Ich habe seit Ewigkeiten ´mal wieder ein erwähnenswertes Miles Davis Album entdeckt, das ich noch nicht kannte. Es ist die 4 CD Box Miles Davis Live in Paris. Die ersten beiden CDs enthalten einen Auftritt vom 21. 3. 1960, die beiden letzten einen Auftritt vom 11. 11. 1960. Besonders der erste Auftritt ist bemerkenswert, weil er geradezu exemplarisch vorführt, in was für einer Umbruchsituation sich der Jazz zu dieser Zeit befunden hat.
Ich verlinke hier den ersten Track des Albums: All of You. Es ist ein alter Standard, den Miles Davis etliche Male eingespielt hat.
Miles Davis Quartet 1960 live in Paris: All of YouHier eine Formübersicht über die Aufnahme:
0:00 Thema (Miles Davis spielt die Melodie)
0:30 Solo Section I (Miles Davis, tp)
3:58 Solo Section II (John Coltrane, ts)
9:32 Solo Section III (Wynton Kelly, p)
14:20 Solo Section IV (Miles Davis, tp)
1960 hat Miles Davis schon Erfahrung mit modalem Jazz gemacht. Das "Kind of Blue"-Album, auf dem auch John Coltrane mitwirkt, ist schon veröffentlicht. Trotzdem spielt Miles Davis in Konzerten eine Weile lang noch bevorzugt ältere Standards, die aufgrund ihrer traditionellen Akkordfortschreitungen für die neue, modale Spielweise nicht wirklich geeignet sind. Miles Davis fällt bei diesen Gelegenheiten gern in eine Spielweise zurück, die er im Cool Jazz ausgiebig angewendet hat. Das zeigt er uns hier in seinem ersten Solo, das relativ unspektakulär daherkommt.
Und jetzt Ohren auf für den eifrigen Stürmer und Dränger an Miles Davis´ Seite! John Coltrane startet sein Solo sofort in einem höheren Aktionstempo und haut uns einige fragmentartige Melodiefetzen um die Ohren, die mit klassischer Melodiebildung nicht mehr viel zu tun haben. Hört euch an, wie er nach gut 30 Sekunden an ausgewählten Stellen kleine Geräuschanteile in sein Spiel einbaut! Ab 5:10 nehmen die dissonanten Klänge zu, die schnellen Tongirlanden werden länger, wollen schier nicht enden. Wenn John Coltrane ab 8:37 den Höhepunkt seines Solos erreicht hat, setzt er eine geräuschhafte, dissonante Überblastechnik ein. Seine Töne fallen an dieser Stelle völlig aus dem Stück, was seine weiterhin tapfer swingende Rhythmusgruppe veranstaltet, interessiert ihn gar nicht mehr. Er ist irgendwo anders gelandet... an einem Ort, an den ihm zumindest zu dieser Zeit an diesem Ort noch niemand folgen kann. Bitte unbedingt darauf achten, was das Publikum in der letzten Minute von John Coltranes Solo anstellt. Die Typen hören zu und fühlen das Bedürfnis, den Moment zu kommentieren. Ich interpretiere die Pfiffe eher als Entrüstung, auch wenn am ganz Ende des Solos brav geklatscht wird. Das Publikum kann John Coltrane von der "Kind of Blue" gekannt haben, so einen Auftritt hatte er dort allerdings nicht.
Das folgende Klaviersolo beinhaltet zwei hübsche Steigerungen, bleibt aber relativ traditionell. Wynton Kelly konnte oder wollte an Coltranes Solo nicht anknüpfen.
Miles Davis aber, der alte Fuchs, scheint mitbekommen zu haben, was Coltrane da eben gemacht hat. Und so enthält sein abschließendes Solo zwar keine vergleichbaren Affronts, aber doch ein paar Besonderheiten - zu erwähnen sind die häufigen langgezogenen fallengelassenen Töne und chromatischen Abwärtsgänge in die Tiefe (besonders ab 16:20), die aus den Skalen der Nummer herausfallen und zeigen, dass der Meister weiß was geschehen ist und auf seinen jungen Heißsporn einzugehen versteht. Interessanterweise erklingt am Schluss auch nicht noch einmal das Thema, was traditionsgemäß eigentlich zu erwarten wäre. Diese
Vorhang-zu-Geste schien Miles Davis nach dem Ereignis möglicherweise ein bisschen billig. Lediglich in den allerletzten Takten steuert er wieder die Schlusswendung an, sodass die Nummer mit einem vertrauten Eindruck enden kann.
Nach der Europatournee von 1960 hat sich Coltrane übrigens vom Miles Davis Quintett getrennt und Alben unter eigenem Namen aufgenommen. Wer diese Aufnahme kennt, weiß auch warum. Hier will jemand nach vorn und lässt sich von nichts und niemandem aufhalten. Tolles Tondokument, wie ich finde!