Vor vielleicht 25 Jahren wohnte ich mit einem Franzosen zusammen in einer WG. Er erzählte mir und unseren Mitbewohnern einmal von einer Begebenheit in Paris. Er hat dort in einem Restaurant als Kellner gearbeitet und unter einem ziemlich strengen Chef gelitten, der stets nach Fehlern Ausschau hielt, die seine Bediensteten möglicherweise machen könnten. Eines Tages stand ein Mann im Restaurant, der ihm irgendwie bekannt vorkam und mit seinem Chef zusammen einen Kaffee trank. Wenig später ging ihm ein Licht auf. Es war der berühmt berüchtigte Skandalchansonnier Serge Gainsbourg. Weil der Mann damals eine wirklich allseits bekannte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens gewesen ist und sich dann auch noch als Bekannter seines Chefs entpuppte, war mein Mitbewohner ziemlich nervös, als er ihn bediente. Gainsbourg bestellte zwei Whiskey. Als mein Mitbewohner beim nächsten Mal an seinem Tisch vorbeikam, stand einer der Whiskeys vor seinem Chef, der andere vor Gainsbourg selbst. Sie waren aber beide noch nicht angerührt. Mein Mitbewohner wurde nervös... „Warum trinken die nicht? Stimmt irgendetwas nicht?“ Er musste noch zwei oder dreimal an Gainsbourg vorbei und die beiden Whiskeys blieben wie sie waren. Irgendwann winkte Gainsbourg meinen Mitbewohner erneut herbei und sagte ihm, er solle einen dritten Whiskey holen. Mein Mitbewohner fing an zu schwitzen, stotterte und fragte Sachen wie „Aber warum? Haben Sie einen bestimmten Wunsch? Stimmt etwas nicht mit dem Whiskey?“, worauf Gainsbourg nur sagte: „Ein dritter Whiskey!“ Mit leicht schlotternden Knien brachte mein Mitbewohner einen dritten Whiskey. Gainsbourg nahm ihn und stellte ihn vor meinen Mitbewohner. Dann sagte er: „Trink mit uns!“ Das aber war nun das absolute Kapitalverbrechen! Trinken bei der Arbeit! Unter normalen Umständen wäre mein Mitbewohner bei einem solchen Vergehen sofort entlassen worden. Unsicher schaute er zu seinem Chef, der ihm aber mit verkniffenen Lippen knapp zunickte. Dann trank mein Mitbewohner einen Whiskey mit seinem Chef und Serge Gainsbourg. Und das war alles. Danach arbeitete er weiter, als wäre nichts geschehen.
Gainsbourg wirkte auf mich immer wie einer dieser Typen, die das Leben in eine Theaterinszenierung verwandeln. Der wichtigste Ort auf der Welt ist selbstverständlich der, an dem sie sich gerade befinden. Alles dreht sich um sie, und dafür müssen sie auch keinen Finger rühren. Es reicht ihre Anwesenheit, ihre „Aura“, wenn man so will, die allen anderen Menschen, die ihnen begegnen, deutlich macht, dass es sich bei dieser Begegnung um einen ganz toll aufregenden Moment handelt.
Gestern habe ich eine Serge Gainsbourg CD aus dem Jahr 1976 gehört („L’Homme à tête de chou"). Ich fand sie sehr schlecht. Der Mann singt nicht oder kaum, meistens spricht er nur mehr oder weniger in einem rauen Flüsterton irgendwelches hanebüchene Zeug vor sich hin. Die Begleitmusik plätschert manchmal nichtssagend vor sich hin, manchmal ist sie auch langweilig schlagerhaft oder aufdringlich-billig kirmesmusikmäßig. Manchmal spielt eine Gitarre zwischendurch Soli, die nach Rock klingen und einen ziemlich verzerrten Sound haben, was die Sache auch nicht besser macht, weil sie stilistisch zum Rest gar nicht dazu passen.
Ich erinnerte mich an meinen Mitbewohner und dachte: „Wenn Serge nicht vor dir steht, ist die Aura weg und die Leere kommt zum Vorschein. Es bleibt nichts übrig von dem Mann.“ Ich habe eine Weile gewartet, aber die Musik wurde nicht besser. Dann fiel mir ein, dass es da ja noch ein paar Jahre früher mal diesen Skandal-Hit gab: „Je T´aime... Moi Non Plus“. Serge Gainsbourg und Jane Birkin erzählen von Orgasmen, stöhnen ins Mikrophon als hätten sie Sex und dazu läuft Musik. War 1969 immerhin ein gutes halbes Jahr in den Charts: England Platz 1, Deutschland Platz 3.
Ich sagte mir: „Komm, hör´s dir nochmal an, dann kannst du den Typen vergessen und abhaken“. Also rief ich den entsprechenden Youtube-Clip auf und hörte zu. Dabei ist etwas Seltsames geschehen. Je länger der Song lief, desto besser fand ich ihn. Mir war dieses bescheuerte Luststöhnen diesmal völlig egal. Ich hörte nur auf die Musik... und war doch etwas überrascht.
Das Vorspiel des Songs beginnt, wie eine stinknormale Beatnummer. Die Stufen der verwendeten Akkorde lauten I-IV-V-IV, haben also einen leichten Bluestouch. Ansonsten Standardware. Auch die Form ist nicht gerade aufregend: Nach vier Takten Intro folgen sechs völlig gleich aufgebaute Strophen aus zwei Teilen mit je 8 Takten. Im ersten Teil wird gestöhnt und gesprochen, im zweiten Teil wird (ansatzweise) gesungen. Dazu erklingt eine etwas banale Melodie von einer Orgel gespielt. Spannend finde ich allerdings, dass der Song zwar in Dur steht, zwischendrin aber immer wieder Mollakkorde auftauchen. Im ersten Durchgang kann man das bei 0:17 – 0:24 („Moi non plus – Oh, mon amour“), 0:30 – 0:32 („...irrésolu“), 0:39 – 0:44 und 0:49 – 0:54 („entre tes reins“) hören. Die Musik findet zwar immer wieder nach Dur zurück, nutzt aber jede Gelegenheit, um nach Moll auszuscheren, unter anderem kommt auch ein Trugschluss zum Einsatz. Dazu erklingen jazzige Major7-Akkorde und klassische Quartvorhalte. Alles in allem werden durchaus einige musikalische Mittel gekonnt eingesetzt um diese leichte Melancholie zu erzeugen, die die Klänge hervorrufen.
Ich war erstaunt. Dann habe ich gleich mal nachgesehen, wer der Komponist ist... und wer hätte es gedacht: Die Musik ist von Serge Gainsbourg selbst. Interessant, dachte ich. Der Mann hatte Ahnung von Musik. Er hat einen hübschen Song geschrieben, der ganz und gar keine Massenware darstellt, sondern ein paar wirklich gekonnte Harmonieverbindungen aufweist. Dann hat er sich mit einer Frau ins Studio gestellt, mit ihr zusammen gestöhnt und ein paar schlüpfrige Verse gestammelt. Nach der Veröffentlichung des Songs war das eben Gainsbourgs „Sex-Nummer“ und so gut wie niemand hat mehr darauf geachtet, dass es sich eigentlich um einen sehr schönen aparten Song handelt.
Als ich das begriffen habe, tat mir der Serge besonders leid. Es reichte nicht, einen guten Song abzuliefern. Es musste der Skandal her. Damit ist er dann in die Charts gekommen. Und weil das geklappt hat, hat er sich hinterher offensichtlich auch gar nicht mehr darum bemüht, gute Songs zu schreiben. Irgendwann ist dann die ganze Bohemien-Skandal-Blase geplatzt, hat einen kleinen Puff heiße Luft entweichen lassen und das war´s.
Vielleicht hätte der Mann noch einige schöne Songs schreiben können. Der Skandal war ihm aber wichtiger. So etwas macht mich traurig.
Jane Birkin et Serge Gainsbourg: Je T'aime,...Moi Non Plus