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Reading Challenge 2025

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Sard:

--- Zitat von: angband am  8.05.2025 | 19:45 ---Danke für diese tollen Empfehlungen, sie landen gleichmal auf meiner länger werdenden Shortlist :)

--- Ende Zitat ---

 :headbang:

Menthir:
#14 Colin Crouch - Postdemokratie

Ich habe die deutsche Erstausgabe gelesen und nicht die revisited-Version. Das hat einen Grund. Ich wollte die ursprüngliche Variante haben, um sie selbst mit dem Ist-Zustand im Jahr 2025 zu vergleichen. Und es lässt sich festhalten, dass sowohl der Originaltext aus dem Beginn des Jahrtausends, als auch die deutsche Erstausgabe von 2008 eine verblüffend eingängige Beschreibung des Ist-Zustands 2025 machen.

Für jene, die sich mit dem Theoriegebilde nicht so sehr auseinandersetzen, vielleicht der Versuch einer kurzen Definition: Postdemokratie ist ein politischer Begriff, der die Verformung oder die Entropie (sprich Verfall) demokratischer Institutionen in modernen Gesellschaften beschreibt, wobei die formalen Strukturen der Demokratie erhalten bleiben, der demokratische Prozess aber zunehmend aushebelt wird.

Die Verzwickungen zwischen Lobby und Politik, die Reduzierung der Parteibasen zu soliden Stimmmaßen ohne zu tiefe Einbindung, die Identitätspolitik rechter Gruppierungen, die Käuflichkeit durch Unternehmen und Milliardäre. Viele dieser Entwicklungen, denen ja auch die AfD entstammt und von denen die AfD beeinflusst ist, waren damals schon diskutiert und augenscheinlich. Diese Entwicklungen haben sich seitdem aber deutlich verstärkt; die aktuelle Situation der USA ist ein besonders deutliches Bild davon.

Für mich - als Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes - ist vor allem das Kapitel über die Aushöhlung der Kompetenzen des öffentlichen Dienstes durch die Angleichung an privatwirtschaftliche Gebaren und Methoden offenkundig gewesen. Ich kann den Abgleich als zutreffend beschreiben, nachdem ich mich auch selbst mit unzähligen Unternehmensberatungen auseinandersetzen durfte und deren halbgare Ergebnisse immer wieder auffangen oder auch nur ertragen durfte. Diese Divergenz zwischen Planungs- und Fachebene geht aus der persönlichen Anschauung natürlich weiter als in diesem 160-seitigen Büchlein, aber Crouch hat sich auch da als scharfsinniger Beobachter erwiesen.

Ich kann jedem, der sich politikwissenschaftlich, rein politisch oder auch nur ansatzweise historisch oder philosophisch mit der Idee der Entropie der Demokratie beschäftigt, nur wärmstens ans Herz legen, dieses kurze Werk zu lesen und dann in die Diskussion über diese wichtige Thema einzusteigen.

9 von 10 Punkte.

Menthir:
#15 Adrian Tchaikovsky - The Tiger and the Wolf - Echoes of the Fall #1

Ich bin in meiner Bewertung hin- und hergerissen, denn einerseits ist es eines der am klügsten konstruierten Fantasybücher, die ich in einer langen Zeit gelesen habe. Die Geschichte hat Hand und Fuß, erstreckt sich für die Protagonistin zusammenhängend von der Einleitung bis zur befriedigenden Auflösung des ersten Buches. Der Weltenhintergrund, der sich dabei entspinnt, ist in seiner inneren Logik nachvollziehbar, und wird auch durch die Geschichte passend präsentiert, weil es immer wieder eine Rolle spielt und das Wissen über die Welt, welches man gewinnt, und die fortschreitende Geschichte sich gut ergänzen. Wenn wir davon ausgehen, ist es ein mindestens gutes Buch.

Andererseits waren die ersten knapp 300 Seiten so leidenschaftslos, dass ich über ein Jahr und diverse Anläufe gebraucht habe, um mich durchzukämpfen. Ich bin diesen Urlaub jetzt hart mit mir ins Gericht gegangen und habe mir dann tatsächlich Arbeitszeiten gesetzt, um das zu schaffen. Das muss nur bedingt was mit dem Werk zu tun haben, aber da ich mich normalerweise nicht so schwer tue, hat es zumindest mich nicht getroffen. Viel der Vorgeschichte ist jedoch wichtig, um dem Ende seine Stärke zu verleihen.

Wenn das Buch dann ins Rollen gekommen ist, kann man es gut zu Ende lesen. Man bekommt ein bronzezeitliches Shapeshifter-Setting mit einigen spannenden Ideen, einigen Klischees und einer sich stark um die Protagonistin entfaltende Geschichte, sie sich sogar belohnend zu Ende lesen lässt. Dafür opfert er aber die Geschichten der anderen, deutet sie immer nur als tiefer an, ohne sie tiefer entstehen zu lassen. Dadurch wirkt das Zusammenspiel der Helden oftmals etwas aufgesetzt, oder zumindest oberflächlich, obwohl es dort viel Potenzial gegeben hätte. Das hätte aber vielleicht ein langes Buch überlang werden lassen.

Am Ende bleibt der Eindruck, dass die erste Hälfte des Buches pure Arbeit ist, zurück. Das gut erzählte Ende, auch wenn es zu sehr auf die Protagonistin verengt ist, macht für mich insgesamt ein gerade noch akzeptables Buch daraus.

5 von 10 Punkte

Menthir:
#16 Norbert Ohler - Reisen im Mittelalter

Dieses Werk von 1986 gilt nach wie vor als Goldstandard über das Reisen im Mittelalter, zumindest was ein Werk an der Grenze zwischen Historiographie und Populärwissenschaft angeht. Ich habe Auszüge davon immer mal im Laufe meines Grundstudiums Geschichte am Wickel gehabt, da es Teil des Grundlagenseminars über Mittelaltergeschichte an meiner alma mater war.

Das Buch ist auch nach fast 40 Jahren noch gut lesbar, sehr konzise in seinen Zusammenfassungen, dabei aber nicht langatmig oder zu statistisch. Es ist m.E. ein klassisches Einstiegswerk in die Thematik, und als solches auch mit Gewinn zu lesen.

Ohler beginnt mit den natürlichen und klimatischen Grundlagen: Er beschreibt Gezeiten, Meeresströmungen, Jahreszeiten sowie die Bedeutung von Raumgliederung und Topografie für Land- und Seeverkehr.

Im ersten Teil erläutert er Transportmittel (Reit-, Zug- und Lasttiere; Schiffe, Wagen, Sänften), die Organisation von Infrastruktur (Straßen, Brücken, Fähren, Hospize) und die Rolle von Recht und Herrschaft bei der Gewährleistung von Sicherheit und Wegenutzung. Gastfreundschaft und Herbergen (Klöster, Xenodochien, städtische Gasthäuser) sowie das Nachrichtensystem (Botenwesen, Handelsnetzwerke) bilden weitere Schwerpunkte.

Der zweite Teil widmet sich zeithistorischen Fallstudien und Quellen: Missionsreisen des Bonifatius, Das Reisekönigtum Karls des Großen, Päpste und wandernde Bischöfe, die Nordmänner (Wikinger) und die christliche Mission im Frühmittelalter. Auch Kreuzfahrer, Pilger und Handelsleut zu Wort, bis hin zu Reisenden wie Marco Polo, Battuta und Kolumbus, die den Blick über Europa hinaus erweiterten.

Ohler betont, dass trotz großer Mühen und Gefahren jährlich Tausende unterwegs waren – vom einfachen Pilger bis zum mobilen Königshof. Er zeigt, wie Reisen das Weltbild erweiterte und kulturelle wie wirtschaftliche Vernetzungen förderte. Oder auch Vorurteile verstetigte.

Gerade für Rollenspieler nach wie vor eine Fundgrube.  :)

7 von 10 Punkte

Menthir:
#17 John Burnside - Wie alle anderen

John Burnsides „Wie alle anderen“ ist die Fortsetzung seiner romanhaften Autobiographie „Lügen über meinen Vater“ und schildert ungeschönt, aber in schöner Prosa seinen Kampf mit Alkohol‑ und Drogenabhängigkeit sowie einer formellen Schizophrenie-Diagnose in den 1980er‑Jahren. Nachdem er Zeuge der Gewalt und Sucht seines Vaters wurde, erkennt er, dass er selbst auf demselben zerstörerischen Pfad ist: Er rutscht von Rausch zu Rausch, hört Stimmen und verliert zunehmend den Bezug zur Realität.

Um der Abwärtsspirale zu entkommen, fasst Burnside den Entschluss, „wie alle anderen“ zu leben – ein bürgerliches Dasein mit geregelter Arbeit und vermeintlicher Normalität. Er beginnt als Gärtner, erhält u.a. überraschend eine Stelle als Programmierer im Landwirtschaftsministerium und versucht, sein Leben zu ordnen. Alles ist an eine Utopie des Vorstadtlebens gekoppelt. Doch die psychischen Erkrankungen setzen ihn weiterhin unter Druck und zeigen, wie schwer es ist, innere Dämonen zu bekämpfen. Am Ende bleibt die Frage nach echter Zugehörigkeit: Kann er wirklich „normal“ sein, oder bleibt die Suche nach Normalität eine Illusion?

Das ist sozusagen die Grundbedingung diesen lebensweisen Buches, welches im Übrigen auf der Suche nach Normalität scheitert und erst in der Annahme der Nichtnormalität einen Weg aufzutun scheint.

Das Ganze ist ansprechend geschrieben und übersetzt sowie kulturell verwoben.

Eine spannende, anrührende Lektüre.

8 von 10 Punkte

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