Der Jazzsaxophonist Jan Garbarek hat 1993 mit dem Hilliard Ensemble die CD Officium aufgenommen. Die Aufnahme war so erfolgreich, dass sie damals in den deutschen Pop-Charts gelandet ist. Ich habe die CD kurz nach ihrer Veröffentlichung erstanden und fand sie bei den ersten zwei oder drei Hördurchgängen damals durchaus gefällig, dann aber stellte sich allmählich ein Unbehagen ein.
Heute ein Wiederhören nach langer Zeit und der Versuch, mein Problem in Worte zu fassen.
Das Prinzip der Aufnahme ist schnell erklärt: Das Hilliard Ensemble bildet für die Aufnahme ein vierstimmiges Vokalensemble, das Kompositionen aus Mittelalter und Renaissance singt. Jan Garbarek improvisiert dazu auf dem Tenor- oder Sopransaxophon.
Was stört mich? Erstmal vielleicht die Haltung: Seht her, ich brauche keine Jazzband um zu improvisieren! Ich kann sogar zu Musik improvisieren, die mit Jazz überhaupt nichts zu tun hat! Ein paar Girlanden hier und da und ein paar verklingende Liegetöne passen doch eigentlich immer!
Das Problem ist, dass auf der CD keine gleichberechtigte Begegnung stattfindet: es ist eine Annektierung der alten Musik durch den Jazz. Die Qualitäten der alten Kompositionen kommen kaum zur Geltung, spielen auch keine Rolle. Sie liefern ein wenig archaische Stimmung, darüber kann sich Garbarek selbstverwirklichen.
Auf der CD musizieren zwar fünf Personen, da das Vokalquartett aber klanglich perfekt verschmilzt, das Saxophon sich aber abhebt, haben wir es eher mit einem Duo „Jan Garbarek und Hilliard Ensemble“ zu tun. Die ganzen vielstimmigen Bewegungen der Vokalkompositionen verlieren sich durch den Kontrast zum Saxophon.
Eigentlich liebe ich diese Musik am Übergang von Ars Antiqua zu Ars Nova. Das ist vermutlich mein Problem. Ich liebe ganz besonders die Musik von Guillaume Dufay. Auch sein „Ave Maris stella“ ist hier dem Crossover zum Opfer gefallen. Garbarek überlässt die kurzen einstimmigen gregorianischen Strophen dem Hilliard Ensemble, bei den längeren dreistimmigen Strophen schaltet er sich ein und spielt irgendwelche mehr oder weniger einfallsreichen Melodien dazu, die dasselbe Tonmaterial verwenden. Am Ende schiebt er ein paar Töne dazwischen, die aus der Tonart herausfallen und bewirkt so eine vordergründige Aufmerksamkeit seiner Hörer. Ein bisschen billig, wie ich finde.
Leider kann man die CD nicht umsonst im Netz anhören.
Hier aber immerhin Folgendes:
1. Einmal das Stück von einem anderen Vokalensemble ohne Saxophon-Zugabe:
Guillaume Dufay: Ave Maris Stella (Blue Heron)2. Einmal ein kurzer, 30-sekündiger Werbeschnipsel des Stückes. Man klicke Track Nummer 12 an.
Guillaume Dufay: Ave Maris Stella (Jan Garbarek & The Hilliard Ensemble)3. Einmal eine Liveaufnahme Garbareks und des Hilliard Ensembles mit einem anderen Stück von der CD, die einen ungefähren Eindruck von der Herangehensweise vermittelt.
Anonymous: Pulcherrima rosa (Jan Garbarek & The Hilliard EnsembleJeder höre wie er will. Ich will Renaissancemusik ohne Saxophon!