Witzigerweise hat die Unterscheidung zwischen unterschiedlichen mündlichen sprachlichen Äußerungen im Hinblick auf ihr Literatur-Sein oder Nicht-Literatur-Sein durchaus zu Zeiten unsrer (literarischen) Altvorderen ganz anders ausgesehen. Irgendwo hier im Thread wurde zwischen der Chimäre der "mittelalterlichen Erzählung" die Bemerkung fallen gelassen, bestimmte mündliche Sprachäußerungen wären "nur" ein Gespräch. Den auf Fixierung fixierten Diskussionsbeiträgern wird man damit zwar nicht zu Leibe (oder besser: zu Sinne) rücken können, aber sehr interssant finde ich doch, dass bereits bei den klügsten Köpfen der Antike gerade das Gespräch als eine hohe "Literaturform" angesehen war. Weshalb Leute wie Platon das Gespräch so sehr geschätzt haben, hängt ja mit der ihm innewohnenden Dialektik zusammen, und genau diese Dialektik ist auch vonnöten, um die von Achamanian und Bitpicker gemeinte Differenzierungsfähigkeit aufzubringen.
Jedenfalls gibt es etliche, sehr prominente Beispiele dafür, dass selbst das Gespräch eine ungeheure literarische Relevanz besaß, sonst hätte man sich nicht die Mühe gemacht, Texte in diese Form zu kleiden oder gar Gespräche aufzuzeichnen, bzw. sie in Briefen an dritte "weiterzureichen" (am umfangreichsten dürften wohl Goethes Gespräche (nicht nur die mit Eckermann!) dokumentiert sein). So ist also auch das Gespräch letztlich eine mündliche Literaturgattung, die ähnlich wie kultische Gesänge, Reden, Predigten, Märchen, Legenden, Witze etc. den Sprung in die schriftliche Fixierung geschafft haben.
Zurück zum Rollenspiel: Jetzt bin ich einmal ganz kühn und behaupte (und darauf wollte ich ja auch in meinen letzten Posts schon hnaus), dass es noch ganz andere Arten der "Fixierung" gibt, als nur die Fixierung in einem Medium oder die im Gedächtnis eines Rezipienten, wie Eulenspiegel argumentiert. Dabei denke ich an gattungsspezifische und formale Fixierungen. Auch die mündliche Literatur besitzt ja mannigfaltige Gattungen, die sich nicht nur durch die Situation unterscheiden, in der sie entstehen, sondern auch formal. Wer zweihundert Witze gehört hat, kann die formalen Eigenheiten (z.B. geringe Textlänge, Präsens, schnörkellose Satzstruktur) sicher schnell umreißen und die Witze nach formalen (nicht nur inhaltlichen) Gesichtspunkten sogar in mehrere Untergattungen aufteilen: Der Frage-Witz, der Drei-Stufen-Witz, der Einzeiler, etc.
Mit derlei formalen Eigenschaften lassen sich die meisten mündlichen Literaturgattungen beschreiben. Und also behaupte ich, dass es eine formale Fixierung von mündlichen Sprachäußerungen gibt, die sie in den Stand von Literatur erheben. Selbst wenn ich also ein Gebet oder eine Predigt aus dem Stegreif spreche, also einen völlig neuen Inhalt erfinde, erfülle ich mit ziemlicher Sicherheit eine bestimmte formale Schablone (im Gebet zum Beispiel werde ich den angebeteten wahrscheinlich anreden, und auch wenn ich die Worte dafür völlig neu erfinde, erfülle ich doch den für die Literaturgattung Gebet erforderliche Form, die fixiert ist.)
Und auch wenn ich von einer selbst erlebten Begebenheit erzähle, die noch nie da war, wo es also keinerlei Vorlage gibt, kleide ich sie abends in der Kneipe vielleicht doch in die Form einer Anekdote, bediene mich also einer bestimmten Form und schaffe ein Werk einer bestimmten mündlichen Lteraturgattung, auch wenn das später niemals schriftlich fixiert oder weitererzählt wird.
Beim Rollenspiel handelt es sich freilich auch um eine solche Einmal-Literatur, das hat Bitpicker besser beschrieben, als mir das möglich sein wird. Aber, und darauf habe ich ja oft genug hingewiesen, werden von den Teilnehmern einer Rollenspielsitzung eine ganze Menge formaler Gattungsspezifika erfüllt (wie gesagt, sehr viel Präsens, sehr viel Rede in der zweiten Person, regelmäßiger Wechsel zwischen Narration, Dialog in real und in Figurenrollen, etc.).
Ganz zu schweigen, dass es selbst in Eulenspiegels Definition von "Bearbeitung einer Vorlage" schon aufgrund der Regeln und des jeweiligen Settings eine literarische Vorlage gibt. Und damit meine ich nicht, weil diese Bücher gedruckt sind. Sondern es gibt Versatzstücke wie in der Erzählertradition, wo Geschichtenerzähler aus einem Repertoire von Handlungsbausteinen schöpfen und daraus stegreifmäßig ihre Geschichten zusammenwerfen. So ist im Rollenspiel schon allein die Tatsache zum Beispiel, dass ein Plüschtier einen Wert für Karate besitzt, ein solcher Handlungsbaustein, denn der Erzähler (also Spieler) wird nicht auf die Idee kommen, sein Plüschtier in der entsprechenden Situation mit Pfeil und Bogen schießen zu lassen, weil Regeln und Hintergrund dies nicht vorgeben. Wenn es zum Kampf kommt, wird er auf Karate zurückgreifen, das ist gewissermaßen eine inhaltliche Vorgabe der Erzählung. Schon allein die Tatsache, dass es sich bei der Figur in diesem Falle um ein Plüschtier handelt, ist ein solcher Baustein. Den Einfluss dieser vorgegebenen Details selbst auf das freieste Rollenspiel ist sehr groß und müsste selbst den Fixierungsfanatikern ein wenig Wind aus den Segeln nehmen (was es aber, ich weiß es, nicht tun wird.)