Ich war einmal auf einem Seminar in Rom. Es war etwas schwierig für mich, denn der Dozent war Franzose und hat auch französisch gesprochen, um mich herum waren ein paar Franzosen und Italiener, dann gab es noch einen Amerikaner und mich. Zwei sehr, sehr nette Italiener haben mir so gut es ging übersetzt, was der Mann erzählt hat, aber mein Kommunikationsvermögen war eingeschränkt.
Das hat mir Zeit gegeben, mich umzusehen. Wir waren in einer alten Villa, die aber neu restauriert worden war. Die Wände sahen fast so aus, als seien sie noch nicht ganz fertig. Ein Großteil ihrer Fläche war bereits weiß gestrichen, aber an einigen Ecken schauten noch rechteckige Holzreste aus dem Stein hervor, auf denen offenbar die Farbe nicht hielt. Seltsamerweise hingen auch noch an den unterschiedlichsten Stellen kleine Tapetenreste... vielleicht von der Tapete, die der Raum vor der Restaurierung besessen hatte, ich weiß es nicht. Diese Tapetenreste hatten genau die gleichen Ausmaße wie die Holzreste: es waren alles kleine Rechtecke, vielleicht 6 x 10 cm groß. Diese Holz- und Tapetenreste waren nicht etwa gleichmäßig über den gesamten Raum verteilt, es gab vielmehr Ecken im Raum, an denen sie etwas geballt auftraten und wieder andere Abschnitte, in denen sie völlig fehlten. Ich saß in diesem Raum, schaute mir diese Wände an und fand sie unglaublich spannend.
Unser Dozent sprach gerade über Symmetrie in der Architektur. Er erzählte von einem Platz - ich glaube in Rom - der symmetrisch war, aber auf irgendeine vertrackte Art und Weise, so dass man die Symmetrie nur als solche erkennen konnte, wenn man an einem ganz bestimmten Punkt stand. Er sagte dann, dass das deshalb ein besonders spannender Platz sei... viel spannender als... - und dann fehlte ihm ein Vergleich, deshalb sagte er einfach - ...als dieser langweilige Ort hier und machte eine wegwerfende Handbewegung durch den ganzen Raum.
Irgendwie war ich von seinen Worten elektrisiert. Ich stand auf, bat die Italiener mich zu übersetzen und erzählte dem Mann, warum dieser Raum hier für mich ein total spannender Raum sei. Ich erzählte von der unregelmäßigen Verteilung von Holz- und Tapetenresten, von Hinweisen auf die Vergangenheit, die sich aber trotzdem zumindest für mich nicht mehr rekonstruieren lässt, von den Plänen für die Zukunft, die für mich ebenso rätselhaft waren, und vom Hier und Jetzt, das für eine begrenzte Zeit eine seltsame Balance zwischen kahler Fläche und Ornament aufwies.
Meine Hörer bekamen den Mund nicht mehr zu... was erzählt dieser komische Deutsche da? - und ich selbst wunderte mich auch über mich. Es sprudelte nur so aus mir heraus und ich erzählte sicherlich 5 Minuten lang über Holz- und Tapetenreste. Hinterher war ein Moment Stille und dann fragte mich unser Dozent: "Ist das Ihr Projekt? So zu denken?"
Das war ein wichtiger Moment für mich. Ich habe erkannt, dass es nicht auf die Sache an sich ankommt, ob etwas bedeutsam oder unbedeutend ist, auch nicht, ob etwas schön oder hässlich ist. Es kommt auf den persönlichen Blickwinkel an. Wenn du in der Wand bist, kann der Holzrest zur Sehenswürdigkeit werden. Wenn du auf dem Platz stehst, ist er unbedeutend. Wenn du auf dem Platz stehst, ist die Symmetrie kunstvoll und vertrackt, wenn du in der Wand bist, spielt sie vielleicht gar keine allzu große Rolle.
So ist es für mich auch in der Musik von Morton Feldman. Wenn du einen coolen Rocksong hörst, mit ´nem guten Groove und ´nem Riff, das ins Ohr geht, dann ist Feldman für dich vielleicht nur eine hässliche akustische Tapete, nerviges, schräges Hintergrundgesäusel. Wenn du aber in den einzelnen Klang gehst, dann nimmst du erst wahr, was mit diesem Klang geschieht. Feldmans Elemente kehren ja wieder, aber nie genau gleich. Du kannst keine schönen Melodien mitsummen und bewegst auch nicht deinen Hintern zum Rhythmus, aber wenn du dein Ohr offen hast für einen Feldman-Klang, dann kannst du mitverfolgen, was mit diesem Klang geschieht. Das kann so spannend sein, wie Holz- und Tapetenreste an einer Wand.
Ein Stück, bei dem das besonders gut funktioniert, ist "Piano and String Quartet" (1985). Grob vereinfacht besteht die Klavierstimme nur aus 6 aufwärts verlaufenden Tönen, die hintereinander gespielt werden und zusammengesetzt einen Akkord ergeben. Das Steichquartett - immer als Klangblock eingesetzt - besteht eigentlich nur aus zwei Akkorden im Wechsel. Das Ganze dauert knapp 1 1/2 Stunden. Wenn du auf dem Platz stehst, ist das gähnend langweilig oder sogar entnervend. Wenn du in der Wand bist, ist das superspannend. Ich achte darauf, wie sich die Geschwindigkeit um winzige Nuancen ändert, mit der die Klaviertöne aufeinander folgen! Ich achte darauf, wie die beiden Akkorde im Streichquartett ein klein wenig in Bewegung geraten und dann wieder festgezurrt werden... Ich achte allgemein auf Dinge, die mir auf dem großen Platz nie auffallen würden. Deshalb höre ich gern Feldman.
Morton Feldman: Piano and String Quartet