Autor Thema: Definitionen von Spielformen  (Gelesen 1380 mal)

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Definitionen von Spielformen
« am: 13.11.2020 | 13:56 »
Spielformen
Angesichts der Frage nach Definitionen in einem anderen Faden und teils der Vermischung mit Spielstilen/agenda möchte ich hier einen Sammelfaden für die Definitionen von Spielformen aufmachen (und nebenan den Diskussionsfaden dazu https://www.tanelorn.net/index.php/topic,117121.0.html), welche dann als charakteristische Beschreibungen in einem Angebot zu einem Spiel mit benutzt werden könnten.
 
Wer mit einer Definition hier und der Diskussion gar nicht zurechtkommt schreibe seien eigene Definition in den Definitionsfaden mit neuer Nummer/Buchstabe und kennzeichne diese durch ein entsprechend klärendes Adjektiv. Überarbeitungen der eigenen Definition bekommen ein _v1 etc.
Zu einer eigenständigen Paralleldefinition eines bestehenden Begriffs gehört dann aber auch die klare und ausdrückliche Benennung, was da jetzt spezifisch anders ist.

Als Spielform möchte ich hier Spielweisen bezeichnen, welche sich durch ihre speziellen Eigenarten und Anforderungen von anderen Spielweisen abgrenzen und so ironiefrei auch in einem Ankündigungstext zur Spielersuche z.B. auf einem Con oder einer Mitspielerbörse stehen könnte.

Nebenbei sei gesagt, dass in der Praxis immer mal die Möglichkeit besteht außerhalb des regulären Spiels spontan eine Änderung  oder Ergänzung zum aktuellen Spielgeschehen anzufragen.
Hier soll aber der Standardfall mit seinen Erwartungen und Einschränkungen sowohl in Beschreibung wie Diskussion behandelt werden, welcher zur Aufklärung des zu erwartenden Normalfalls bei spielformkohärenter Spielweise dienen kann.
Auch die grundlegenden Limits des Anstands oder zusätzliche Umgangsregeln beim zwischenmenschlichen Umgang zählen nicht zu spielformtypischen Limitationen.

Schon vorab: die reguläre, weil angekündigte Variante von Railroading ist Partizipationsmus.

1A) Offene Sandbox:
Die offene Sandbox zeichnet sich durch 3 Attribute aus:
1)   Das Setting als eigenständige offene Welt.
Die Spielwelt wird als „imaginär lebendig“ und eigenständig angenommen (ja, ein nicht zu realisierendes Ideal, aber es zählt der Versuch dem möglichst nahe zu kommen.). Sie existiert unabhängig von den Spielern und ist nur ihrer eigenen bzw. regelbeschriebenen inneren Logik unterworfen. (Diese Logik muss nicht zwingend Realismus sein, auch wenn das der häufigste Fall ist, sondern kann auch auf einer gamistischen Setzung beruhen)
2)   Die Handlungsmaschine
Davon abgeleitet ist, dass der Spieler erwarten kann, dass das Geschehen in der Spielwelt ab Setzung sowie seine Handlungen neutral und setting- wie regelkonform abgehandelt werden, frei von weiteren Metainteressen sollten diese damit kollidieren.
3)   Handlungsfreiheit
Die Limits der Spielerinteraktion liegen nur in denen, welchen die Figur nach diesem inneren Regelgerüst selbst auch unterworfen wäre, ggf. im gewählten Abstraktionsniveau des Regelgerüsts.
Dazu kommt, dass er bezüglich seiner Handlungsfreiheit nicht mit schon grundsätzlichen externen Umständen konfrontiert wird, welche nur noch eine sinnvolle weitere Zielsetzung offen lassen. Folgen eigenen Handelns oder lokale Zwänge aus einer maßvoll angelegten Spielweltlogik sind davon nicht berührt. Wir reden hier von etwas wie Weltuntergangsverhinderungen oder zumindest überregionalen Kriegen oder Naturkatastrophen oder unprovozierter persönlicher Verfolgung. 

Als „echte“ Welt ist eine Sandbox mit der zu erwartenden Vielfalt an Fraktionen und Konflikten vorgespannt, ohne dass ein Konflikt dabei vorbestimmt dominant überspannt ist.

Chancen:
Damit ist die offene Sandbox der geeignete Spielplatz für proaktive und eigenständig agierende Spieler sowie Spieler, welche bereit sind solchen Spielern zu folgen.

Risiken:
Die Spielwelt enthält durch ihre Vorspannung reichlich externe Gelegenheiten zu Aktivitäten, aber diese sind nicht passgenau zu den Spielerwünschen und werden diesen auch nicht passend gefüttert. Entsprechend ist auch hier immer noch Eigeninitiative und die Bereitschaft sich als Teil der Welt und nicht als Hauptfigur zu verstehen von Nöten. Die Konfliktdichte wird daher auch meist merklich niedriger liegen als in anderen Spielformen. Man wird nicht mit Unterhaltung bedient.
Für den Spielleiter ist diese Spielform mit erheblich mehr Aufwand verbunden und die erreichbare Simulationsdichte ist dadurch oft auch etwas geringer als in engeren Spielformen. Eine häufige Variante ist daher die bgerenzte Sandbox, welche sich von der offenen in der behandelten Settingfläche unterscheidet. Ein Verlassen des Definitionsraums bringt die Figur aus dem Spielfokus, im Gegensatz zur offenen Sandbox, wo der Fokus mit der Gruppe mitwandert.
Womit wir zu einem weiteren möglichen Problem kommen: Um sauber gemeinsam zu funktionieren, sollte sich die Gruppe selbst untereinander auf einen mehr oder weniger engen Fokus des Spiels einigen oder das Spiel zerfasert in Einzelaktionen. Man kann von der Spielform her theoretisch so spielen, aber das widerspricht eigentlich dem generellen Grundgedanken des Rollenspiels als gemeinsame soziale Aktivität. 
Eine kohärente Handlung oder gar Spannungsverlauf ist mit einer Sandbox nur zufällig zu erreichen. Genauso kann sie für andere Spieler frustrierend sein, welche bestimmte Ereignisse oder Ergebnisse in ihrem Spiel erwarten. In einer Sandbox kommt der Spaß aus der Erkundung und Auseinandersetzung mit einer eigenständigen Spielwelt. Das Ergebnis ist offen.


1B) Thematische Sandbox
Die thematische Sandbox ist eine Abart der freien Sandbox. Hier wird die Freiheit einen eigenen Fokus im Spiel zu setzen ausdrücklich ersetzt durch einen starken vorab ausgehandelten Fokus, welcher das kommende Spiel bestimmen wird, sowohl vom Settingfokus her wie in den Figuren selbst. Was von der Sandbox bleibt ist die Handlungsmaschine, welche eine spieleweltkonforme neutrale Abhandlung der Aktionen verspricht, welche im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit dem Thema entstehen.  Themenfremde Aktivitäten sind nicht verboten, solange sie den thematischen Fokus nicht beschädigen, können aber durchaus dann abstrahierter oder offscreen abgehandelt werden.

Chancen:
Die Kombination eines interessanten erklärten Themas mit der freien Auseinandersetzung damit. Der beschränkte Umfang erlaubt dem Spielleiter eine ähnlich konzentrierte Vorbereitung, wenn auch wegen der Handlungsoffenheit weiterhin die Strukturen statt „Plot“ aka vorbestimmte Handlungsabläufe  im Mittelpunkt stehen.
Das „was passiert“ ist von vorne hereinklar und die Figuren in der Regel eng im Hintergrund eingebunden mit der entsprechenden daraus entstehenden Interaktionsdichte.
Sidenote: Narrativismus nach der Forge ist effektiv eine Version einer kurzen, hochgespannten thematischen Sandbox.

Risiko:
Das Thema ist halt vorgegeben und muss auch gemocht werden. Es ist notwendig, dass sich die Spieler in diese Vorgaben einpassen. Dazu gehören in der Regel auch recht enge Vorgaben zu den zu erstellenden Charakteren und auch zu ihren Loyalitäten und Motivationen. Wird man später unzufrieden, wie die anderen das Thema angehen/umsetzen  hat man oft ein Problem das ohne Ausscheiden der Figur lösen zu können


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« Letzte Änderung: 13.11.2020 | 13:57 von Maarzan »
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Offline Der Läuterer

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Re: Definitionen von Spielformen
« Antwort #1 am: 14.11.2020 | 00:20 »
Player Empowerment

Beim Player Empowerment erzählt der Spieler nicht nur aus Sicht seines Chars, sondern er hat auch Einfluss auf das Grosse Ganze, indem er eigene Impulse setzt.

Player Empowerment kann in dieser Hinsicht als Gegenstück zum Railroading bezeichnet werden.

Beim Railroading wird dem Spieler die Möglichkeit genommen, am Ausgang der Szene mitzuwirken.
Wohingegen der Spieler beim Player Empowerment die Möglichkeit bekommt, an der Gestaltung der Spielwelt teilzuhaben, welche sonst nur dem SL vorbehalten ist.

Der SL überlässt den Spielern hierbei einen Teil seiner Kompetenzen.
Das geht so weit, dass der Spieler Ereignisse und NSCs in das Spielgeschehen mit einfliessen lassen darf.

Der Spieler baut dabei die Umwelt in seine Erzählungen mit ein. Er gestaltet den Hintergrund einer Szene mit, ergänzt und erweitern ihn, um besser mit der Szene interagieren zu können.

Player Empowerment bedeutet sowohl mehr Freiheiten aber auch mehr Verantwortung für den Spieler.

Das Ganze ist nützlich, da dadurch einerseits die Spielwelt erweitert und ausgeschmückt wird und der Spieler andererseits seine eigenen Anknüpfungspunkte in der Szene implementieren kann, was ihm das Immersion erleichtern kann.

Es gibt Spieler, die Player Empowerment ablehnen, weil sie sich völlig überfordert fühlen.

Andere Spieler nehmen es gerne an, wobei man als SL aufpassen muss, dass die Gestaltungsfunktion dabei von den Spielern nicht ausgenutzt und überstrapaziert wird.
Das würde das Ganze ad absurdum führen.

Positiv für den SL ist, dass er entlastet, seine Vorbereitungszeit kürzer und das Leiten einfacher wird.
Er kommt aus seiner Erzählrolle heraus und kann sich auch ab und an von der Entwicklung ein wenig überraschen lassen.

Player Empowerment sollte, um Sinn zu machen, über die Entscheidung der Farbe einer Tapete und über die Temperatur des Essens hinaus gehen...

Beispiel:
Die Chars kommen in eine Stadt.
Spieler: "Ha. Hier war ich schon einmal. In der Schenke dort vorne hatte ich ein Techtelmechtel mit der Rosie, der Schankmaid."
Das kann der SL dann aufnehmen und weiter verarbeiten.
Wirt: "Rosie arbeitet hier leider nicht mehr."
Rosie: "Hallo Süsser. Schön, dass Du mal wieder vorbei schaust."
Rosie: "Du Lump. Hast mich schwanger zurück gelassen."

Beispiel:
Der Spieler spielt seinen treuen Hund aus. Oder seinen Diener.

Beispiel:
Ein Char geht nachts alleine eine Gasse entlang, als er drei Gestalten sieht, die ihm entgegen kommen.
Spieler: "Ich gehe schnell drei Häuser zurück. Dort stand ein Fenster offen, da klettere ich hinein und verstecke mich."

Beispiel:
Die Chars fahren Ski, als sich eine Lawine löst, der sie mit knapper Not entkommen können.
Tags darauf findet einer der Chars in den Schneemassen eine Leiche.
Power Gamer: 38% | Butt-Kicker: 8% | Tactician: 67% | Specialist: 38%
        Method Actor: 96% | Storyteller: 83% | Casual Gamer: 13%

Nur wenige Menschen sind stark genug, um die Wahrheit zu sagen und die Wahrheit zu hören.
- Luc de Clapiers Marquis de Vauvenargues -

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Re: Definitionen von Spielformen
« Antwort #2 am: 14.11.2020 | 10:46 »
3. Partizipationismus
(Disclaimer: Auf Anfrage, eigentlich sollte dies jemand beschreiben, der das auch so spielt. Entsprechend bestehen als Außenstehender zu der Spielform auch noch Chancen auf Fehler in meiner Darstellung))

Beim Partizipationismus hat der Spielleiter von vorne herein erklärt, dass er das Geschehen in Richtung einer von ihm ausgedachten Geschichte manipulieren wird. Die Techniken sind weitgehend gleich mit dem Railroading, aber die Spieler sind bewusst auf diesen Zug aufgestiegen.

Chancen:
Die Spieler bekommen eine Unterhaltung geboten, welche deutlich höhere Chancen hat sich an die gewohnten Eindrücke und Standards anderer Medien anzunähern, nur dass sie hier viel dichter dabei sind und das ganze nicht von außen, sondern quasi durch die Augen der Stars erleben. "Unmögliches" kann viel eher umgesetzt werden, das Geschehen wird häufig deutlich spektakulärer und mit "gutem" Ausgang gesichert sein, was in offeneren Spielen  so nur unsicher und selten erreicht werden kann.

Risiken:
Sollte das Werk des Spielleiters doch nicht den erhofften Qualitäten genügen, besteht kaum eine Chance (und formell auch keine Berechtigung) daran jetzt noch etwas im Spiel zu ändern.
Die Spieler wiederum müssen bereit sein über stellenweise unlogische Effekte oder auch kurze Retcons/Eingriffe in die eigene Figur schnell hinweg zu schauen, damit die Geschichte nahtlos weitergehen kann.

3a) Trailblazing
In dieser Unterform gibt der Spielleiter phasenweise die Kontrolle ab, aber unter der Absprache, dass er entsprechende Zeichen und Maßnahmen setzen wird, was Schlüsselelemente und Richtungen für einen planmäßigen Fortschritt zu den nächsten Schlüsselstationen notwendig ist und die Spieler versprechen danach Ausschau zu halten und selbst bewusst dann darauf hin zu arbeiten. (Ggf. sogar mit einem entsprechenden abgesprochenen "Zeichen", um notwendige Schienen und frei angehbare Widerstände zu unterscheiden).

Storytellertraumatisiert und auf der Suche nach einer kuscheligen Selbsthilferunde ...