Autor Thema: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis  (Gelesen 3125 mal)

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Offline Lord Verminaard

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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #25 am: 17.11.2023 | 11:07 »
Sei nicht so ominös, bitte. Nenne die Kriterien.

Naja, dieselben Kriterien halt, die in der Fachliteratur für professionelle Autoren diskutiert werden.
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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #26 am: 17.11.2023 | 11:08 »
Für mich haben Lazy GM und play to find out eben nur selten funktioniert, ich kann da über die Inkonsistenzen nicht hinwegsehen und meine besten Einfälle habe ich meistens, nachdem ich länger über eine Sache nachgedacht habe.

Wobei der Lazy GM diesbezüglich ja eine Mogelpackung ist - er gibt ja selbst zu, dass er lange über seine Runden nachdenkt. Nur halt beim Spazierengehen o.ä. Und dann geht das Aufschreiben ganz schnell, weil die eigentliche Arbeit nämlich schon gemacht ist.
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Offline Lord Verminaard

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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #27 am: 17.11.2023 | 11:09 »
Wobei der Lazy GM diesbezüglich ja eine Mogelpackung ist - er gibt ja selbst zu, dass er lange über seine Runden nachdenkt. Nur halt beim Spazierengehen o.ä. Und dann geht das Aufschreiben ganz schnell, weil die eigentliche Arbeit nämlich schon gemacht ist.

Klar, und er setzt außerdem voraus, dass man das Monster Manual auswendig kennt. ;)
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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #28 am: 17.11.2023 | 12:06 »
Naja, dieselben Kriterien halt, die in der Fachliteratur für professionelle Autoren diskutiert werden.

Gut. Nur dass es die Kriterien halt nicht gibt. Oder die Fachliteratur. Ich habe hier Robert McKees "Story", Blake Snyders "Save the Cat", Christopher Voglers "The Writer's Journey", und Ethan Slocknicks "Video Game Storytelling" liegen. Die sagen alle unterschiedliche Dinge. Ganz abgesehen davon, dass professionelle Autoren eben auch gerne einmal von den dort aufgeführten Vorgaben abweichen.

Nimm zum Beispiel die Verpflichtung zu Build-Up und Pay-Off... es gibt professionelle Erzählungen, die pfeifen da drauf. Und die sind trotzdem gut, oft sogar deswegen. Dasselbe gilt für Character Arcs: Marty McFly hat keinen nennenswerten Character Arc. Trotzdem funktioniert "Back to the Future".

Also, wenn du willst, dass man den Dramastil versteht, musst du konkret sein: Was meinst du? Was sind die Kriterien, die dir wichtig sind?
« Letzte Änderung: 17.11.2023 | 12:41 von Jiba »
Engel – ein neues Kapitel enthüllt sich.

“Es ist wichtig zu beachten, dass es viele verschiedene Arten von Rollenspielern gibt, die unterschiedliche Vorlieben und Perspektiven haben. Es ist wichtig, dass alle Spieler respektvoll miteinander umgehen und dass keine Gruppe von Spielern das Recht hat, andere auszuschließen oder ihnen vorzuschreiben, wie sie spielen sollen.“ – Hofrat Settembrini

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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #29 am: 17.11.2023 | 14:05 »
Das sprengt nun wirklich den Rahmen dieses Threads. Das hat so viele Ebenen. Da sitzt doch auch keiner mit ner Checkliste, meine Umschreibung ist doch eine abstrakte Annäherung, ein Gleichnis. Es gibt dafür keine Schritt-für-Schritt-Anweisung.

Aber ich persönlich finde McKee schon sehr treffend in vielem.
« Letzte Änderung: 17.11.2023 | 14:08 von Lord Verminaard »
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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #30 am: 17.11.2023 | 15:16 »
Dasselbe gilt für Character Arcs: Marty McFly hat keinen nennenswerten Character Arc. Trotzdem funktioniert "Back to the Future".

Also, wenn du willst, dass man den Dramastil versteht, musst du konkret sein: Was meinst du? Was sind die Kriterien, die dir wichtig sind?

Ich muss da jetzt doch nochmal drauf eingehen, auch wenn ich weiß, dass es nirgendwo hin führt. Ich frage mich echt, was du dir bei so einer Aussage denkst. Soll ich sagen, Character Arcs sind nicht wichtig? Oder Back to the Future ist doof? Und wenn ich beides nicht sagen will, ist dann mein Argument invalid und du hast mich erwischt? Weil ich mich schon festlegen "muss"? Ich unterstelle dir keine böse Absicht, aber ich weiß auch echt nicht, wie ich da drauf freundlich reagieren soll.
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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #31 am: 17.11.2023 | 15:28 »
Aber ich persönlich finde McKee schon sehr treffend in vielem.

Direkt mal anschauen, danke für den Tip! :d
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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #32 am: 17.11.2023 | 16:23 »
Ich muss da jetzt doch nochmal drauf eingehen, auch wenn ich weiß, dass es nirgendwo hin führt. Ich frage mich echt, was du dir bei so einer Aussage denkst. Soll ich sagen, Character Arcs sind nicht wichtig? Oder Back to the Future ist doof? Und wenn ich beides nicht sagen will, ist dann mein Argument invalid und du hast mich erwischt? Weil ich mich schon festlegen "muss"? Ich unterstelle dir keine böse Absicht, aber ich weiß auch echt nicht, wie ich da drauf freundlich reagieren soll.
Nein, ich will nicht, dass du dich da auf die eine oder andere Aussage festlegst. Das Beispiel diente zur Illustration dafür, dass du für fast jede Best Practice im Writing prominente Beispiele finden wirst, die sich eben an diese Kriterien nicht halten – und trotzdem funktionieren. Deswegen bin ich auch so interessiert daran, zu erfahren, welche Gesetze und Must-Haves du in einer Dramarunde mit dem schwarzen Drachengürtel so haben willst.

Denn du sagst zwar, es gäbe keine "Checkliste"... aber du weißt doch gut genug, was du willst, dass du erkennen kannst, wann eine Runde diesen Ansprüchen für dich eben nicht genügt. Du hast an anderer Stelle, wenn ich mich recht entsinne, schon gesagt, wie wenig du Lücken, Widersprüche oder Unwägbarkeiten magst, die in Impro-Dramarunden auftreten. Das ist eine Checkliste. Du hakst mental ab ob eine Runde deinem Verständnis von Drama-Rollenspiel entspricht oder nicht. Auch dein "Drama-Fu"-Text weist darauf hin, dass es so etwas gibt.

Und wenn Dramarollenspiel nur in Gleichnis-Form erklärt werden kann – wenn ich keine Schritt-für-Schritt-Anleitung für "Baby's First Familienmelodram" geben kann... dann ist es doch kaum verwunderlich, dass Anhänger anderer Spielstile nur mit Fragezeichen auf das Dramarollenspiel blicken können. Ich halte das sogar für ein Versäumnis dieses Spielstils: Den Mangel an Einstiegsmöglichkeiten für Interessierte. Die PESA hat Alrik und regelmäßige Schnupperrunden. Und die Drama-RPG-Community, was hat die? Ganz viel Anspruch an potenziell Mitspielende.   

"Wenn deine Dramarunde trotz massiver Vorbereitung nicht gezündet hat, dann hast du dich falsch vorbereitet." greift mir deshalb persönlich da auch zu kurz als Analyse, wenn wir nicht mal umreißen wollen, was für die Vorbereitung einer Dramarunde eben genau wichtig ist. Es kann zig andere Gründe haben, warum eine Dramarunde nicht funktioniert. Ich halte daher auch den Schluss, dein Spielstil sei hinsichtlich des Vorbereitungsaufwandes nicht mehr optimierbar, für trügerisch. Ich würde mich fragen, wie viel von dem, das ich in der Vergangenheit gespielt habe, doch strukturell oder inhaltlich ähnlich war und dann versuchen einen Pool aus Ressourcen zu schaffen, auf die ich (und alle anderen am Tisch, diese Sammlung muss offen sein) immer wieder zugreifen können.

Ich frage mich daher auch, wie das bei euch am Tisch läuft: Habt ihr ein Wiki, in das jeder reinschreibt? Liegen Zusammenfassungen wichtiger Tropes, Hooks und Character Arcs für alle sichtbar auf dem Tisch? Hat jemand die Relationship Map auf A2 ausgedruckt und ihr kritzelt darauf herum? Spielt ihr Szenen neu, mit denen jemand nachträglich Bauchschmerzen hat, qua Sicherheitstechniken? Gibt es Cheat Sheets für Dramaturgie? (Musst du nicht beantworten, sind nur Beispiele zur Illustration, was mir daran unklar ist.)

Wenn man einen Spielstil nicht ein stückweit externalisieren kann und ihm Materialien, Regeln, How-Tos und Spieltechniken beiordnen kann, wie kann man dann erwarten, dass er für andere verständlich ist? Wenn wir wollen, das Dramarollenspiel in der Rollenspielcommunity auch einen Stand erreicht, dann hilft nur eins: Mit vielen Leuten niedrigschwellig viele, viele mittelmäßige und ungelenke Dramarollenspielrunden spielen. Ohne dass man das Maximum an Vorbereitung abroppen muss oder Dan Harmons Story Circle aus dem FF malen kann. Da geht es ums, wie du sagst, "Rumstümpern". Die Idee, man bräuchte für eine gute Dramarunde, zwei Kreativsitzungen pro Woche, 10 Seiten Character Treatment pro SC und einen Kommissar der Rollenspielpolizei, der alles immer auf Kausalität abklopft, vergrault glaube ich auch viele unbedarfte Spieler:innen, die das eigentlich mal ausprobiert hätten.

Ich sage nicht, dass du das tust oder nicht tust. Aber der Anspruch Rollenspiel zu betreiben wie professionelle Autor:innen ihre Erzählungen schreiben... puh, talking about "Einstiegshürde".

P.S. Take everything in here with a grain of salt. Ich habe selbst ja eine Affinität zum Dramaspiel, aber ich gehe halt nicht mit allem, was du sagst konform.
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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #33 am: 17.11.2023 | 17:30 »
Als neutraler Beobachter kommt mir das so vor als würde jemand sagen: "Dungeons exisiteren gar nicht. Wie willst Du das denn machen? Dauernd eine Karte dafür haben? Für JEDEN EINZELNEN RAUM? Und die Spieler sollen die dann mitmalen, oder wie? Das ist doch unrealistisch."
« Letzte Änderung: 17.11.2023 | 17:33 von Settembrini »
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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #34 am: 17.11.2023 | 17:50 »
Danke für diesen Thread, Vermi! :d
Meine Kriterien für eine annähernd perfekte Rollenspielsession sind
- man kennt und mag sich, jeder kennt die Vorlieben der Anderen und hat ähnliche, kompatible Vorlieben
- man vertraut sich, öffnet sich den anderen und lässt auch eine gewisse Verletzbarkeit zu
- jede/r Einzelne widmet sich den Vorlieben der anderen und spielt diese an
- das Setting ist vorbereitet, für die Teilnehmenden anregend und läuft klar in eine bestimmte Richtung

Offline Lord Verminaard

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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #35 am: 17.11.2023 | 18:35 »
Es ist ja übrigens nicht so, dass Plottheorie abgefragt wird, bevor jemand bei uns mitspielen darf. Mein persönlicher Prozess ist strukturiert und analytisch, daher hört es sich auch strukturiert und analytisch an, wenn ich das real existierende Phänomen beschreibe. Ein Drama-Spieler mit einem intuitiveren Prozess würde es vielleicht in andere Worte fassen (wenn er mein Mitteilungsbedürfnis besäße), und hätte vielleicht McKee und Vogler noch nicht mal gelesen. Es käme aber intuitiv trotzdem etwas heraus, was ich wiederum durch meine Brille betrachtet und mit meinen Werkzeugen als "gute Story" einordnen würde. Wohlgemerkt, Rollenspiel ist ja kein Drehbuch und kein Roman. Es ist, wie gesagt, eine kollaborative One-Take-Erzählform, dem muss man natürlich Rechnung tragen, wenn man überlegt, wie eine "gute Story" aussieht.

Und nein, ich kann die Unterschiede nicht abschließend aufzählen, und ich kann nicht für jeden einzelnen davon umfassend erklären, wie dem denn nun genau Rechnung zu tragen sei, einschließlich eindeutiger und unmissverständlicher Beispiele für jeden einzelnen Fall. Ich muss ein bisschen Schmunzeln, Jiba, wenn ich mir vorstelle, dass du Robert McKee in die Finger bekämst, und ihn ins Verhör nehmen würdest, was genau er denn nun eigentlich mit all diesen Sachen in seinem Buch gemeint hat und wie im Einzelnen das jetzt, Schritt für Schritt, gemacht wird. Nun ja, mein Abschiedsthread wäre nicht vollständig, ohne dass eine solche Aufforderung an mich ergangen wäre, insofern, Check. ;)
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Offline Lord Verminaard

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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #36 am: 17.11.2023 | 18:46 »
P.S.:

Ich frage mich daher auch, wie das bei euch am Tisch läuft: Habt ihr ein Wiki, in das jeder reinschreibt? Liegen Zusammenfassungen wichtiger Tropes, Hooks und Character Arcs für alle sichtbar auf dem Tisch? Hat jemand die Relationship Map auf A2 ausgedruckt und ihr kritzelt darauf herum? Spielt ihr Szenen neu, mit denen jemand nachträglich Bauchschmerzen hat, qua Sicherheitstechniken? Gibt es Cheat Sheets für Dramaturgie?

Also, wenn noch andere sich das so vorstellen, dann habe ich es offenbar echt nicht gut erklärt. Wir sitzen um einen Tisch, auf dem liegen vermutlich ein paar ausgedruckte Bilder von SCs und NSCs (und vielleicht von Schauplätzen). Die Spieler haben einen Charakterbogen oder ein ausgeschriebenes Charakterkonzept vor sich liegen, vielleicht einen Schmierzettel, und ggf. ein paar Würfel. Der SL hat seine Aufzeichnungen. Und dann, naja, dann spielen wir Rollenspiel.
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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #37 am: 18.11.2023 | 15:51 »
Ich muss ein bisschen Schmunzeln, Jiba, wenn ich mir vorstelle, dass du Robert McKee in die Finger bekämst, und ihn ins Verhör nehmen würdest, was genau er denn nun eigentlich mit all diesen Sachen in seinem Buch gemeint hat und wie im Einzelnen das jetzt, Schritt für Schritt, gemacht wird.
Naja, ich wünschte mir natürlich es würde so ablaufen.
Aber es würde wahrscheinlich doch eher so ablaufen;D

Aber erst einmal: Mir liegt es fern, dich hier zu attackieren – selbst wenn ich etwas schnippisch und emotional geschrieben habe. Ich verstehe, dass dein Beitrag sehr persönlich ist und es eine naheliegende Reaktion ist, sich von konfrontativen Antworten angegriffen zu fühlen. No hard feelings. Ich will niemanden vorführen oder so.   

Mir geht's hier vor allem darum, zum Kern der Sache "Dramarollenspiel" vorzudringen. Ich denke darüber nach, was – von deiner und meiner Perspektive abstrahiert – tatsächlich zur Form gehört, was davon auf Vorbereitung zurückzuführen ist, was auf die Gruppenzusammensetzung, was auf äußere Umstände (auch wenn ich mir darüber klar bin, dass das natürlich nicht eindeutig und einwandfrei festzulegen ist – das hier sind Gesprächsangebote.) Ich vertrete die Position, dass die Gruppenzusammensetzung beim Gelingen einer Dramarunde einen größeren und entscheidenderen Anteil hat, als die spezifische Vorbereitung oder die Kenntnis von Drehbuchtheorie. Gute Dramarunden entstehen aus den Mitspieler:innen und können improvisiert oder vorbereitet entstehen.

Dieser Teil deines Beitrags klärt für mich Einiges auf:
Ein Drama-Spieler mit einem intuitiveren Prozess würde es vielleicht in andere Worte fassen (wenn er mein Mitteilungsbedürfnis besäße), und hätte vielleicht McKee und Vogler noch nicht mal gelesen. Es käme aber intuitiv trotzdem etwas heraus, was ich wiederum durch meine Brille betrachtet und mit meinen Werkzeugen als "gute Story" einordnen würde. Wohlgemerkt, Rollenspiel ist ja kein Drehbuch und kein Roman. Es ist, wie gesagt, eine kollaborative One-Take-Erzählform, dem muss man natürlich Rechnung tragen, wenn man überlegt, wie eine "gute Story" aussieht.
Da wollte ich eigentlich drauf hinaus: Gutes Dramarollenspiel kann aus einer Position des "Sich einfühlens" heraus entstehen. Das ist, was ich zuvor mit "Verletzlichkeit" meinte. Diese grundsätzliche Bereitschaft geht, wenn ich an Dramarollenspiel denke, allem anderen voraus, sowie der Wille zur Kooperation und zum Zurückstecken vor den Bedürfnissen der Mitspieler, wenn es nicht um den eigenen Charakter geht (steht ja auch in deinem Drama-Fu-Writeup). Insofern schon einmal danke, das setzt das, was du zuvor schriebst, für mich deutlicher in Perspektive.

Ich glaube aber auch – und da sind wir uns nicht einig – dass es durchaus so etwas gibt wie konkrete Schritte, Techniken und Vorbereitungspraktiken, die helfen können, besseres Dramarollenspiel zu betreiben. Du sprichst von "einlesen" oder "vorbereiten", auch davon, dass man sich "falsch" vorbereiten kann. Und dass alle Pläne Späne sind, die vom Tisch fallen und vergessen werden können, wenn die Runde es erfordert. Und da frage ich mich eben – wie du dich ja auch gefragt hast – ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, diese Vorbereitung zu verdichten, zu fokussieren oder spielmechanisch abzufangen. Und ich frage mich auch: Wie gehst du, du ganz konkret, vor, wenn du eine Dramarunde anbietest. Wenn es eine "falsche" Vorbereitung gibt, dann musst du eine Idee davon haben, wie eine aus deiner Perpektive "richtige" Vorbereitung für Dramarollenspiel aussähe. Daran wäre ich interessiert.

Deswegen auch die vielleicht irritierenden Fragen nach Relationship-Maps am Tisch, geteilten Wikis, best practices. Bei deiner Ablehnung von PbtA zum Beispiel, möchte ich halt anführen, dass diese Spiele schon einer Designphilosophie folgen oder konkrete Techniken beinhalten, die Dramarollenspiel unterstützen können. Dazu gehört die – heute vielleicht banal wirkende – Erkenntnis, dass Rollenspiel eine conversation ist und deshalb die Regeln guter Unterhaltungen und Gespräche auch dort zu gelten haben. Für's Dramarollenspiel ist eine offene, empathische und direkte Kommunikation miteinander ungeheuer wichtig (habe ich in diesem Thread selbst zum Teil gegen verstoßen, also sorry dafür). Aber das ist nicht alles: Sich zum Beispiel vor Beginn eine gemeinsame Agenda zu setzen und die aus festzuhalten und lesbar auszulegen, finde ich wichtig, damit alle auf derselben Wellenlänge schwimmen. Dasselbe gilt für Character Arcs, vielleicht Wants und Needs der Charaktere, vielleicht Szenenideen, die einem zwischen den Sitzungen gekommen sind (wenn mit Scene Framing gespielt wird) etc. Und natürlich die Relationship Map oder eine Liste mit ein paar Tropes und Motive aus dem bespielten "Dramagenre" (Familiendrama, Gangsterdrama, Teenage-Drama etc.). Ich glaube, dass diese Visualisierung helfen kann, das Spiel zu fokussieren – es holt diese Dinge von der Ebene des Spezialwissens, was einzelne Spieler:innen haben auf die Ebene der Gruppe, sodass alle Zugang dazu haben. Gut, zugegeben, ich habe mit einer so großen Zahl an Handreichungen am Drama-Spieltisch auch noch nicht gespielt. Aber gerade wenn du konstatierst, die Planung der Runde und der Erwerb von grundsätzlichen Kenntnissen in Dramaturgie (oder bestimmten realweltlichen Wissensbereiche, die für die Story, die Charaktere oder das Setting eine Rolle spielen können – das gehört auch dazu, richtig? Würdest du das bejahen?) sei so entscheidend für das Gelingen der Dramarunde, dann scheint mir der einfache Zugang zu diesen Inhalten während des Spiels hilfreich.

Womit ich Erfahrung habe, sind Sicherheitstechniken wie die X-Card oder Lines and Veils. Die sind auch post-forge erst entstanden und können meiner Erfahrung nach dabei helfen, eine Atmosphäre am Tisch entstehen zu lassen, in der Leute sich emotional fallen lassen können (wie gesagt: Verletzlichkeit). Das finde ich besonders bei Dramarunden wichtig, bei denen die Spieler:innen sich eben nicht gut genug kennen – obwohl ich mir genauso vorstellen kann, dass Runden vielleicht darauf verzichten mögen. Eine Frage der Absprachen.

Also ja, wenn ich von Schritt-für-Schritt-Anleitung spreche, dann ziele ich tatsächlich darauf ab, vielleicht eine Reihe von Best Practices zu erstellen, die Einsteiger:innen helfen kann, selbst in diesen Spielstil reinzuschnuppern. Denn ja, und zu dieser Aussage stehe ich: Der Einstieg ins Dramarollenspiel ist nicht so einfach zu finden, da es so etwas wie Platformen, Fibeln oder regelmäßige Open-for-all-Runden nicht gibt. Ich habe tatsächlich – und das als jemand, der selbst gerne Drama spielt – diesen Spielstil schon mitunter als eine sehr in sich verschworene Community wahrgenommen. Es hat sicherlich einen Grund, warum viele Rollenspieler:innen anderer Stile so große Schwierigkeiten haben, zu verstehen, was man überhaupt da macht – wenn man zum Beispiel vom Begriff "Abenteuer" herkommt, dann kann man Dramarollenspiel auch schlecht greifen, denke ich. Vielleicht haben wir es wirklich nicht besonders gut erklärt.

(Und @Settembrini: Jetzt tu mal nicht so, als wäre dir diese Fragestellung völlig unbekannt. Es gibt die OSR-Fibel, es gibt eine endlose Reihe an Blogartikeln zum Richtigen modellieren der Spielwelt und zum Erstellen von Karten und es gibt die Handlungsmaschine – ich frage mich halt, ob es Ähnliches auch für das Dramarollenspiel geben kann...)

Insofern @Vermi: Danke, dass du mit deinem Beitrag einen Grundstein gelegt hast. Ich hatte gehofft, dass wir in diesem Thread tatsächlich auch dahin vordringen, wie die Zukunft des Dramarollenspiels aussehen kann (ich glaube ja: Schon ein bisschen wie "Critical Role", denn mir kann niemand erzählen, dass die Spieler:innen dort keine typische "Dramavorbereitung" machen, wie du sie vielleicht ganz ähnlich auch machen würdest – der Unterschied ist, dass sie ihre One-Take-Erzählform tatsächlich auch zur Aufführung bringen.)

Aber du hast selbst gesagt, dass dieser Thread hier womöglich dein Swan Song ist, also ist das vielleicht wirklich nicht der richtige Rahmen, um das zu diskutieren. Damit ziehe ich mich dann also zurück.
« Letzte Änderung: 18.11.2023 | 15:55 von Jiba »
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“Es ist wichtig zu beachten, dass es viele verschiedene Arten von Rollenspielern gibt, die unterschiedliche Vorlieben und Perspektiven haben. Es ist wichtig, dass alle Spieler respektvoll miteinander umgehen und dass keine Gruppe von Spielern das Recht hat, andere auszuschließen oder ihnen vorzuschreiben, wie sie spielen sollen.“ – Hofrat Settembrini

Offline Settembrini

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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #38 am: 18.11.2023 | 17:14 »
Zitat
(Und @Settembrini: Jetzt tu mal nicht so, als wäre dir diese Fragestellung völlig unbekannt. Es gibt die OSR-Fibel, es gibt eine endlose Reihe an Blogartikeln zum Richtigen modellieren der Spielwelt und zum Erstellen von Karten und es gibt die Handlungsmaschine – ich frage mich halt, ob es Ähnliches auch für das Dramarollenspiel geben kann...)

Meine Antwort hat zweierlei Gestalt:

a) Ich denke immernoch, daß Du, absichtlich, Verminaards Äußerungen qua extrapolatio ad absurdum führen wolltest

b) glaube ich privat, daß die Geschichte gezeigt hat, daß bei dem Drama-Thema auch nach mindestens anderthalb Jahrzehnten (1989-2004) Diskurs, 50+ Spielen und mehren Theoriegebäuden ganz offenkundig nichts von dem rumkam, was Du gerade einforderst.

Wenn nun Lord Verminaard kommt, und seine Lebenserfahrung einbringt zu diesem, Eurem, Thema, dann greifst Du ihn an weil er nicht hermeneutisch und nicht-nachmachbar personalisiert genug ist? Ihm aber gleichzeitig verallgmeinerbare Techniken abverlangst? Das finde ich widerspricht sich.

Und das erinnert mich an weiland Diskussionen mit Leuten, die behaupten, es gäbe gar keine Dungeons oder Geheimnisse oder Spielleitung sei unmöglich usw.
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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #39 am: 18.11.2023 | 17:32 »
Nen Mud Run mit Team und halbem Jahr zusammen Vorbereitung ist geiler als Sonntags Spaziergang mit Bekannten, der gerade zufällig da ist.

Offline Jiba

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« Antwort #40 am: 18.11.2023 | 17:53 »
Meine Antwort hat zweierlei Gestalt:

a) Ich denke immernoch, daß Du, absichtlich, Verminaards Äußerungen qua extrapolatio ad absurdum führen wolltest
Dann glaub's halt nicht. Kann ich auch nichts dran ändern. Ich habe versucht das Missverständnis auszuräumen. Ich bin sehr bereit da tiefer in die Diskussion einzusteigen. Und ich schätze sehr, dass Verminaard sich hier so geöffnet hat, make no mistake.

Derweil: Du kennst mich nicht. Du hast keinen blassen Dunst, wer ich bin, was ich erlebt habe, etc. Du hast keine Ahnung wie ich spiele, wie mein Denkprozess ist, etc. Das, was ich hier hinschreibe, wird immer interpretiert. Das kann man auch fehlinterpretieren. Habe ich Teile von Verminaards Post fehlinterpretiert. Ja, womöglich schon. Gebe ich offen zu. Aber ich darf hier auch meine Erfahrungen teilen. Und ich frage nach.

Was machst du? Du fragst nicht nach. Du konstatierst nur, dass du Leuten im Internet nicht glaubst, die du überhaupt nicht kennst. Anstatt halt nachzufragen. Stattdessen assoziierst du frei.

Es besteht kein Widerspruch in dem, was ich hier schrieb. Ich erkenne sowohl an, dass es Vermis persönliche Erfahrungen mit dem Thema sind, die mir durch seinen Antwortpost, jetzt auch klarer geworden sind. Ich kann aber trotzdem seine Meinung zum Thema bezüglich allgemeiner Vorgehensweisen und -techniken etc. anfragen und sagen, dass sich unsere Vorgehensweisen in Details unterscheiden. Denn er hat das Thema, ob Spieler anderer Stile den Stil verstehen oder nicht, selbst aufgebracht. 

Sieh's mir nach, auf so einen Eskalierungsversuch lasse ich mich nicht ein, Set. Mach aus diesen Dingen, was immer du willst.

Nen Mud Run mit Team und halbem Jahr zusammen Vorbereitung ist geiler als Sonntags Spaziergang mit Bekannten, der gerade zufällig da ist.
Gut. Ist aber eben ein Mud Run.
« Letzte Änderung: 18.11.2023 | 18:18 von Jiba »
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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #41 am: 18.11.2023 | 21:51 »
Naja, ich wünschte mir natürlich es würde so ablaufen.
Aber es würde wahrscheinlich doch eher so ablaufen;D

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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #42 am: 19.11.2023 | 16:15 »
Vielen Dank an alle für ihre Beiträge. Ich habe den Ausgangsbeitrag geschrieben, weil ich irgendwie fühlte, ich hätte einen wichtigen Gedankengang gehabt, den ich festhalten wollte. Ich konnte ihn aber nicht richtig greifen, deshalb war dies ein relativ umständlicher Weg, auf den Punkt zu kommen. Ich hätte es vielleicht noch etwas reifen lassen sollen, bevor ich es poste, aber meine Impulskontrolle war anderer Ansicht. ;)

Also, nochmal von vorne, Vermi. Was wolltest du uns hier eigentlich sagen? Was ich sagen wollte, war dies:

1) Es gibt einen Spielstil, den ich als Drama-Spiel bezeichnen möchte, bei dem es den Beteiligten wesentlich darum geht, durch das Rollenspiel eine gute Geschichte zu erzählen. Das setzt voraus, dass es Kriterien gibt, gute und schlechte Geschichten zu unterscheiden. Diese Kriterien mögen von Drama-Spielgruppe zu Drama-Spielgruppe etwas variieren, leiten sich aber prinzipiell von den Kriterien ab, die auch ein Redakteur an einen Roman oder ein Drehbuch anlegen könnte. Oft werden sehr leichtgewichtige Regelwerke verwendet, die viel Freiraum lassen. Simulierende Regeln haben dennoch einen Wert für Drama-Spiel, da sie eine Verkörperung des Prinzips von Ursache und Wirkung darstellen. Und das Prinzip von Ursache und Wirkung zu respektieren, wird meistens als wesentliches Merkmal einer guten Geschichte angesehen.

2) Um am Spieltisch, im One-Take, kollaborativ mittels der Methode Rollenspiel, eine gute Geschichte erzählen zu können, muss man planen. “Play with a plan” (danke KhornedBeef :D ), denn Pläne sind nutzlos, aber Planung ist alles. Diese Planung erfordert von allen Beteiligten Arbeit im Vorfeld, und je nach persönlichem Prozess und Anspruch kann der geforderte Invest sehr hoch sein. Wenn man die Neigung dafür mitbringt, und Mitspieler mit gleicher Neigung und guter Chemie hat, die als Gruppe zusammenarbeiten, dann kann dies eine extrem intensive und begeisternde Form des Rollenspiels sein.

3) Im Namen der guten Geschichte hat sich in den 80er und 90er Jahren jedoch eine Philosophie etabliert, die allein dem Spielleiter die Zuständigkeit für die “gute Geschichte” zuschrieb - nennen wir sie Story-Absolutismus. Man unterstellte, wenn Spieler die Chance dazu bekämen, würden sie die Geschichte kaputt machen, weshalb man ihnen die Chance dazu nicht geben dürfte. Zu diesem Zweck wurde der Spielleiter mit umfassender Macht ausgestattet und von jeder Rechtfertigungspflicht entbunden. Die Railroader, Spielerkleinhalter, Täuscher und Egomanen, die unter dieser Flagge segelten, werden von leidtragenden Rollenspielern automatisch assoziiert, sobald jemand etwas über gute Geschichten im Rollenspiel sagt.

4) Der Gedanke, um den es mir geht, ist nun folgender: Ein Spielleiter mit einer Neigung zum Drama-Spiel, der für eine Runde von Casuals leitet, wird von diesen Casuals tatsächlich als sehr guter Spielleiter empfunden. Denn er serviert ihnen das Drama, einschließlich ihrer Rolle darin, auf einem Silbertablett. Es war in den 80ern und 90ern eine typische Konstellation, dass der Spielleiter der einzige Rollenspiel-Enthusiast in der Runde war. Die Spieler rekrutierte er aus seinem Freundeskreis und animierte sie zum Spielen, doch oft blieben sie eben Casual Gamers. Ich vermute, es war ursprünglich mit solchen Runden vor Augen, dass SL-Leitfäden geschrieben wurden, die ebendieses Modell zum Idealbild der Spielleitung erhoben. Doch dabei wurden die sehr spezifischen Voraussetzungen, unter denen das nur funktionierte, verkannt, denn:

a) Es gab  viele Spielleiter und viele Spieler, die überhaupt keine erzählerische Neigung hatten und mit dem Konzept einer “guten Geschichte” insgesamt wenig anfangen konnten. Zeitweilig bekamen sie aber von so ziemlich jedem Regelwerk, das sie aufschlugen, gesagt, dass sie das müssten.

b) Selbst bei denjenigen Rollenspielern, die eine erzählerische Neigung hatten, war die gute Geschichte, im Sinne eines handwerklichen Qualitätsanspruchs, meistens keine Priorität. Nachdem der Story-Absolutismus inzwischen gründlich dekonstruiert worden ist, zeigt sich, dass vielmehr die meisten Rollenspieler mit erzählerischer Neigung sich grob in zwei Gruppen unterteilen lassen:

(i) Die größte Gruppe, nennen wir sie Team Critical Role, sieht die Geschichte als Rahmen für im Kern traditionelles Rollenspiel. Die Kampagne wird in Arcs und Seasons dramaturgisch durchdekliniert, doch Dungeons, Kämpfe, Schätze, XP und Levelaufstieg sind immer noch zentral. Taktik und Weltsimulation sind wesentliche Bestandteile des Spiels, mindestens gleichberechtigt mit dem Erzählen einer Geschichte.

Diese Gruppe stört am Story-Absolutismus vor allem das Schummeln und die Entwertung ihrer Leistung. Daher wurde im Story-Absolutismus oftmals versucht, durch faule Tricks über genau diese Entwertung hinweg zu täuschen, was für eine Weile auch gutgehen konnte.

Die Mehrzahl des Team Critical Role hat an Drama-Spiel kein Interesse, da entweder Action und Abenteuer fehlen, oder, wenn es Action und Abenteuer gibt, dabei die spielerische Herausforderung fehlt.

(ii) Die größte Gruppe danach, nennen wir sie Team pbtA, schreibt Geschichten weitgehend improvisiert. Alle Beteiligten sollen zu den Wendungen der Handlung beitragen und von ihnen überrascht werden (“play to find out”). Das Regelwerk soll keine Welt simulieren, sondern bestimmte Erzählmuster vorgeben. Das Augenmerk liegt auf der gerade gespielten Szene, der übergeordnete Handlungsbogen ist eher ein Nebenprodukt. Kausalitäten, Zusammenhänge und Hintergründe werden im Vorhinein wenig thematisiert und im Nachhinein wenig hinterfragt.

Diese Gruppe stört am Story-Absolutismus vor allem, dass die Spieler daran gehindert werden, selbst den Verlauf der Handlung mit zu bestimmen. Viele von ihnen wollten seinerzeit auch den vergleichsweise klassischen Regelwerken und Genres entkommen, die im Story-Absolutismus vorherrschten (dies haben sie mit Drama-Spielern gemeinsam).

Die Mehrzahl des Team pbtA hat an Drama-Spiel kein Interesse, da man einerseits die Planung und die ausgearbeitete Backstory als einschränkend empfindet, und sich andererseits, im Gegensatz zu Drama-Spielern, nicht so daran stört, wenn es mal widersprüchliche Referenzen auf die Backstory gibt, oder wenn die Gründe für überraschende Wendungen und Entscheidungen mal unklar bleiben.

6) Die seinerzeitige Dominanz der Idee, “gutes Rollenspiel” sei gleichbedeutend mit “gute Geschichte”, entsprach also nie den tatsächlichen Vorlieben der Mehrheit derer, die sich ernsthaft für Rollenspiel interessierten. Nicht einmal unter denjenigen mit erzählerischer Neigung. Drama-Spiel war nie als generelles Leitbild für erzählerisches Rollenspiel geeignet. Zwar mag Einbahnstraßen-Drama-Spiel durch den Spielleiter für Casual Gamers unterhaltsam sein. Doch es musste bei Spielern, die aktiv und mit eigener Agenda Rollenspiel spielen wollten, zwangsläufig auf Widerstand stoßen. Story-Absolutismus stellt den Versuch da, ebendiesen Widerstand zu brechen. (Hätte ich jetzt nicht unbedingt für den naheliegendsten Ansatz gehalten aber tja.)

7) Es gibt echte Drama-Spieler, und es gibt gutes, sogar sehr gutes Drama-Spiel, bei dem niemand zu irgendwas gezwungen wird und bei dem alle Beteiligten ihre erspielte Geschichte rückblickend wirklich als gute Geschichte bewerten. Doch dieser Spielstil teilt eine gemeinsame Historie und auch das Leitbild der “guten Geschichte” mit dem Story-Absolutismus. Daher begegnen ihm viele Rollenspieler, die negative Erfahrungen mit Story-Absolutismus gemacht haben, äußerst skeptisch.
« Letzte Änderung: 19.11.2023 | 16:19 von Lord Verminaard »
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Online schneeland

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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #43 am: 19.11.2023 | 22:10 »
Daumen hoch fürs Nochmal-Aufräumen! Ich hatte zwar persönlich den Eindruck, dass das meiste davon schon im Ausgangsbeitrag angelegt ist, aber so ist's nochmal klarer.
Ich bin mir noch nicht so sicher, ob ich der Einordnung des Critical Role-Stils vollkommen zustimme; und auch nicht, ob ich die Abgrenzung zwischen diesem und der Impro-Variante so klar gezogen sehe. Aber das muss sich erst noch einen Moment setzen, bevor sich das klarer formulieren lässt.
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Offline 1of3

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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #44 am: 20.11.2023 | 10:12 »
Danke für die Zusammenfassung. Ich denke dein Labeling ist unglücklich. Ich spiele PbtA liebend gern, aber zumindest wenn es kein Oneshot ist, verbringe ich viel Zeit damit Dinge im Vorhinein zu überlegen und abzusprechen und hinterher zu kommentieren und reflektieren. Das ist auch das, was PbtA-Motto "Play to find out" bedeutet. Du machst deine Vorbereitungen und dann spielen wir mal, was sich daraus ergibt.

Solche tiefergehenden Vorbereitungen sind also empfohlen aber erst für Sitzung 2 und folgende. Wie die Elemente genau benannt, wandelt sich ein bisschen von Spiel zu Spiel. Aber die SL-Kapitel und meine Praxis unterscheiden regelmäßig zwischen Sitzung 1 und was dann kommt. Das Ziel ist also die Vorbereitung inkrementell zwischen Sitzungen zu machen.

Am besten gefällt mir das die Methode "Storm" aus Urban Shadows. Man stellt also nach und Personen, Schauplätze und Fraktionen vor. Mit kleineren Problemen oder purer Exploration. Und irgendwann stürmt es, d.h. die ganzen isolierten Elemente werden in einen zentralen Konflikt gezogen. Quasi sowas wie ein Staffel-Finale. Und wenn das durch ist, hat sich der Status Quo der Spielwelt merklich verändert. Und dann fängt das ganze wieder von vorne an.

Es ist aber nicht so, dass ich notwendig vor oder nach Sitzung 1 weiß, was der Sturm sein wird. Wir probieren halt erstmal aus, ich kann nicht wissen, wie einzelne SCs auf meine NSCs reagieren werden. Ich muss mir das Personal also erstmal im Spiel zusammensuchen, danach kann ich sie wirbeln. Selbstverständlich dürfen auch SC-Spielende Ideen einbringen oder sich Sachen wünschen.

Kann es sein, Vermi, dass du immer nur Sitzung 1 gespielt hast?

Offline Alexandro

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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #45 am: 20.11.2023 | 13:09 »
Also erstmal:
3) Im Namen der guten Geschichte hat sich in den 80er und 90er Jahren jedoch eine Philosophie etabliert, die allein dem Spielleiter die Zuständigkeit für die “gute Geschichte” zuschrieb - nennen wir sie Story-Absolutismus. Man unterstellte, wenn Spieler die Chance dazu bekämen, würden sie die Geschichte kaputt machen, weshalb man ihnen die Chance dazu nicht geben dürfte. Zu diesem Zweck wurde der Spielleiter mit umfassender Macht ausgestattet und von jeder Rechtfertigungspflicht entbunden. Die Railroader, Spielerkleinhalter, Täuscher und Egomanen, die unter dieser Flagge segelten, werden von leidtragenden Rollenspielern automatisch assoziiert, sobald jemand etwas über gute Geschichten im Rollenspiel sagt.

Die Philosophie des Alleinverantwortlichen SL stammt nicht aus der Story-Schule, sondern ist älter (bei einigen der "Tipps" aus den alten Dragons frage ich wirklich, mit was für Luschen Gary damals zusammengespielt hat, um zu diesen "Erkenntnissen" zu kommen... oder ob das einfach Vorurteile über Spielende war, die er schon vorher hatte und nie überprüft hat).

Das ist erstmal unreflektiert ins Story-Spiel übernommen worden, weil das im Rollenspiel eben so "funktioniert" hat.

Was die eigentlichen Punkte angeht:
Zitat
4) Der Gedanke, um den es mir geht, ist nun folgender: Ein Spielleiter mit einer Neigung zum Drama-Spiel, der für eine Runde von Casuals leitet, wird von diesen Casuals tatsächlich als sehr guter Spielleiter empfunden. Denn er serviert ihnen das Drama, einschließlich ihrer Rolle darin, auf einem Silbertablett. Es war in den 80ern und 90ern eine typische Konstellation, dass der Spielleiter der einzige Rollenspiel-Enthusiast in der Runde war. Die Spieler rekrutierte er aus seinem Freundeskreis und animierte sie zum Spielen, doch oft blieben sie eben Casual Gamers. Ich vermute, es war ursprünglich mit solchen Runden vor Augen, dass SL-Leitfäden geschrieben wurden, die ebendieses Modell zum Idealbild der Spielleitung erhoben. Doch dabei wurden die sehr spezifischen Voraussetzungen, unter denen das nur funktionierte, verkannt, denn:

a) Es gab  viele Spielleiter und viele Spieler, die überhaupt keine erzählerische Neigung hatten und mit dem Konzept einer “guten Geschichte” insgesamt wenig anfangen konnten. Zeitweilig bekamen sie aber von so ziemlich jedem Regelwerk, das sie aufschlugen, gesagt, dass sie das müssten.

Soweit Zustimmung, bis auf den markierten Satz. Die meisten Spielenden haben entweder das Hobby verlassen oder sind zu einem anderen Spielendentypus abgedriftet: wirklich Casual sind imo die wenigsten von ihnen geblieben.

Zitat
b) Selbst bei denjenigen Rollenspielern, die eine erzählerische Neigung hatten, war die gute Geschichte, im Sinne eines handwerklichen Qualitätsanspruchs, meistens keine Priorität. Nachdem der Story-Absolutismus inzwischen gründlich dekonstruiert worden ist, zeigt sich, dass vielmehr die meisten Rollenspieler mit erzählerischer Neigung sich grob in zwei Gruppen unterteilen lassen:

Sehe ich anders. Das Problem ist eher, dass es sehr unterschiedliche Vorstellungen einer guten Geschichte (und was der Beitrag der einzelnen Spielteilnehmer dazu ist) gibt, was ebenfalls ein gehöriges Maß Dekonstruktion erfordert.

Zitat
(i) Die größte Gruppe, nennen wir sie Team Critical Role, sieht die Geschichte als Rahmen für im Kern traditionelles Rollenspiel. Die Kampagne wird in Arcs und Seasons dramaturgisch durchdekliniert, doch Dungeons, Kämpfe, Schätze, XP und Levelaufstieg sind immer noch zentral. Taktik und Weltsimulation sind wesentliche Bestandteile des Spiels, mindestens gleichberechtigt mit dem Erzählen einer Geschichte.

Diese Gruppe stört am Story-Absolutismus vor allem das Schummeln und die Entwertung ihrer Leistung. Daher wurde im Story-Absolutismus oftmals versucht, durch faule Tricks über genau diese Entwertung hinweg zu täuschen, was für eine Weile auch gutgehen konnte.

Die Mehrzahl des Team Critical Role hat an Drama-Spiel kein Interesse, da entweder Action und Abenteuer fehlen, oder, wenn es Action und Abenteuer gibt, dabei die spielerische Herausforderung fehlt.

Ist relativ klassisches Rollenspiel, das ist richtig. Die Spielenden schreiben ausführliche Charaktergeschichten (und wollen dass diese im Spiel zum Tragen kommen) und haben Interesse am Ausgestalten der interpersonellen Beziehungen ihrer Spielfiguren. Sie haben eher weniger Interesse an Weltgestaltung oder Vermeidung der Kämpfe oder "Abkürzen" von Spannungsbögen, aber das sind persönliche Präferenzen.

Zitat
(ii) Die größte Gruppe danach, nennen wir sie Team pbtA, schreibt Geschichten weitgehend improvisiert. Alle Beteiligten sollen zu den Wendungen der Handlung beitragen und von ihnen überrascht werden (“play to find out”). Das Regelwerk soll keine Welt simulieren, sondern bestimmte Erzählmuster vorgeben. Das Augenmerk liegt auf der gerade gespielten Szene, der übergeordnete Handlungsbogen ist eher ein Nebenprodukt. Kausalitäten, Zusammenhänge und Hintergründe werden im Vorhinein wenig thematisiert und im Nachhinein wenig hinterfragt.

Diese Gruppe stört am Story-Absolutismus vor allem, dass die Spieler daran gehindert werden, selbst den Verlauf der Handlung mit zu bestimmen. Viele von ihnen wollten seinerzeit auch den vergleichsweise klassischen Regelwerken und Genres entkommen, die im Story-Absolutismus vorherrschten (dies haben sie mit Drama-Spielern gemeinsam).

Die Mehrzahl des Team pbtA hat an Drama-Spiel kein Interesse, da man einerseits die Planung und die ausgearbeitete Backstory als einschränkend empfindet, und sich andererseits, im Gegensatz zu Drama-Spielern, nicht so daran stört, wenn es mal widersprüchliche Referenzen auf die Backstory gibt, oder wenn die Gründe für überraschende Wendungen und Entscheidungen mal unklar bleiben.

Hier würde ich heftig widersprechen. Der Kern dieser Spiele ist ja gerade, dass die Wendungen die im "klassischen" Dramaspiel eingebracht werden dekonstruiert und transparent gemacht werden. Wo normalerweise Hemmungen bestehen bestimmte Storywendungen in das Spiel einzubringen (besonders wenn diese andere Charaktere betreffen) hat man sich durch das Spielen von PbtA darauf geeinigt, diese an die Würfel auszulagern. Trotzdem habe ich noch bei keiner Dramarunde einen so starken Fokus darauf erlebt, dass "erspielte" Zusammenhänge und Kausalitäten gründlich festgehalten und "kartografiert" werden, damit zukünftige Beiträge diesen nicht widersprechen (entsprechend wird auch mit Fortschreiten einer PbtA-Kampagne immer weniger gewürfelt - weil Moves nichts simulieren, sondern Unsicherheiten bei der Storygestaltung abfangen... und wenn sich die Kausalitäten und Handlungszusammenhänge einmal herausgebildet haben, werden diese immer weniger benötigt).

Deswegen widerspreche ich auch recht deutlich:
Zitat
Simulierende Regeln haben dennoch einen Wert für Drama-Spiel, da sie eine Verkörperung des Prinzips von Ursache und Wirkung darstellen. Und das Prinzip von Ursache und Wirkung zu respektieren, wird meistens als wesentliches Merkmal einer guten Geschichte angesehen.

Simulierende Würfelwürfe (im Sinne von "der Rollenspieldesigner hat sich [innerhalb der sehr begrenzten statistischen Datenmenge] angeschaut wie oft bestimmte Ereignisse eintreten und diese Wahrscheinlichkeiten in sein System verbaut") halte ich für sehr schlecht geeignet für eine gute Geschichte. Kausalität in Geschichten folgt nicht unbedingt der Kausalität in der Realität, was dazu führt dass man oft "tote" Ergebnisse bekommt, welche absolut nichts zur Geschichte beitragen. Und wenn alle am Tisch eine gemeinsame Vorstellung haben wie man jetzt in der Geschichte mit einer schönen Schleife zum Ende bringen könnte, und dann kommt der statistisch unwahrscheinliche Ausreißer, dann ist das auch nicht wirklich befriedigend.

Zitat
6) Die seinerzeitige Dominanz der Idee, “gutes Rollenspiel” sei gleichbedeutend mit “gute Geschichte”, entsprach also nie den tatsächlichen Vorlieben der Mehrheit derer, die sich ernsthaft für Rollenspiel interessierten. Nicht einmal unter denjenigen mit erzählerischer Neigung. Drama-Spiel war nie als generelles Leitbild für erzählerisches Rollenspiel geeignet. Zwar mag Einbahnstraßen-Drama-Spiel durch den Spielleiter für Casual Gamers unterhaltsam sein. Doch es musste bei Spielern, die aktiv und mit eigener Agenda Rollenspiel spielen wollten, zwangsläufig auf Widerstand stoßen. Story-Absolutismus stellt den Versuch da, ebendiesen Widerstand zu brechen. (Hätte ich jetzt nicht unbedingt für den naheliegendsten Ansatz gehalten aber tja.)

7) Es gibt echte Drama-Spieler, und es gibt gutes, sogar sehr gutes Drama-Spiel, bei dem niemand zu irgendwas gezwungen wird und bei dem alle Beteiligten ihre erspielte Geschichte rückblickend wirklich als gute Geschichte bewerten. Doch dieser Spielstil teilt eine gemeinsame Historie und auch das Leitbild der “guten Geschichte” mit dem Story-Absolutismus. Daher begegnen ihm viele Rollenspieler, die negative Erfahrungen mit Story-Absolutismus gemacht haben, äußerst skeptisch.

Das möchte ich gegenüberstellen mit der Einleitung deines Posts:
Zitat
1) Es gibt einen Spielstil, den ich als Drama-Spiel bezeichnen möchte, bei dem es den Beteiligten wesentlich darum geht, durch das Rollenspiel eine gute Geschichte zu erzählen. Das setzt voraus, dass es Kriterien gibt, gute und schlechte Geschichten zu unterscheiden. Diese Kriterien mögen von Drama-Spielgruppe zu Drama-Spielgruppe etwas variieren, leiten sich aber prinzipiell von den Kriterien ab, die auch ein Redakteur an einen Roman oder ein Drehbuch anlegen könnte. [...]
2) Um am Spieltisch, im One-Take, kollaborativ mittels der Methode Rollenspiel, eine gute Geschichte erzählen zu können, muss man planen. “Play with a plan” (danke KhornedBeef :D ), denn Pläne sind nutzlos, aber Planung ist alles. Diese Planung erfordert von allen Beteiligten Arbeit im Vorfeld, und je nach persönlichem Prozess und Anspruch kann der geforderte Invest sehr hoch sein. Wenn man die Neigung dafür mitbringt, und Mitspieler mit gleicher Neigung und guter Chemie hat, die als Gruppe zusammenarbeiten, dann kann dies eine extrem intensive und begeisternde Form des Rollenspiels sein.

Zusammenfassend also mein Eindruck:
1) Du sagst dass es Kriterien für "gute" und für "schlechte" Geschichten gibt. Aber du lehnst Dekonstruktion dieser Kriterien ab, willst im Spiel nicht darüber reden, sondern erst hinterher.
1a) Die Kriterien entstehen dadurch, dass die Teilnehmenden einer Runde dieselben Bücher über Dramatheorie gelesen haben, und sind daher intersubjektiv für die spezifische Runde.
1b) Daneben gibt es noch eine interpersonelle Komponente "gute Chemie", welche schwieriger zu fassen ist.
2) Alle Spielteilnehmenden sollen sich "im stillen Kämmerlein" einen groben Plan für die Geschichte zurechtlegen, aber dann nicht erwarten diesen Plan auch im Spiel umzusetzen. Sie sollen erstmal schauen, ob sich eine Gelegenheit ergibt eines von ihren "eckigen" Planfragmenten in das "runde" Loch in den Zwischenräumen zwischen dem, was die anderen Spielteilnehmenden so eingebracht haben - wenn das gelingt, dann ist das ein euphorisches Erlebnis, so als hätte man ein Tor im entscheidenden Moment geschossen.
3) Das System soll nach dem Prinzip "Wenn A, dann B" funktionieren und eine Kausalitätskette produzieren, an welcher die Teilnehmenden ihre Pläne aufhängen können. Eine Transparentmachung (Wikis, R-Maps, offene Plotstränge, und was Jiba sonst noch gefragt hat) findet innerhalb der Runde nicht statt, sondern machen die Teilnehmenden jeweils für sich. Das erinnert mich an eine komplexere Variante des Spiels "Wer ist es?", wo man versucht sich an das Bild dass sich die anderen Spielenden vom Geschehen in der Runde machen (wie sie die Geschehnisse interpretieren und was sie denken, was als nächstes passieren könnte) heranzutasten, indem man verschiede Ansätze (basierend auf den o.g. Kriterien) ausprobiert. Auch das ist befriedigend, weil man merkt, wenn man "auf einer Wellenlänge" liegt.
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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #46 am: 20.11.2023 | 17:03 »
Kann es sein, Vermi, dass du immer nur Sitzung 1 gespielt hast?

Weitgehend, habe aber mal eine volle Season City of MistMonsterhearts gespielt. Sicherlich tue ich mich schwer damit, pbtA zu beschreiben, da ich es eben nicht mag. Ich bemühe mich um Fairness.

Den Punkt Umfang der Vorbereitung sollte ich wohl ganz rausnehmen, da dieser irreführend zu sein scheint. Definierend ist nicht der Umfang der Vorbereitung, sondern "play with a plan" vs. "play to find out". Nicht das Vorhandensein einer Backstory ist entscheidend, sondern wie stark das Geschehen In-Game sich aus dieser Backstory ableitet und auf diese rückbezieht, wie wesentlich die Inputs der Spieler zur Backstory im Vergleich zu den Inputs am Spieltisch sind.
« Letzte Änderung: 20.11.2023 | 17:27 von Lord Verminaard »
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Offline Jiba

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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #47 am: 20.11.2023 | 17:07 »
Weitgehend, habe aber mal eine volle Season City of Mist gespielt. Sicherlich tue ich mich schwer damit, pbtA zu beschreiben, da ich es eben nicht mag. Ich bemühe mich um Fairness.

Ja, nun ist "City of Mist" auch nicht eben das "trvste" PbtA auf dem Planeten.  ;)
Das ist zugleich eines mechanisch überbordendsten und SL-zentriertesten PbtAs, die es so gibt.

Interessant zum Vergleich könnten Spiele wie "Legacy", "Urban Shadows" oder auch PbtA-Derivate wie die "Belonging Outside Belonging"-Spiele sein (die quasi völlig freeform sind). 
Engel – ein neues Kapitel enthüllt sich.

“Es ist wichtig zu beachten, dass es viele verschiedene Arten von Rollenspielern gibt, die unterschiedliche Vorlieben und Perspektiven haben. Es ist wichtig, dass alle Spieler respektvoll miteinander umgehen und dass keine Gruppe von Spielern das Recht hat, andere auszuschließen oder ihnen vorzuschreiben, wie sie spielen sollen.“ – Hofrat Settembrini

Offline Lord Verminaard

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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #48 am: 20.11.2023 | 17:25 »
Soweit Zustimmung, bis auf den markierten Satz. Die meisten Spielenden haben entweder das Hobby verlassen oder sind zu einem anderen Spielendentypus abgedriftet: wirklich Casual sind imo die wenigsten von ihnen geblieben.

Ich wollte damit auch nicht aussagen, dass diese Spieler für alle Ewigkeit weiter als Casual Gamers Rollenspiel spielten. Sicherlich haben die meisten längst wieder aufgehört, oder spielen nur noch sehr sporadisch, wenn ihr alter SL noch mal einlädt. Worum es mir ging war, dass sie jedenfalls nicht anfingen, sich ernsthaft für Rollenspiel zu interessieren.

Zum Rest: Du gehörst zu den Leuten, die nicht glauben, dass es objektiv gute und objektiv schlechte Drehbücher gibt, und die es für reine Ansichtssache halten, ob eine bestimmte Entscheidung eines Charakters oder eine bestimmte Wendung der Geschichte glaubwürdig ist oder nicht. Demnach siehst du auch keinen qualitativen Unterschied zwischen einer erwürfelten überraschenden Wendung, die spontan rückwirkend plausibilisiert wird, und einer sorgfältig vorbereiteten, fest in der Backstory verankerten und planvoll in eine Dramaturgie eingebettete Wendung. Folgerichtig meinst du, dass meine gesamte Spielphilosophie auf Sand und Einbildung gebaut ist. Das kann ich nur so hinnehmen, und sagen, ich bin der diametral entgegengesetzten Ansicht.

Ich sehe aber, dass du dich um eine unvoreingenommene Betrachtung bemüht hast und darum, aus deiner Perspektive eine so wohlwollende Beschreibung meines Spielstils abzugeben, wie möglich. Das ist ehrenwert und unter den gegebenen Differenzen gut gelungen, trotzdem finde ich mich darin nur sehr bedingt wieder. :)
« Letzte Änderung: 20.11.2023 | 17:35 von Lord Verminaard »
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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #49 am: 20.11.2023 | 17:27 »
Ja, nun ist "City of Mist" auch nicht eben das "trvste" PbtA auf dem Planeten.  ;)
Das ist zugleich eines mechanisch überbordendsten und SL-zentriertesten PbtAs, die es so gibt.

Hiervon verunsichert, habe ich noch mal nachgesehen, und muss mich korrigieren: Es war Monsterhearts. Es gab eine parallele City of Mist Runde, aber in der habe ich gar nicht mitgespielt...
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