Wie hoffentlich hieran klar wird: Es gibt keine klare Grenze, bei der durch die Einführung von Erzählrechten Kriminalabenteuer auf einmal nicht mehr funktionieren. Es mag intuitiv so erscheinen, aber wie bei vielen Dingen, die neu sind: Gefühlsmäßig fühlt es sich komisch an, weil es ungewohnt ist. Aber wenn man es dann mal logisch durchdenkt stellt man fest, dass diese Gefühle unbegründet sind.
Das "Es gibt keine klare Grenze" wird glaube ich keiner abstreiten, und ich finde dein Beispiel auch ganz anschaulich. Zuerst einmal würde ich nicht bestreiten, dass das von dir beschriebene Beispiel eine Reihe von gelungenen Sitzungen darstellen kann, in deren Verlauf die SC Kriminalfälle lösen. Spricht also nichts dagegen, es genauso zu handhaben.
Jetzt kommen wir aber zu dem Spezialfall (um es noch mal zu betonen:
Spezialfall), dass du einen oder mehrere Spieler in der Gruppe hast, denen es explizit auch als Spieler (nicht nur als SC) darum geht, einen Fall zu lösen. Das setzt mehrere Dinge voraus: Es muss eine feste Abfolge von vergangenen Ereignissen geben, und diese Abfolge muss anhand von erspielbaren Hinweisen logisch rekonstruierbar sein.
Diese Voraussetzung ist mit deinem Kriminalfall A anfangs gegeben. Von daher können die entsprechenden Spieler also an der Aufklärung des Falls arbeiten und zufrieden sein.
Wenn jetzt Fall B durch eine Spielerin ins Spiel gebracht wird, kann das Konflikte mit den Aufklärer-Spielern bringen - muss es aber nicht. Ein Problem tritt dann auf, wenn die von der Spielerin eingebrachten Elemente Fall A tangieren (evtl. auch ohne Wissen der Spielerin). Wenn sie einbringt, dass der Sohn des Grafen vor drei Jahren im Irak beim Militär gedient hat, es aber für Fall A entscheidend ist, dass er genau zu der Zeit eine Expedition in den Himalaya unternommen hat, dann kann das beispielsweise dazu führen, dass die Hinweisstruktur von Fall A für die Aufklärungsspieler nicht mehr entschlüsselbar ist, weil sie widersprüchlich geworden ist.
Das Problem lässt sich noch relativ einfach lösen, indem man der SL ein Vetorecht gibt, das einfach mit "Sorry, das berührt Fall A" begründet werden kann. Damit flaggt die SL natürlich auch einen gewissen Aspekt als irgenwie wichtig (die Spieler fangen jetzt erst vielleicht an, sich dafür zu interessieren, was der Sohn des Grafen vor drei Jahren getrieben hat), aber das muss nicht schlecht sein - im Gegenteil, eventuell kann dadurch auch die Ermittlung wieder in Fahrt kommen.
Wenn Fall C ins Spiel kommt, sieht es genauso aus ... wobei ich anmerken würde, dass der Reiz des Spielens mit verteilten Erzählrechten über den Hintergrund für die meisten ja gerade darin besteht, nicht einfach nur immer neue Elemente (Kriminalfälle) einzuführen, sondern darin, die schon im Spiel befindlichen Bälle aufzunehmen und ihnen einen neuen Dreh zu geben. Wenn alle Spieler immer nur ihre eigene Erzählbaustelle bearbeiten, dann wäre das auf die Dauer (für mich) ein etwas trostloses Nebeneinanderherspielen. Das heißt: Wenn schon zwei andere Handlungsstränge ins Spiel gebracht und dabei neue Fakten über die Spielwelt werden, dann wird das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Hinweisstruktur von Fall A stark beeinflussen - womit es den Aufklärungs-Spielern dann wieder unmöglich wird, als Spieler einen Fall wirklich zu lösen, weil sie es entweder mit widersprüchlichen Informationen zu tun bekommen oder davon ausgehen müssen, dass die Hinweisstruktur, aus dee sich die Ereignisse von Fall A erschließen lassen (und damit zwangsläufig auch die Ereignisse von Fall A selbst), von der SL ständig "on the fly" an die neue Faktenlage angepasst wird.
Für die meisten Spieler ist das vielleicht kein Problem. Dem Spieler aber, der explizit "ein Kreuzworträtsel lösen" will, wird spätestens an diesem Punkt klar, dass eben das nun nicht mehr möglich ist - von jetzt an wird auch für ihn das Rekonstruieren von Ereignissen zwangsläufig durch eine Beteiligung an der Konstruktion von Ereignissen ersetzt. Er weiß nun, dass erst die von ihm über Fall A in Erfahrung gebrachten Fakten Teil der Spielweltwirklichkeit sind, während alles andere sich potenziell noch ändern kann.
Gehen wir aber einmal davon aus, dass Fall A, B, und C tatsächlich komplett nebeneinander her laufen und das für den oder die Aufklärungs-Spieler auch ersichtlich sind, sie also ihren Kreuzworträtsel-Wunsch weiter erfüllt bekommen. Spätestens in der letzten Phase deines Beispiels, wo die Vorbereitung für Fall A wegfällt und das Spiel nur noch um Fall B und C geht, sind diese Spieler wieder raus bzw. müssen sich auf etwas anderes einlassen, nämlich die gemeinsame Konstruktion einer Kriminalgeschichte im Gegensatz zur Aufklärung eines vorab konstruierten Kriminalfalls.
Das muss nun nicht schlecht sein, und vielleicht stellen die Aufklärungs-Spieler sogar fest, dass es ihnen Spaß (vielleicht sogar mehr Spaß) macht, Fälle mitzukonstruieren, als sie einfach aufzuklären.
Es gibt aber auch Spieler, die wollen explizit vorher festgelegte Ereignisse aufklären, weil sie es als Herausforderung betrachten, aus einer Hinweisstruktur logische Schlüssse zu ziehen und zur einzig wahren und vernünftigen Erklärung zu gelangen - und für die bricht die Freude am Spiel in dem Moment zusammen, in dem sie wissen, dass es überhaupt keine einzig wahre Erklärung gibt. Das kannst du mir ruhig glauben, ich kenne solche Spieler (auch wenn ich selbst nicht zu ihnen gehöre).
Was daraus jetzt hoffentlich klar wird: Nein, natürlich gibt es keinen absoluten Gegensatz zwischen Spieler-Erzählrechten, die über die Handlungen des eigenen SC hinausgehen und Ermittlungsabenteuern. Es gibt aber einen Konflikt zwischen dem Wunsch, während des Spiels von Spielerseite neue Fakten über die Spielwelt zu schaffen und dem Wunsch, eine vorher festgelegte Ereignisfolge durch logische Schlussfolgerung anhand der ermittelbaren Hinweise zu rekonstruieren. Mann kann beides bis zu einem gewissen Grad vermitteln (beispielsweise durch das angesprochene Vetorecht der SL, wenn etwas Fall A berührt); dann muss man sich aber in jedem Fall Gedanken darüber machen, wie entsprechende Konflikte gelöst werden.
Die einzige andere Alternative wäre so eine Art "erweiterter Illusionismus", wo manche Spieler erweiterte Erzählrechte haben, die Aufklärungs-Spieler aber nichts davon erfahren (und die Spieler mit den erweiterten Erzählrechten ihre Ideen heimlich einbringen, indem sie etwa zum Flüstern mit der SL rausgehen). So könnte man dann mit viel Täuschungsaufwand die Aufklärungs-Spieler möglicherweise in dem Glauben lassen, dass sie bekommen, was sie wollen (einen für sie als Spieler zu lösenden Fall), während gleichzeitig die anderen neue Fakten schaffen können. Das wäre aber ziemlich unpraktikabel und zwischenmenschlich ehrlich gesagt auch ziemlich ätzend, finde ich ...
Ich komme mir auch langsam ein bisschen doof vor, da ich ja selbst ganz gerne mit Spieler-Erzählrechten spiele (darüber streite ich mich ja hier mit Marzaan), hier aber lang und breit erkläre, warum Spieler-Erzählrechte in einem bestimmten Spezialfall (Herausforderungsorientierte Ermittlungsabenteuer, bei denen die Spieler einen Fall lösen wollen - nochmal: gemeint sind NICHT Ermittlungsabenteuer, bei denen die SC einen Fall lösen will) zum Problem werden. Ich habe ohnehin schon ewig nicht mehr so geleitet oder gespielt, dass dieses Problem entstehen würde. Ich finde es aber auch blöd, die Spieler-Erzählrechte als eierlegende Wollmilchsau darzustellen, mit der im Rollenspiel einfach alles geht. Bestimmte Arten von Spielregeln ermöglichen bestimmte Spielweisen und stehen anderen im Weg.
System does Matter, um die alte Forge-Keule auszupacken. Mit den Regeln von Fiasco wird es schwer, ein Dungeon-Turnierabenteuer zu spielen (es sei denn, man wählt sehr ausgefallene Siegbedingungen), und mit FATE wird es ohne Anpassungen (oder freiwillige Beschränkung der Spieler) halt schwer, eine knallharte Ermittlung durchzuziehen, bei der die Spieler (noch mal: nicht nur die SC, sondern auch und vor allem die Spieler) Stück für Stück die Wahrheit aufdecken. Ist doch kein Beinbruch, das zuzugeben.
EDIT: Ich habe einen Teil des Zitats von dir fett hervorgehoben, um noch mal darauf hinzuweisen, dass ich nie behauptet habe, dass "durch die Einführung von Erzählrechten Kriminalabenteuer auf einmal nicht mehr funktionieren". Wie gesagt kann man mit Spieler-Erzählrechten ganz wunderbar Krimiabenteuer spielen, in denen die SC einen Fall lösen (auch das habe ich schon häufig gemacht, kürzlich z.B. mit Beyond the Wall, das einen recht geeigneten Welt- und Abenteuergenerator für so was hat). Der beschriebene Konflikt entsteht dann, wenn du Spieler hast, die in einem Krimiabenteuer
als Spieler einen Fall lösen wollen.