Ich habe eine Weile Guillaume de Machaut gehört, ein Komponist des ausgehenden Mittelalters, der der Ars Nova zugeschrieben wird.
Kleiner Exkurs für Leute, die Mithören und Mitdenken wollen:
Im 12./13. Jahrhundert befindet sich die Musikgeschichte in einer Phase, die heute Ars Antiqua genannt wird. Es wird zwar bereits mehrstimmig komponiert, aber es gibt noch keinen Weg, Noten zu notieren, denen man ansieht, was sie für eine Länge besitzen. Rudimentär lassen sich Rhythmen nur als sogenannte "Modi" notieren... etwa so:
betont-unbetont-unbetont-betont-betont
betont-unbetont-unbetont-betont-betont
etc.
Es gibt ein paar dieser Modi, die durchnummeriert werden. In der damaligen Notenschrift findet sich dann oft ein Hinweis darauf, welcher Modus für den jeweiligen Abschnitt verwendet werden soll.
Das Verfahren gerät aus heutiger Sicht schnell an seine Grenze. Es ermöglicht nämlich nicht die Synchronisation mehrerer unabhängiger Stimmen. Alle Stimmen müssen im gleichen Rhythmus voranschreiten (...manchmal allerdings wird einfach als Bassstimme ein sehr, sehr langer Liegeklang druntergelegt).
Erst in der Ars Nova (14. Jhd.) lassen sich Noten so schreiben, dass man ihnen ansehen kann, wie lang sie sind. Das sind dann Vorformen unser heute gebräuchlichen Ganzen, Halben, Viertel, Achtel, etc. In dem Moment, in dem das möglich ist, setzt eine Experimentierphase ein. Die Komponisten entdecken neue Möglichkeiten und probieren aus, was man alles damit machen kann. Es entstehen teilweise verrückt komplizierte Stücke, deren kompositorisches Kalkül sich mit dem Ohr nicht mehr fassen lässt. Einer dieser Neuerer ist Guillaume de Machaut.
Heute bin ich über sein Stück "Ma fin est mon commencement" gestolpert. Mein Französisch ist nicht gut, mein Altfranzösisch nicht vorhanden, aber ich habe im Netz eine englische Übersetzung des Textes gefunden. Hier meine Übertragung des Textes ins Deutsche:
Mein Ende ist mein Anfang
und mein Anfang ist mein Ende
Daran halte ich fest,
Mein Ende ist mein Anfang
Meine drei Stimmen kehren sich nur
dreimal um und enden dann
Mein Ende ist mein Anfang
und mein Anfang ist mein Ende
Was ist das? Ein Songtext oder eine Aufführungsanweisung?
Ich habe erstmal zugehört und festgestellt, dass der Untertitel des Stücks "Canon retrograde à trois voix" lautet (dt. etwa: Krebskanon zu drei Stimmen, "Krebs" bedeutet "von hinten nach vorn"). Wenn ihr wollt, hört euch das Stückchen auch mal an und versucht einen Bezug zwischen Text und Musik zu erkennen. Im spoiler findet ihr das, was ich glaube herausgefunden zu haben.
Guillaume de Machaut: Ma fin est mon commencementErster Befund: Das ist kein Kanon. Jedenfalls nicht so einer, wie heute üblich, denn alle drei Stimmen singen sofort gleichzeitig.
Zweiter Befund: Das Stück besteht aus 8 Abschnitten, die durch kurze Pausen voneinander getrennt sind. Der Text hat 8 Verse. Aha!
Dritter Befund: Die Abschnitte klingen sehr ähnlich, wenn nicht sogar gleich. Ich höre genauer hin und stelle fest...
Vierter Befund: Jeder dieser Abschnitte umfasst genau 20 Takte. Manchmal geht es danach von neuem von vorne los, manchmal entspricht aber der erste Akkord des folgenden Abschnitts dem letzten Akkord des eben verklungenen. Es hört sich für mich so an, als würden einige Abschnitte rückwärts laufen, was ja auch wunderbar zum Text passt. Ich achte sicherheitshalber noch auf ein paar auffällige Takte, in denen nur ganze Noten erklingen, die Musik also für einen Moment stillsteht, und erkenne, dass mein Eindruck korrekt ist.
Fünfter Befund: Ich höre mit, welche Durchgänge vorwärts und welche rückwärts verlaufen. Es ergibt sich folgendes Schema:
Verse 1 + 2: ><
Verse 3 + 4: >>
Verse 5 + 6: ><
Verse 7 + 8: ><
Und jetzt? Warum erklingt immer ein Vorwärtsdurchgang und ein Rückwärtsdurchgang hintereinander, nur nicht beim dritten und vierten Vers? Darüber habe ich eine Weile nachgedacht. Dann habe ich meine Übersetzung zugeordnet:
Verse 1 + 2: >< Mein Ende ist mein Anfang und mein Anfang ist mein Ende.
Verse 3 + 4: >> Daran halte ich fest, mein Ende ist mein Anfang.
Verse 5 + 6: >< Meine drei Stimmen kehren sich nur dreimal um und enden dann.
Verse 7 + 8: >< Mein Ende ist mein Anfang und mein Anfang ist mein Ende.
Sechster Befund: Wenn sich die Stimmen dem Text gemäß bei vier Verspaaren nur dreimal umkehren, dann muss der Komponist wohl einmal darauf verzichten. Wo tut er das? Bei den Versen 3 + 4, den einzigen Versen, wo zwar wie sonst auch von der Vertauschbarkeit der Bewegungsrichtung, aber nicht ausdrücklich von einer Gegenüberstellung von Vorwärts und Rückwärts die Rede ist.
Ich liebe solche Spiele und freue mich über diesen schönen Vormittag.