Ich habe jetzt mal so 6-7 Tracks von Wardruna angehört, die Youtube mir ausgespuckt hat. Und ich kann total verstehen, dass das Leute abholt und als Hintergrund für Rollenspiellektüre oder gar Spielsitzungen taugt. Das ist durchproduzierter, nordisch anmutender Folkpop, der derart viele Klischees bedient, dass man kaum nicht abgeholt werden kann. Dadurch ist das mitreißend, schmissig, und, wenn man es negativ ausdrücken wollen würde, niedrigschwellig. Schon allein die trible drums gehen einem ins Ohr wie Öl, wir sind ja auf beats geeicht.
Die alten Instrumente bringen nette Farben, und dafür, dass es Pop ist, ist das klanglich sehr geschmackvoll und differenziert produziert. Im Bass klingt oft ein Streichinstrument, das extrem nach Cello in tiefer Lage, eigentlich eher nach einem Kontrabass klingt. Würde mich interessieren, was das tatsächlich für ein Instrument ist, da ich aus dem Mittelalter keine derart fetten Bassstreichinstrumente kenne.
Dass das klanglich reizvoll aufbereitet ist, heißt allerdings nicht, dass dieser Klang tatsächlich irgendwie historisch authentisch wäre. Ohne Mikros, elektronische Verstärkung und Abmischung am Soundpult würde diese Musik gar nicht funktionieren. Schon allein die fetten Bässe dürften mit mittelalterlichen Instrumenten nicht machbar gewesen sein. Hört man sich authentische, nicht elektrisch verstärkte Folksmusiken rund um den Globus an, trifft man nur in großen Ausnahmefällen fette Bässe an (und das sind dann meistens Blasinstrumente).
Harmonisch ist das auch modern produziert, vor allem wenn zwei- oder mehrstimmig gesungen wird, folgt das funktionaler Harmonik, und wenn es mal kurz modal wird, dann ist das eher ein Folkzitat, aber keine echte, konsequente Modalität. Die funktionale Harmonik hat sich erst ab dem sehr späten 16. Jahrhundert entwickelt, ist quasi das Gründungsmanifest des Barock und fast aller nachfolgenden Musikepochen und auch des Musikantenstadls, sogar das Bluesschema entspricht eins zu eins der funktionalen Kadenz. Im Mittelalter war das jedoch genauso wenig erfunden wie die Kartoffel.
Die sechs oder sieben Songs, in die ich reingehört habe, hatten alle auch keine Texte, die auf mich wie altnordische Poesie gewirkt hätten. Aber ich kenne zugegebenermaßen auch nicht so sehr viel altnordische Poesie.
Mich persönlich hat bei den sechs, sieben Songs, die ich gehört habe, gestört, dass sie eigentlich alle nach demselben Schema aufgebaut waren. Am Anfang Naturgeräusche, dann kommen nach und nach Instrumente und Gesang hinzu, das baut sich dann hymnisch über sechs bis acht Minuten auf, bisschen wie der Boléro von Ravel. Da hätte ich mir etwas mehr Varianz gewünscht. Auf den pathetischen Gestus, den das hat -- zumal wenn man die Videos dazu schaut --, würde ich auch gerne verzichten.
Was mir die Tage auch mal durch den Kopf ging: Bei manchen dieser Bands, die sich vom Mittelalter inspirieren lassen, erklingen so tiefe "Wikingerstimmen", die ins Mikro raunen. In Game of Thrones hört man ja auch mal so eine Vertonung -- Rains of Castamere? Ich merke mir so was ja immer nicht -- mit tief dräuendem Schicksalsbass. Und mir ist jetzt aufgefallen, weshalb ich da immer ein Unbehagen, eine misstrauische Abwehr empfinde. Wenn ich Aufnahmen tatsächlich überlieferter mittelalterlicher Musik anhöre, höre ich nur wenige solcher tiefer Männerstimmen, und wenn, dann haben sie im mehrstimmigen Gesang die Aufgabe, die Borduntöne oder den gregorianischen cantus firmus zu singen, also das Fundament zu liefern. Singen sie solistisch, dann raunen sie nicht. Sie machen es schon alleine deshalb nicht, weil sie sonst niemand gehört hätte. Wer eine professionell, klassich ausgebildete tiefe Männerstimme hat, der kommt neben einem Dudelsack durch, vermutlich sogar, wenn er piano singt. Wer das nicht ist, kein Mikro hat und dazu noch verhängnisdräuend raunt, hat keine Chance, und die labernden Leute in der Schänke würden vermutlich gar nicht merken, dass da jemand gerade versucht, ein Lied zu singen. Ich bin der festen Überzeugung, dass tiefe Männerstimmen außerhalb der Kapellen von Kirche und Adel ohnehin die Ausnahme waren, die die Regel bestätigen. Auch die Wikinger werden eher mit hoher, weit tragender Stimme geschmettert haben ähnlich wie die Gondolieri in Venedig.
(Dieser Gedanke zu tiefen Männerstimmen hat keinen Bezug zu Wardruna, wo kein tiefes Männerraunen vorherrschend ist.)