als er sprach: „Mein Name ist Gundaruk.“

Sie waren weiter in den Kerker vorgedrungen und hatten hinter einer Türe einen großen Tempelbereich entdeckt, der von Statuen und Schlachtszenen bestimmt war. Zur rechten Seite hatte sich eine Öffnung befunden, die sie in eine Grabeskammer geführt hatte. In der Mitte ragte eine große Felssäule auf und an einer von Fresken verzierten Wand waren Grabesnischen zu sehen gewesen, die von Steinplatten bedeckt waren und Buchstaben einer alten Sprache trugen. Hier hatten sie die Geräusche gehört und gesehen, wie der Überlebende, so hatte Rasmus ihn bezeichnet, aus einer der Grabnischen hervorbrach. Der Fremde schien geblendet zu sein von dem silber-blauen Licht, das von der Rüstung Rasmus’ ausging. So konnten sie ihn ungestört in seiner vollen Größe betrachten. Er überragte mit seiner hünenhaften Gestalt sogar Rasmus um mehr als eine Kopflänge. Der Fremde trug den Fellmantel einer Wildkatze, mitsamt dem verbliebenen Kopf des Luchses, den er sich als Schmuck bis weit über das Gesicht gezogen hatte. Gundaruk, so hatte er sich ihnen vorgestellt, war in eine Kleidung aus abgewetztem, hartem Leder gehüllt, unter der hier und dort der Stahl eines Kettenhemdes hervorblitzte. Er war von Moos, Erde und von schleimigen Resten eines grünlichen Pilzes bedeckt. Als er langsam begann sich an das Licht zu gewöhnen, konnten Neire und Halbohr grünlich aufblitzende Augen sehen, die die Umgebung mit fortgeschrittener Erfahrung musterten. Gundaruk fuhr sich mit der Hand durch den langen Vollbart, entfernte Erde und Schmutz, als Halbohr mit seinen Ausführungen fortsetzte. „Ich, Halbohr, halte mich nämlich an das Gesetz. Verträge sind da, um sie zu schließen und zu erfüllen. So wie mein Vertrag mit Neire. Verträge sichern gemeinsame Kampagnen. Im Krieg, wie im Frieden. Auch wenn hier jeder seine Lebensgeschichte auszuplaudern scheint, sollten wir uns auf das Wesentliche beschränken; wir sollten uns absichern. Auch ihr, Gundaruk, werdet einen solchen Vertrag mit mir schließen müssen, falls ihr überleben wollt.“ Während er sprach hatte Gundaruk die Streiter betrachtet. Den Jüngling mit dem feinen Gesicht und den gold-blonden Locken schien die Rede sichtlich zu stören. Gundaruk sah, wie Neire seine Augen rollte und bei den letzten Worten von Halbohr begann abfällig zu grinsen. Auch die gekreuzten Finger von Neire waren nicht zu übersehen, die er allerdings so zeigte, so dass sie nur er, Gundaruk, sie sehen konnte. Gundaruk ergriff seinen Speer und drängte an Neire vorbei. Er sah, dass der junge Priester in der feinen schwarzen Lederkleidung und dem roten Umhang mit schwarz-goldenen Stickereien seinem massiven Körper auswich. In diesem Moment richtete er seine Stimme an Neire: „Das wird schon werden, Kleiner.“

Als sie das dumpfe Pochen von Gundaruks Speer gehört hatten, den der Fremde gegen eine der Grabesplatten schlug, war die Stimmung wieder gekippt. Was zuvor als ein latentes Grauen, ein Verdrängen der offensichtlichen Veränderungen ihrer Körper und Umgebungen beschrieben werden konnte, war jetzt fortschreitender Verrücktheit und Panik gewichen. Gundaruk hatte bereits eine weitere Grabplatte zerstört, wobei sie dort nur Überreste in Form eines Skelettes gefunden hatten. Neire hatte sich in dieser Zeit um Rasmus gekümmert, dessen Haut seltsam kalt geworden war. Zudem murmelte der Paladin wirre Gedanken und hatte, so schien es, längst seine Beherrschung, wie auch seine Vernunft verloren. Als Rasmus sich umgedreht hatte und fast ein wenig hilflos nach Loec und Rowa rief, war Panik losgebrochen. Die beiden wald- und dunkelelfischen Mitstreiter waren schon seit einiger Zeit verschwunden und es war keinem aufgefallen. Sie waren dann alle in Richtung der Türe aus schwarzem Marmor gestürmt, die sie noch nicht geöffnet hatten. Neire, Halbohr und Gundaruk waren Rasmus gefolgt und sahen gerade wie er das Portal vor ihnen aufstieß. Dahinter offenbarte sich ein Bild von Größe und von Grauen. Sie erblickten eine kuppelförmige Halle, die die majestätischen Ausmaße eines inneren Sanktums hatte. Die Decke des gewaltigen Gewölbes war von schimmernden Sternen bedeckt, die im silbern-blauen Licht Rasmus‘ Rüstung fluoreszierend schimmerten. In der Mitte war ein Altar aus weißem Marmor zu erkennen, der die Schnitzereien von Humanoiden mit Fratzen und Fanzähnen trug. Hier und dort waren auf dem Altar dunkle Spuren erkennen, die eine längst vergangene, unheilige Benutzung erahnen ließen. Von der gegenüberliegenden Seite, wo Rasmus sich jetzt hinbewegte, sahen sie zwei bronzene Türflügel eines gewaltigen Portals. Von diesem Portal hörten sie wimmernde Laute der Furcht und sahen, dass Loec und Rowa dort lagen. Beide hatten sich in eine embryonal-ähnliche Haltung zusammengerollt und hielten sich die Hände über die Ohren. Auch Gundaruk drängte jetzt an Neire vorbei und betrat den Tempel der niederen Blutgöttin. Seinen scharfen halb-elfischen Augen entging nicht ein Schatten einer verborgenen Türe, die auf der linken Seite des Raumes lag. Als er die Position dieser Türe Neire mitteilte, mahnte der Jüngling Verschwiegenheit. Neire gab Gundaruk zu erkennen, dass sie alle den verfluchten Staub eingeatmet hätten, der sie jetzt unberechenbar machte. Gundaruk vermutete, dass nur er und Neire von der Position der Türe wussten. Er schritt vorsichtig weiter in Richtung des Altares. Als er näherkam, wurde er von Visionen heimgesucht. Gundaruk erblickte den alten Wurzelwald, durch den er so oft geschritten war. Doch eine Welle von Blut strömte auf ihn zu und riss alles nieder, drohte ihn zu zermalmen. Es nahm ihm die Luft zum Atmen. So groß wurde die Furcht, dass er in Panik aus dem Tempel herausstürzte und sein Heil in der Flucht suchte. Halbohr und Neire versuchten zwar ihn aufzuhalten, doch der massive Körper Gundaruks drängte vorbei. Nach kurzer Absprache folgte Halbohr Gundaruk, während Neire weiter in der geöffneten Türe stand und Rasmus beobachtete. Der Ritter schien jetzt völlig den Verstand verloren zu haben. Torkelnd und schwankend schritt er um seine beiden Mitstreiter herum und schrie gellend Befehle, das Grab zu stürmen. Als Loec und Rowa keine Reaktion zeigten, begann Rasmus mit seinen Stiefeln nach ihnen zu treten. Diese Szenerie belustigte Neire. Er dachte an die seltsamen Konventionen des oberirdischen Umgangs, die er von Rasmus in den letzten Tagen gelernt hatte. Doch nun schien Rasmus sie alle abgelegt zu haben und gab seinen niederen Instinkten nach. Als der Paladin zuerst Rowa und Loec nach ihren Weinschläuchen durchsuchte, überkam Neire sogar ein Gefühl der Sehnsucht. Er wollte mitmachen, den Wein trinken, vergessen und sich gehenlassen. Er dachte zurück an seine Zeit in Nebelheim, an seine Zeit mit Lyriell. Als Rasmus beide Weinschläuche leergetrunken hatte, konnte sich der Ritter kaum noch auf den Beinen halten. Jetzt waren auch Halbohr und Gundaruk wiedergekommen. Sie sahen die Szenerie und Halbohr begann zuerst Rowa, dann Loec aus dem Raum zu bergen. Als er die beiden Mitstreiter in den Gang geschleift hatte, hörten sie alle einen gurgelnden Kampfschrei durch das Gewölbe hallen. Rasmus hatte sich in eine Angriffshaltung begeben und stürmte schwankend, sich kaum auf den Beinen haltend, in überwältigender Verrücktheit, auf den Altar zu. Er schwang die gewaltige Waffe mit dem stumpfen Ende voran. Als dieses Ende, welches eine silberne Kugel darstellte, auf den Altar prallte, hörten sie ein Krachen, ein Bersten von Stein und Stahl. Neire hatte den Angriff kommen gesehen und dem Wahnsinn in die Augen geblickt. Er duckte sich hinter der schwarzen Steintüre in die Schatten.

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