Grundregelwerk„Rückt mal näher, damit ich euch meine Geschichte erzählen kann...“Warum schreib ich diese (meine erste) Rezension? Zunächst, weil Feuersänger
hier darauf hingewiesen hat, dass in diesem Unterforum nicht mehr viel los ist. Und dann, weil ich mir Fantasy Craft vor Kurzem gekauft habe, nachdem ich viele positive Kritiken über das System gelesen habe und selbst herausfinden wollte, ob es denn tatsächlich das ist, „was 4e (oder 3.5) hätte sein sollen“, wie manchmal behauptet wird. Ich habe beim ersten Durchlesen viele Dinge gefunden, die mir vom Lesen her gut gefallen haben, was aber auch daran liegen kann, dass ich damals mit 3.5 sehr frustriert war. Aber ich werde hier zumindest versuchen, das Regelwerk etwas kritischer zu durchleuchten, um zu sehen, ob das Kind des Mastercraft-Systems seinen Urahn D&D überflügeln kann.
Layout„Es war einzigartig... eigentlich kann man kaum beschreiben, wie es war...“Fantasy Craft kommt als Hardcover geliefert, mit stabilen Seiten, allerdings nicht Hochglanz. Das Cover ist die einzige Farbe, die ihr im Buch finden werdet, also seht euch daran satt: Der Leser betrachtet eine Heldengruppe durch das Maul des Drachen, der die Gruppe und ihre toten Gegner vermutlich gleich einäschert. Vielleicht wollen die Autoren hier andeuten, dass sie viele Dinge in der Open Game License anders sehen als die D&D-Schöpfer? Stimmen würde es.
Die
Bilder im Buch sind, wie gesagt, alle schwarz-weiß, auch farbigen Text gibt es nicht. Die meisten Bilder sind rein schwarz-weiß und detailreich gestaltet, einige wenige arbeiten auch mit Grau und wirken etwas grober. Mein Favorit: Eine Elfen-Piratin mit Pistole in der Hand und Säbel zwischen den Zähnen, die sich an einem Kronleuchter festhält. Und ja, es gibt Pistolen im Equipment-Kapitel. Ein Kritikpunkt ist, dass im Bestiary weniger Bilder sind als in anderen, meist viel umfangreicheren OGL-Monsterhandbüchern – Bilder von Dridern, Rust Monstern oder dem Tarrasque muss man sich woanders suchen. Nett: Auf jeder Doppelseite sind am oberen und unteren Rand Szenen einer (immer derselben) Schlacht abgebildet.
Der Index ist recht detailliert, ein Tabellenverzeichnis – und es gibt viele – fehlt allerdings.
Spielwelt
„Ich hab in meinem Leben schon Länder gesehen, von denen ihr wahrscheinlich noch nie gehört habt.“Haben wir nicht, denn im Grundregelwerk GIBT es keine vorbereitete Spielwelt wie Golarion, FC sieht sich als Toolkit, mit dem Spielleiter ihre eigenen Welten bauen – davon handelt das gesamte 7. Kapitel. Wer Spielwelten braucht, muss den Zusatzband „Adventure Companion“ kaufen, in dem gleich drei sehr unterschiedliche grob ausgearbeitet sind.
Kapitel 1–5: Regeln für Spieler„Wenn ihr nicht lernt, wie die Welt funktioniert, dann wird euer Abenteuerleben ein sehr kurzes sein...“In der Charaktererstellung sind Attribute, Rassen, Klassen, Skills und Feats grundsätzlich D&D ähnlich, die zusätzliche „Specialty“ ist der Boni bringende Beruf vor der Abenteurerkarriere. Rassen und Klassen bringen neben Standard-Elfen und -Magiern Ungewöhnliches wie Drachlinge, Oger, Ents (alle large, wenig dungeon-geeignet), Courtiers (Verhandlungsspezialisten) und Sages (imitieren Fähigkeiten anderer Klassen). Nicht alle Klassen sind vordergründig auf Kampf ausgelegt – was ich persönlich gut finde: Soldiers und Lancers hauen besser drauf als alle anderen, Explorer sind hingegen eher Spezialisten für Rätsel und Courtiers für soziale Situationen, Sages und Mages können sich auf praktisch alles spezialisieren.
Arkane Magie funktioniert ähnlich wie PSI-Kraft in D&D 3.5: Magier haben Spell Points, mit denen sie eine bestimmte Menge Magie „bezahlen“ können, falls sie den jeweiligen Zauberkraft-Skill-Check schaffen. Göttliche Magie braucht keine Checks, ist dafür aber auf wenige von der Glaubensrichtung festgelegte Sprüche begrenzt - gewöhnungsbedürftig für Cleric-Spieler. Eine interessante Lösung für das „15-Minuten-Tag“-Problem von Castern ist folgende: Die Handlung in FC findet in „Szenen“ statt, und nach jeder füllen sich die Spell Points der Caster wieder auf. Szenen sind vom Spielleiter festgelegte, an Filmen oder Serien orientierte Handlungseinheiten, neue Szenen beginnen etwa, wenn man ein neues Gebiet betritt oder etwas dramaturgisch Wichtiges geschieht. Magie ist so generell etwas unzuverlässiger als in D&D (Skill-Checks), geht einem aber selten für lange Zeit aus.
Herausstechend im Equipment-Kapitel ist zunächst „Lifestyle“ – jede Klasse hat einen Wert, wie viel sie für Selbstpräsentation und Aussehen ausgibt, was Charisma-Boni bringt, und einen Wert dafür, wie viel Geld sie bis zum Beginn des nächsten Abenteuers anspart (der Rest des Geldes wird wie bei Conan verprasst). Wichtiger als Geld ist aber „Reputation“ – mit dieser Ressource „kauft“ man Titel, Kontaktpersonen, Immobilien oder magische Gegenstände, die mit Geld unbezahlbar wären. Ein sehr interessantes System, das aber einiges an Buchhaltung verlangt.
Der Kampf verläuft ähnlich (komplex) wie bei D&D, ohne Battlemap und Figuren dürfte auch FC kaum auskommen. Nicht-Zauberer haben generell etwas weniger Angriffe pro Runde als ihre 3.5-oder Pathfinder-Äquivalente, nutzen aber für alle den gleichen BAB, was für schnellere Kämpfe sorgen könnte. Für Abwechslung sollen Spezialattacken (neben Trip, Grapple etc. etwa auch „Taunt“ und „Distract“ für weniger kampfstarke Charaktere) und viele cineastische Kampftricks wie „Arrow Cutting“ und „Salt the Wound“ sorgen. An jedem Spieltermin bekommen Spieler und Spielleiter außerdem „Action Dice“ (können explodieren), mit denen sie eigene Würfelergebnisse erhöhen, eigene Crits oder Crit Misses von Gegnern bestätigen oder sich heilen können (wie Surges in 4e).
Kapitel 6–7: Regeln für Spielleiter
„Es gibt mächtige Wesen da draußen, die euch so mühelos zerquetschen können wie ich den Wirt, wenn mein Bier nicht bald kommt!“Das vorletzte, 80-seitige Kapitel des Grundregelwerks stellt das Monster Manual dar. 40 Seiten davon sind das eigentliche Bestiary mit vielen ikonischen Monstern der OGL wie Doppelgänger, Drachen, Oozes und Rakshasa. Den Rest nimmt eine Anleitung ein, wie man andere OGL-Monster aus z.B. Pathfinder konvertieren kann, und ein Baukastensystem: Alles von Size, Type über Dutzende „NPC Qualities“ und Angriffsarten bis zu Ausrüstung und optionalen Templates wie „Lich“ oder „Infernal“ hat einen XP-Wert, was nach dem Zusammenbauen der Einzelteile das XP-„Kopfgeld“ für das Monster ergibt. Mithilfe einer Tabelle oder dem kostenlosen NPC-Stat-Converter-Programm kann man jederzeit das Level dieses Monsters von 1–20 anpassen und so z.B. ein Monster mit den Helden eine Kampagne lang mitwachsen lassen. Ich hab's noch nicht ausprobiert, es wirkt aber beim Lesen recht schnell und intuitiv. Muss es auch sein, denn mit 40 Seiten ist das Bestiary gegenüber anderen Monsterhandbüchern ziemlich beschränkt, spezielle Monster oder wiederkehrende NPCs wird sich der Spielleiter fast alle selber bauen bzw. konvertieren müssen.
Das letzte, ebenfalls ca. 80 Seiten lange Kapitel ist das Spielleiter-Kapitel und könnte auch für Nicht-FC-Spielleiter nützliche Tipps beinhalten. Es beginnt mit den grundlegenden Fragen, die man sich stellen sollte, wenn man eine Spielwelt vorbereitet (von „wie fortgeschritten?“ - wichtig für Equipment - über „woran glauben die Menschen?“ und „wie funktioniert Magie?“ zu Geographie, Handel und Rechtssystemen). Bei der folgenden Anleitung, wie man FC-Abenteuer erstellt, stechen „Campaign Qualities“ heraus, so was wie Hausregeln wie „Dead means dead – keine Wiederbelebung (in dieser Szene)“ oder „Wild Magic – Magie kann positive wie negative Nebeneffekte haben“, die der Spielleiter permanent, aber auch temporär während des Spiels durch seine Action Dice einsetzen kann. Interessante Idee, für eine kurzfristige Regeländerung zu bezahlen und die Spieler so zu überraschen. Danach folgen noch einige optionale Regeln für z.B. Aktionsmöglichkeiten für Charaktere zwischen zwei Abenteuern, Kampfmoral oder die möglichen Folgen einer Helden-Wiederbelebung.
Fazit „Ich seh schon, ich kann euch nicht aufhalten. Aber ich hoffe wenigstens, dass ihr aus meiner Geschichte einige Lehren gezogen habt. Wer von euch zahlt nun mein Bier?“Kommt euch diese Rezension vollgestopft vor? Und trocken? Dann habt ihr jetzt ein Gefühl, wie sich das FC-Grundregelwerk liest. Das Buch bietet ein vollständiges und recht ausgefeiltes Regelwerk (Spielerhandbuch, Spielleiterbuch und Monsterhandbuch in einem) mit vielen meist logisch ineinander verschränkten Regeln – aber auf Kosten der Stimmung durch die fehlende Spielwelt. Auch die Rassen sind daher nur recht allgemein beschrieben, bei den Klassen sind zumindest einige kurze, unterschiedliche Hintergrund-Denkanstöße beigefügt. Die Feats haben noch manchmal etwas amüsanten Begleittext („Axe Basics – First the shield, the the squishy thing behind it!“), die Zaubersprüche liefern wie in Pathfinder zwar alle spieltechnisch relevanten Details, aber keinen Flavor-Text.
Auch sollte man vielleicht nicht alle Regeln im Buch in einem ersten Spiel verwenden, es sind einfach VIELE. Regeln für Kampfmoral? Drin. Regeln, wie man zwischen zwei Abenteuern Geld verdienen kann? Drin. Regeln, welche Auswirkungen eine Tasse Kaffee oder eine Flasche Rum auf die Charakterwerte haben? Drin. Regeln, wie sich Feuer- von Hitzeschaden unterscheidet? Drin. Beim Durchlesen haben mir diese scheinbar unwichtigen Kleinigkeiten sehr gefallen, ich bin mir bloß nicht sicher, ob ich im Buch nach einer bestimmten Tabelle suchen möchte, sobald ein Charakter ein Bier trinkt. Wobei ich sagen muss, viele dieser Regeln sind optional und man kann sie in einem kurzen Abenteuer wohl ohne größere Auswirkungen weglassen. Wodurch Fantasy Craft aber viel von dem verlieren würde, was es von anderen d20-Spielen abgrenzt.
Wem kann man das Grundregelwerk „Fantasy Craft“ also empfehlen? Hauptsächlich wohl Leuten wie mir, die gerne gut ausgearbeitete Regelsysteme lesen und sich nicht daran stören, dass der Spielwelt-Fluff fehlt – dafür muss man, wie gesagt, „FC Adventure Companion“ kaufen. Auch Leute, denen D&D außerhalb von Kämpfen zu wenige Regeln hatte, könnten hier einiges Interessantes finden (Courtier-Klasse, Regeln für den Ruf der Gruppe in der Spielwelt, für Kontaktpersonen, für Beschäftigungen zwischen Abenteuern...). Auch scheint zumindest vom Lesen her die Macht-Schere zwischen Castern und Nicht-Castern in FC nicht so weit auseinanderzuklaffen wie in 3.5 oder Pathfinder. Leuten, denen D&D schon komplex genug bzw. zu viel Bookkeeping war, rate ich von Fantasy Craft ab, es zieht die Schraube an einigen Stellen noch weiter an – der Beispiel-Charakterbogen am Ende des Buches ist ganze vier Seiten lang.
Das 400-Seiten-Werk kostet ca. 40 €, das pdf bekommt man bei drivethruRPG anscheinend ab 22 €.
Wer Fehler findet, möge sie mir bitte zurückgeben.