Autor Thema: Versuch einer Charakterisierung von Spiel(leitungs)stilen.  (Gelesen 94 mal)

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Offline Zed

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Ganz ähnlich wie SigmundFloyd habe ich die Vorstellung, dass es Aspekte des Rollenspieles gibt, die manchmal im Widerspruch zueinander stehen. Wie Du als Spielleitung dann diese Widersprüche auflöst, ist, wie Du als SL charakterisiert werden kannst.

(Dafür musst Du für Dich und auch für uns festlegen, welche Art von Spielleitung Du gerade vertrittst.)

Aspekt "Spielspaß für alle"
"Spielspaß für alle" bezieht die Spielleitung natürlich mit ein. Auf dieser Ebene finden sich
• Ernsthaftigkeit, Humor und ihre Mischung zueinander
• dramaturgische Elemente wie Spannung und Überraschung
• Player Empowerment
• das Verhältnis von "Kampf" zu "diplomatischen Situationen" zu "taktischen Planungen und Rätseln"
• implizite und explizite Gruppenvereinbarungen zu dem, was man als gesamte Spielrunde spielen möchte

Aspekt "Konsistenz der Spielwelt"
Eine große Freude ist zu spüren, wenn gemeinsam erschaffte Spielrealität zu leben beginnt. Die höchste Form dieser lebendigen Spielrealität ist für mich ein Flowerlebnis, wenn ich als Spielleitung das Gefühl habe, die Spielwelt selbst zu erleben und diese Welt quasi "auf eigene Ideen kommt", die ich nurmehr beschreibe.

Ihre Konsistenz ist, denke ich, eine wichtige Voraussetzung für eine sich so lebendig anfühlende Spielwelt. Die Regeln der Welt dürfen sich nicht allzu eklatant widersprechen: Eine märchenhaftere Welt kann sich sicher mehr Inkonsistenzen leisten als eine, die auf hohen Detailgrad wert legt. Während für manche Leute Dungeons einfach Dungeons sind (vielleicht sogar zufallsgeneriert), ist für andere ein Dungeon ein eigenes Biotop mit biologischen Kreisläufen und einer sinnigen Entstehungsgeschichte.

Aspekt "Die Regeltreue"
Sie bildet eine Basis für gemeinschaftliches Handeln. Sie bieten Orientierung, ob eine Idee reine Phantasie oder Willkür ist, oder ob sie schlicht genial ist.


Gibt es noch mehr wichtige als diese drei Aspekte? Bitte melden!


Interessant wird es, wenn diese drei Aspekte aufeinander clashen, und daran können wir, denke ich, aufzeigen, wie unterschiedlich Spielleitungen ticken:

Clash 1: Konsistenz der Spielwelt versus Spielspaß
Es gibt sicher Situationen, in denen es heißt: Entweder Konsistenz aufrecht erhalten oder Spielspaß einschränken. Beispiel: In einer Proberunde von meinem "Beyond Time" fragte ein Spieler, ob es denn keine Insektoiden als spielbares Volk gäbe. Gibt es nicht. Ich hätte nun sagen können, dass in der entfernt liegenden Insel doch eine spielbares Insektenvolk lebt. Damit hätte ich den Spielspaß des einen Spielers höher priorisiert als (zu dem Zeitpunkt noch) meine Vorstellung der Welt von Beyond Time Eon. Aber ich wollte zu dem Zeitpunkt meine Vorstellung von der Welt Eon ohne Insektenvolk beibehalten. Ich bot ihm an, dass er ein Individuum spielen kann, das ein einzigartiger Insektoid ist, aber kein Angehöriger eines ganzen Volkes. Das Angebot werte ich als Kompromiss auf Beinahe-Augenhöhe, aber im Zweifel habe ich hier die Konsistenz als höher angesetzt als den Spielspaß des Spielenden.

Anderes Beispiel: Ich lasse meiner Gruppe viel Freiraum, ihre nächste Queste selbst zu suchen und auch ihr Pacing selbst zu bestimmen. Aber ich will nicht ausschließen, dass, wenn meine Gruppe sich wirklich mal festgefahren hat und nicht von der Stelle kommt, dass ich dann einen Impuls hineingebe: den Hilferuf eines Verbündeten oder den Angriff einer gegnerischen Partei. Hier verstoße ich nicht gegen die Konsistenz der Spielwelt für den Spielspaß, aber ich instrumentalisiere die Spielwelt für den Spielspaß.

Clash 2: Regeltreue versus Spielspaß
Eine Regel beeinträchtigt grundsätzlich den Spielspaß, der der Gruppe wichtig ist? Dann kann hier eine Hausregel helfen - und dies wäre ein Beispiel von "Spielspaß übertrumpft Regeln". Es kann aber auch sein, dass die Gruppe oder die Spielleitung das System "vanilla" spielen möchte oder muss (wie bei einem Turnier-One-Shot), keine Hausregeln erwünscht sind, dann bleiben die Regeln unangetastet.

Eine Regel steht in diesem Moment dem Spielspaß entgegen? "Rule of Cool" gelten lassen? Oder lieber keinen Präzedenzfall schaffen, der später nur für Diskussionen sorgt? Bist Du im Zweifel Team "Regeltreu" oder Team "Spielspaß"?

Clash 3: Konsistenz der Spielwelt versus Regeltreue
Vielleicht ist der Kern der bislang unbesiegten syradonischen Hauptstadt die "Uneinnehmbare Burg". Es gilt in der gesamten Welt, dass sie militärisch noch nie eingenommen wurde. Und nun kommt Deine Gruppe daher und hat die Zauber im Gepäck, die Du Dir nicht ausreichend durchgelesen hattest: Erdbeben hervorrufen; Stein in Matsch verwandeln; gewaltige Erdelementare beschwören und so weiter. Plötzlich ist der Kern der Hauptstadt so verwundbar wie ein rohes Ei.

Oder Du improvisierst einen Schutzzauber der 10. Spruchstufe (Zauber, die es nicht mehr gibt), der einst megateuer war, der aber die Burg vor Angriffen dieser Art schützt. Damit "rettest" Du die Spielwelt vor der Frage, warum die Burg nicht in den drei stattgefundenen, heftigen Magiekriegen längst ausgelöscht worden ist. Aber so richtig regeltreu ist diese Lösung nicht.

Oder Du vertraust Deinem Regelsystem so sehr, dass mit dem System eine Welt kreierbar ist, die so funktioniert, wie Deine Vorstellung es gerne hätte. Im Zweifel ist die Burg nicht uneinnehmbar, und die bisherigen Magiekundigen in den Magiekriegen waren ... nun ... zu dumm, um die richtigen Zauber einzusetzen!?


Zur Charakterisierung Deines Spielstiles würdest Du als SL also zuerst beschreiben, aus welcher SL-Sicht Du gerade sprichst. Dann würdest Du die drei Clashes abwägen, und schließlich als Fazit Deine Priorisierung der drei Aspekte durchführen.

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I'll go first:

Meine Gruppe und ich
Ich spreche aus der Sicht eines Spielleiters, der seit 30 Jahren mit seiner Gruppe vier Mal im Jahr an dergleichen Kampagne in einer selbstkreierten Welt mit dengleichen Figuren spielt. Viele Entscheidungen über die nächste Quest und zum Pacing überlasse ich der Gruppe, aber ich als SL möchte ihnen immer mal etwas neues, interessantes, spannendes bieten, und sie die Geheimnisse der Welt nach und nach aufdecken lassen.

Bei den Clashes halte ich mich kurz, weil einige der Beispiele oben direkt auf mich und meine Gruppe zutreffen.

Clash 1: Konsistenz der Spielwelt versus Spielspaß
Das ist der Clash, bei dem beide Aspekte eigentlich gleichstark beieinander liegen. An der Konsistenz der Spielwelt mit all ihren Geheimnissen, Dynamiken und NSCs hängt mein Herz stark, sie sind, was ich als SL in das Spiel einbrige. In der Praxis fallen mir keine Clashes ein, bei der ein Gruppenmitglied sagte, dass es gerne etwas [absurdes] hätte, das für mich nicht in die Spielwelt passt. Ich würde sogar sagen, dass das Entdecken der Welt ein Großteil des Spaßes der Gruppe darstellt. "Gewinner": In der Praxis geht die Konsistenz der Spielwelt vor, weil es bei uns keine Konkurrenz zum Spielspaß gibt. 5 : 5 für Konsistenz der Spielwelt versus Spielspaß.

Clash 2: Regeltreue versus Spielspaß
Früher hätte ich leichtfertig die Regeltreue über Bord geworfen, wenn es in meinen Augen dem Spielspaß gedient hätte. Heute bin ich da viel vorsichtiger. Weil unser Spieler Tim ein äußerst sympathischer Powerplayer ist, der die drei anderen der Gruppe viel mit einbezieht, schöpft die Gruppe viel Spielspaß aus seinen ausgeklügelten Zauber- und Psi-Kräfte-Kombos.

Auf der anderen Seite liege ich im Grundsatz über Kreuz mit Divinationen. Das greift ein wenig auch in meine Vorstellung der Konsistenz der Welt mit ein. Ich möchte, dass die Gruppe sich persönlich "in Gefahr bringt", um Dinge auszuspionieren, denn das sind Abenteuer, die in meinen Augen Helden erleben sollten. "Detect Magic", "True Seeing" und "Locate Object" gibt es noch, aber keine "Locate Creature" oder "Arcane Eye". Das ist mit der Gruppe natürlich ausgehandelt worden.

Auch das ist ein knapper Ausgang, aber im Zweifel - wenn auch nicht leichtfertig - würde ich dem Spielspaß den Vorzug geben. 6 : 4 für Spielspaß.

Clash 3: Konsistenz der Spielwelt versus Regeltreue
Hier kann ich sagen: Soviel Vertrauen, dass irgendein Regelsystem die Fähigkeit hat, uns unsere Spielwelt zu 100% zu ermöglichen, habe ich nicht. "Beyond Time" soll so Regelwerk werden, aber das ist noch lange nicht fertig.

Jedes existierende System hat irgendwo Stellen, die sich für mich nicht mit der Spielwelt vereinbaren lassen. Darum: Regeln müssen für die mir wichtige Spielwelt passend gemacht werden. 7 : 3 für Konsistenz der Spielwelt.

Fazit
Meine Priorisierung als SL meiner aktuellen Gruppe der drei Aspekte sind

1. Konsistenz der Spielwelt
2. Spielspaß*
3. Regeltreue.

*Klar ist, dass der Spielspaß eine Art Vetorecht hat. Aber ich habe das Glück, dass meine Gruppe die Spielwelt mag und aus ihr viel Spielspaß schöpft, daher ist die Konsistenz der Spielwelt zugleich extra Spielspaß für alle.
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Würde ich in einer mir unwichtigen, beliebigen Welt leiten, dann sähe die Priorisierung ganz anders aus: 1. Spielspaß; 2. Regeltreue; 3. Konsistenz der Spielwelt

Offline Weltengeist

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Netter Ansatz, solange man (wie du es tust) die Aspekte nicht "true or false" bewertet, sondern graduell.

Allerdings finde ich "Spielspaß" in seiner Allgemeinheit ein ganz heikles Konzept, wenn 3-7 Spieler plus ein Spielleiter am Tisch ihr Recht auf Spielspaß einfordern und jeder was anderes darunter versteht. Siehe Spielertypen nach Laws, siehe verschiedene Spielleitervorlieben, siehe verschiedene Regelsysteme usw.
On Probation.

Offline Zed

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Überarbeitungen sind willkommen!

Das Fazit alleine jedenfalls ist nicht aussagekräftig genug, man muss sicher auch die Clash-Texte lesen.

Es könnte vielleicht auch helfen, für die Clashes Standardsituationen zu finden, an denen man sich orientiert.

Genau: Mit den „X : Y“-Ausgängen der Clashes habe ich versucht, Graduelles abzubilden.

Offline Maarzan

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Ich würde noch eine Unterscheidung zwischen Vorbereitungsbereichen und Spielbereichen sehen.
In vielen  Fällen (aber nicht immer) kann ich in vielen Fällen bei Kram, der vor Spielbeginn aufkommt noch entsprechend flexibel anpassen. Oder auch in noch nicht angesprochenen Bereichen zwischen Spielrunden.

Aber wenn das in-time während des Spiels geändert werden soll bin ich da erheblich unflexibler.

Und bezgl. Spielspaß: Die Runde ist ja kein Hivemind - da kann eine Maßnahme für den erhöhten Spielspaß des einen den Spielspaß eines anderen dann gefährden. In dem Sinne kann "Spielspaß" nur als abgesprochener Kompromiss in die Gleichung kommen.
Storytellertraumatisiert und auf der Suche nach einer kuscheligen Selbsthilferunde ...