Autor Thema: Realitätsnahe Charaktererschaffung  (Gelesen 2545 mal)

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Tibor

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Realitätsnahe Charaktererschaffung
« am: 30.03.2012 | 22:28 »
Guten Abend alle miteinander. Ich hoffe mal, dass ich hier im Unterforum richtig bin, wenn nicht, steinigt mich bitte nicht all zu hart. ;)

Ich habe hier schon ein wenig rumgesucht, aber quasi nichts verwertbares in Bezug auf die Erstellung von Charakteren gefunden, zumindest nicht in der Art und Weise, an die ich denke.

Es geht mir hier nämlich darum, wie man einen Charakter sehr glaubwürdig und realitätsnah erschafft. Systemunabhängig, egal ob als "Beiwerk" im P&P, als Spielercharakter oder evtl als Charakter für ein Buch/eine Geschichte.

Hat sich hierzu schon mal jemand Gedanken gemacht? Z.B. wie man bestimmte Charakterzüge glaubhaft über Psychologie/Soziologie erklären kann, welche Motivationen und Handlungsweisen glaubwürdig sind usw.

Wie steht ihr zu dem Thema? Ist es euch überhaupt wichtig, dass es realistisch ist (Leute, denen diese Hintergründe an sich nicht wichtig sind, sind wohl hier nicht so gefragt ^^), oder reichen euch schon "vorgeschobene" Erklärungen für bestimmte Charakterzüge, sofern sie nicht all zu abgedroschen sind?


Was auch interessant wäre - gibt es zu dem Thema eventuell Links, die ich noch nicht entdeckt habe? Vielleicht eine Sammlung grober psychologischer Erklärungen für bestimmte Motivationen/Charaktertypen oder so etwas. Leider findet man, wenn man Google oder so bemüht, zur Charaktererstellung oft nur systemspezifische Dinge zu Werten usw., nichts aber zu dem ganzen "Beiwerk", was hinter den Personen stecken könnte.

Offline KlickKlack

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #1 am: 30.03.2012 | 22:35 »
Mir ist nicht ganz klar was du möchtest. Am einfachsten wäre es natürlich den Spielern die Charaktererschaffung zu überlassen und sie zu bitten die Charaktere mit Blick für Plausibilität zu entwickeln.
Begründungen, weshalb irgendwelche prädispositionen komplexe Charaktereigenschaft bedingen sind in der 'Realität' schon fragwürdig, im Spiel meist plakativ und häufig garnicht relevant. Deshalb noch mal die bitte dein Ziel näher zu beschreiben ? Geht es um Motivationen für das Spiel ? Oder um ein intensives 'in den Charakter hineindenken können ' ?

Tibor

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #2 am: 30.03.2012 | 22:41 »
Achherje..ja..mein Text ist doof. :)

Es geht mir einfach darum, Tipps und Infos eben für diese Art der Charaktererschaffung zusammenzutragen und zu diskutieren. Wie gesagt, oft ist sowas unnötig, daher möchte ich auch Systemunabhängig diskutieren, aber manchmal trägt z.B. eine etwas fundiertere psychologische Erklärung dazu bei, das z.B. ein "Bösewicht" in einem Buch viel greifbarer, glaubhafter und plastischer rüberkommt. :)

Online Maarzan

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #3 am: 30.03.2012 | 22:43 »
Standard-Disclaimer: Perfekt bekommt man das wohl nicht hin ...

So jetzt sidn die Zweifler bedient und man kann dazu übergehen und schaun wie gut man es denn hinbekommt - und für welchen Aufwand ggf.

Ich finde die ganze Charakterbildung im Grundsinne des Wortes sehr interessant und Grundlage für mein Rollenverständnis. Einerseits ist allerdings auch die Psychologie noch nicht sicher wie es geht, andererseits macht man es dann vielleicht auch nichts soo viel schlechter als die Spezialsiten.

Ich würde auf jeden Fall eine Lebenslaufbetrachtung als Basis annehmen und dann darauf aufbauen.
Neben der Fertigkeitsentwicklung käme dann noch die Entwicklung des persönlichen Wertebildes im Zwiespalt zwischen eigenen Bedürfnissen und den verschiedenen anzuerziehen versuchten Werten sowie der Wahrnehmung der real praktizierten Werte und eigenen Erfahrungen hinzu. Dazu kommen halt wohl noch entwicklungsalterspezifische Weltsichten und Änderungsphasen.


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Offline KlickKlack

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #4 am: 30.03.2012 | 22:45 »
Über ein lifepath System könnte man das vielleicht gut abbilden.

Offline Bad Horse

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #5 am: 30.03.2012 | 22:49 »
Ich mache das hin und wieder rückwärts - ich spiele den Charakter und überlege mir nach einer bestimmten Aktion, was in seinem Hintergrund dafür gesorgt haben könnte, dass er jetzt so und nicht anders reagiert hat. Das hilft mir dann auch dabei, zu sehen, wie er mit einem Ereignis oder dessen Folgen künftig umgeht.

Das hat den Vorteil, dass ich keinen komplexen Hintergrund entwickelt habe, der im Spiel nie relevant wird, sondern dass ich den komplexen Hintergrund im Spiel entdecken kann.
Zitat von: William Butler Yeats, The Second Coming
The best lack all conviction, while the worst are full of passionate intensity.

Korrekter Imperativ bei starken Verben: Lies! Nimm! Gib! Tritt! Stirb!

Ein Pao ist eine nachbarschaftsgroße Arztdose, die explodiert, wenn man darauf tanzt. Und: Hast du einen Kraftsnack rückwärts geraucht?

Offline YY

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #6 am: 31.03.2012 | 00:32 »
Was auch interessant wäre - gibt es zu dem Thema eventuell Links, die ich noch nicht entdeckt habe? Vielleicht eine Sammlung grober psychologischer Erklärungen für bestimmte Motivationen/Charaktertypen oder so etwas.

Da hilft wohl am Ehesten der Blick in entsprechende Fachliteratur - wenn man denn so weit gehen will  ;)

Aber im populärwissenschaftlichen Sektor sollte sich da eigentlich genug einigermaßen Brauchbares finden.


Ansonsten:

SCs entwickele ich auch gern im Spiel rückwärts, so habe ich gefühlt mehr Fokus auf das wirklich Wichtige.

Bei NSCs reicht es meistens, einiges erst mal unklar/offen zu lassen und ein paar Widersprüchlichkeiten und Grauzonen zu haben.

Richtig detailliert ausarbeiten sollte man das mMn gar nicht, weil ein zu genaues Profil meistens nicht (mehr) sonderlich realitätsnah ist.


Noch mal kurz zum Thema Lebenslauf:
Traveller arbeitet ja mit einem zufallsgeprägten Lebenslaufsystem, das meiner Ansicht nach ziemlich "echt" wirkende Charaktere liefert.

Auch das kann man für NSCs rückwärts machen (das gewünschte Endergebnis hat man ja schon); wenn man eine Entwicklung in eine bestimmte Richtung nicht durch einen einzelnen Paukenschlag, sondern über mehrere Stationen mit einigen Irrungen und Wirrungen darstellt, wird es von ganz allein glaubwürdiger - und wenn man den ganzen Hintergrund kennt, kommt auch das Gefühl auf "der hätte auch ein ganz anderer werden können, wenns ein bisschen anders gelaufen wäre".
"Kannst du dann bitte mal kurz beschreiben, wie man deiner Meinung bzw. der offiziellen Auslegung nach laut GE korrekt verdurstet?"
- Pyromancer

Taschenschieber

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #7 am: 31.03.2012 | 00:32 »
"How not to write a novel" hat da einige imho recht gute Tipps zu, was man vermeiden sollte, um einen runden Charakter zu kriegen - natürlich eher auf Literatur bezogen.

Offline Saffron

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #8 am: 31.03.2012 | 09:07 »
Hi,

ich hoffe mal, dass ich verstanden habe, worauf du hinaus willst. Meiner Ansicht nach ist die Motivation eine ganz wichtige Sache, weil sich das meiste daraus ergibt. Also: was will der Charakter, was wünscht er sich? Das sind selten so ganz große Konzepte wie den Schwachen  und Unterdrückten zu helfen, sondern ganz oft Wünsche, die sich auf die eigene Person beziehen.

Beispiele:

Der Charakter hat ein schwaches Selbstbewusstsein und versucht deshalb ganz krampfhaft, überall immer der Beste zu sein, die Anerkennung seiner Freunde zu bekommen usw. Die Abenteuer macht er also deshalb mit, um zu beweisen, dass er ein toller Hecht ist.

Der Charakter fühlt sich für irgendetwas schuldig, war vielleicht früher kriminell oder hat einen Autounfall verursacht, bei dem seine Schwester gestorben ist. Er ist nun davon angetrieben, sich zu läutern, vielleicht indem er anderen Menschen hilft, gute Taten vollbringt usw.

Der Charakter wurde früher immer gemobbt. Jetzt will er es allen zeigen. Er hat sich verbissen in eine Ausbildung gestürzt, ist jetzt ein erstklassiger Magier und hat damit den Beweis, dass er es allein schaffen kann und alle ihn mal kreuzweise können. Auch ist er wahrscheinlich ein Einzelgänger, der nur schwer jemandem vertraut.

Natürlich kann man einen Charakter auch erstmal mit Werten ausstatten, spielen und sich dann die Motivation später als Erklärung für bestimmte Handlungen ausdenken. Mir fällt das aber eher schwer. Wann immer ich einen Charakter gespielt habe, der nicht schon am Anfang ausgearbeitet war, ist er bei mir immer sehr blass und profillos geblieben.

Just my 2 cents
Saffron

Ich denke, sobald man sich plausibel erklärt hat, was einen CHarakter antreibt, wirken seine Handlungen und Reaktionen automatisch realistisch.
Ich leide nicht an Realitätsverlust. Ich genieße ihn.

El God

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #9 am: 31.03.2012 | 09:20 »
Naja, am besten fängst du in frühester Kindheit an und baust dich dann langsam hoch. Ab und an musst du würfeln, ob der heranwachsende Charakter irgendwelchen persönlichkeitsdeformierenden Traumata ausgesetzt wurde und als psychisches Wrack ins Abenteuerleben startet. In mittelalterlichen Settings darfst du natürlich auch die zahllosen Infektionskrankheiten und Dinge wie Blutvergiftungen durch eingewachsene vereiterte Zehennägel nicht vergessen und musst halt mit ca. 50-80% Sterblichkeit rechnen, ehe der Charakter Abenteuerreife erlangt. Sollte er sterben, darfst du natürlich nicht nochmal den exakt gleichen Charakter bauen, sowas passiert im echten Leben ja auch nicht.

Oder du überdenkst nochmal, wie praktikabel es ist, einen besonders realistischen Charakter haben zu wollen.

Ansonsten würde ich auch den top-down-Ansatz von Bad Horse empfehlen - du baust einen abenteuertauglichen Charakter mit den entsprechenden Eigenschaften und versuchst diese dann nachträglich zu begründen. Dann weißt du, was wichtig ist und was deinen Charakter ausmacht und brauchst nur dafür eine Herleitung.

ErikErikson

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #10 am: 31.03.2012 | 09:38 »
ich denke, die realistischsten Charaktere bekommt man, wenn man reale Vorbilder nimmt-ist ja irgendwie logisch. Es gibt ja auch für personen aus dem Mittelalter gute Biographien-daran würde ich mich orientieren. Ein Lifepath-System ist IMHO zu grob und es steht zu wenig recherche dahinter, als das es wirklich realistische Ergebnisse liefern würde.

Offline Ghostrider

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #11 am: 31.03.2012 | 15:15 »
Das Konzept "realistisch" gibt es im Bezug auf Charaktere meines Erachtens nicht, denn ich habe IRL bereits Charaktere erlebt, die sämtlicher "Plausibilität" und jeglichem "Realismus" widersprochen haben, darum sehe ich keinen Sinn darin, so etwas im RPG zu implementieren.

Anders formuliert: Warum sollte man sich beim Spiel an "Regeln" halten, die in der Realität ebenso wenig Gültigkeit besitzen?

ErikErikson

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #12 am: 31.03.2012 | 15:29 »
Das Konzept "realistisch" gibt es im Bezug auf Charaktere meines Erachtens nicht, denn ich habe IRL bereits Charaktere erlebt, die sämtlicher "Plausibilität" und jeglichem "Realismus" widersprochen haben, darum sehe ich keinen Sinn darin, so etwas im RPG zu implementieren.

Anders formuliert: Warum sollte man sich beim Spiel an "Regeln" halten, die in der Realität ebenso wenig Gültigkeit besitzen?

Wegen dem gesetz der Wahrscheinlichkeit. Die meisten menschlichen Eigentümlichkeiten verteilen sich auf eine gauss-Kurve. Bei mehreren Charakteren kann man also von einer plausiblen verteilung von Persönlichkeits-Eigenschaften sprechen oder eben nicht. Natürlich muss man dabei Umgebungs- und Subgruppenfaktoren einberechnen. Aber es ist z.B. höchst unplausibel, wenn ohne guten grund alle Monsterjäger feiglinge sind.

Offline KlickKlack

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #13 am: 31.03.2012 | 15:55 »
Zitat
wenn ohne guten grund alle Monsterjäger feiglinge sind
Naja... um solch offensichtliche Zusammenhänge geht es aber nicht. Hier ist ja eher die Frage ob beispielsweise Monsterjäger ihre Eltern durch Monster verloren haben müssen, oder vom Schwarzenmann besucht wurden... Da wird es schon wesentlich schwieriger.
Ich würde mich da auch eher an literarischen Vorbildern orientieren, obwohl die natürlich sehr, sehr widersprüchlich sein können, mit unter diese Widersprüchlichkeit sogar zum Thema machen - Fantasy Beispiel wäre Harry Potter - da führt die traumatische Kindheit entweder zum Helden- oder Schurkendasein.

ErikErikson

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #14 am: 31.03.2012 | 15:57 »
Das würd ich bleiben lassen. Literarische Vorlagen sind auf Plausibelität getrimmt ,nicht auf Realismus.

Offline KlickKlack

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #15 am: 31.03.2012 | 16:06 »
Genau darum geht es mir ja, denn den realistischen Anspruch kann man kaum aufrecht erhalten, dafür ist der Mensch dann doch zu komplex.

Online Maarzan

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #16 am: 31.03.2012 | 16:07 »
Na ja, Kernfrage wäre doch wohl, wenn ich sie richtig verstanden habe, wie kann man bei der Charaktererschaffung unterstützen, dass das was da rauskommt nicht direkt Kopfschmerzen bereitet, wenn man die Erklärungen für dies und das hört - typischerweise als hauchdünnes Deckmäntelchen für "was den meisten Bonus gab" oder "was mir gerade als opportun und spaßig(TM) oder COOOL(C) spontan eingefallen ist und irgendwie passend zu dem eigentlich völlig inkompatiblen Fall von letzte mal gebogen werden muss".

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Offline KlickKlack

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #17 am: 31.03.2012 | 16:09 »
So hatte ich es auch verstanden. Deshalb ja: Lieber versuchen die Charaktereigenschaften plausibel zu begründen, als halbgare psychologische Theorien zu bemühen.

Online Maarzan

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #18 am: 31.03.2012 | 16:15 »
Das muss ja als erster Ansatz sogar nicht einmal ein Regelsystem sein.
So ein Fragenkatalog wie in manchen Rollenspielen zum Hintergrund plus vielleicht ein wenig mehr als Gerüst und erst einmal Denkanreiz sowie eine Aufforderung diese Antwort und deren Begründung noch einmal auf Plausibilität und Folgen zu überdenken wäre glaube ich oft schon ein erheblicher Fortschritt.

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Offline La Cipolla

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #19 am: 31.03.2012 | 16:17 »
Ich hatte mich mit sowas auch mal etwas beschäftigt, ist eine interessante Frage.

Das erste Problem an einem solchen System ist: Spiele, die Menschen simulieren, abstrahieren immer auch, bei der Realität ist man sich sich da aber nicht so hundertprozentig sicher. Sicher ist man sich lediglich, dass der "Detailgrad" eines menschlichen "Charakters" so dermaßen hoch ist, dass die Abstrahierung durch andere (und um nichts anderes geht es letztendlich!) immer zu einer Vereinfachung mit rabiaten Fehleinschätzungen führt. Oder anders gesagt, Realismus ist kein vernünftiges Ziel, sondern Glaubwürdigkeit. Deshalb versucht der Psychologe ja auch nicht, dich auf deinen Papa-Komplex zu reduzieren, sondern behält ihn als möglichen Erklärungsversuch für tatsächliche Probleme im Hinterkopf, zumindest wenn er gut ist. Ergo schon mal: Die meisten Rollenspiele sind durch ihren Mangel an sichtbaren Zusammenhängen zwischen oberflächlicher Biografie und Charakter wesentlich näher an einem "realen", glaubwürdigen System dran als man denken würde.

Diese angesprochenen "tatsächlichen" Probleme sind das nächste Problem. Ein Rollenspiel, das den Menschen perfekt glaubwürdig (bzw. "realistisch") unterteilt, ist nichts Ansprechendes. Du willst nicht ausspielen, wie der Charakter kacken geht, oder wie er jeden Tag die gleichen Rituale ausführt, um zur Arbeit zu fahren. Und allein dadurch verschieben sich schon entscheidende Variablen in dem System, das hinter den Charakteren liegt! Du willst in jedem Spiel gewisse Sachen in den Vordergrund stellen. Deshalb gibt es ja auch kein Universal-System, das sich wirklich für alle Rollenspiele anbietet. Das beste Beispiel (aber nicht das einzige!) ist Action. SO viele, SO viele Universalsysteme haben Subsysteme für Action-Szenen (HP, Rüstungsklasse, Verfolgungsszenen usw.), und alleine das ist völlig unrealistisch, weil der Mensch Sachen nicht anders angeht, nur weil es plötzlich spannend wird. ABER der Rollenspiel-Entwickler will, dass solche Szenen anders angegangen werden, und das ist auch in Ordnung. Im PnP kann Fokus total helfen. Deshalb hat die WoD ja auch Mechaniken für Charakterschwächen und Geistesstörungen, D&D in seinen Grundzügen aber nicht.

Mein Schluss daraus: Realismus ist kein vernünftiges Ziel, man muss lediglich einen guten Mittelweg aus Glaubwürdigkeit und Praktikabilität finden. Ein wirklich "realistisches" System wirst du nicht bauen, und wenn doch, ist es mit ziemlicher Sicherheit sehr, sehr schlecht. ;)
Und jetzt, wo das gesagt wurde, kann man den Blick in eine etwas praktischere Richtung werfen.

Es gibt durchaus psychologische oder pseudo-psychologische Systeme, die man benutzen kann, wenn man sich in eine solche Richtung orientieren möchte. Sehr praktisch finde ich da etwa die antike Temperamentenlehre, das Enneagramm oder etwaige Vereinfachungen von Freud. Was ein Charakter KANN, werden diese Systeme aber nur nebenbei beantworten, und das hängt mit dem zusammen, was ich oben geschrieben habe: So etwas als direkte, offensichtliche Verbindung zu betrachten ist zu "modern", die Postmoderne hat dieses Konzept eigentlich hinter sich gelassen... Lediglich die Psyche der Charaktere zu vereinfachen, ist vielleicht nicht weniger fragwürdig, aber definitiv ein etwas praktikablerer Schritt. Haben übrigens auch schon viele Rollenspiele gemacht (White Wolf in JEDEM Spiel, etwa als "Nature", "Virtue", "Vice" oder als mit übernatürlichen "Familien" assoziierten Eigenschaften; Planescape mit seinen Philosophien, usw). Ist letztendlich nichts anderes.
« Letzte Änderung: 31.03.2012 | 16:21 von La Cipolla »

Offline Nocturama

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #20 am: 31.03.2012 | 16:36 »
Na ja, Kernfrage wäre doch wohl, wenn ich sie richtig verstanden habe, wie kann man bei der Charaktererschaffung unterstützen, dass das was da rauskommt nicht direkt Kopfschmerzen bereitet, wenn man die Erklärungen für dies und das hört - typischerweise als hauchdünnes Deckmäntelchen für "was den meisten Bonus gab" oder "was mir gerade als opportun und spaßig(TM) oder COOOL(C) spontan eingefallen ist und irgendwie passend zu dem eigentlich völlig inkompatiblen Fall von letzte mal gebogen werden muss".

Das hätte ich jetzt auch so verstanden. Da jetzt mit "Buuuhhh, du hast Realismus gesagt! Ketzer!" anzukommen, finde ich gerade bei einem Neuzugang überzogen - nicht jeder hat diese Diskussionen mitbekommen  ;)

Aber zum Thema:

Erstmal kommt es darauf an, in was für einer Runde man mitspielt. In der Casual Gaming DnD4-Runde würde ich mir einen "Adjektiv-Nomen"-Stereotyp aussuchen: der strahlende Paladin, der abwesende Magier, der grimmige Krieger und dann ab in den Dungeon.

In einer Dramarunde würde ich mir a la "Primetime Adventures" das "Issue" meines Charakters überlegen (Was ist der Knackpunkt des Charakters? Womit hat er am meisten zu kämpfen? Welche Sache beeinflusst seine Entscheidungen am stärksten?) und was der Charakter eigentlich will. Einen "Fatal Flaw" finde ich auch immer schön, also einen wirklich negativen Charakterzug. Das geht kann aber in Runden, in denen vor allem Probleme gelöst werden sollen, schlecht ankommen - also erst die eigene Runde ansehen.

Einige Systeme - Fate, PTA und... hmm, sicher noch andere - geben über Mechaniken Hilfestellungen bei der "runden" Charaktererschaffung. Fate durch die Aspekte und PTA durch das Issue. Vielleicht hilft es, in die Systeme mal hineinzuschauen.

Ansonsten würde ich auch zu Schreibratgebern greifen. Die erklären ja genau, wie man einen fiktionalen Charakter entwickelt, der lebendig und rund wirkt.

Haben übrigens auch schon viele Rollenspiele gemacht (White Wolf in JEDEM Spiel, etwa als "Nature", "Virtue", "Vice" oder als mit übernatürlichen "Familien" assoziierten Eigenschaften; Planescape mit seinen Philosophien, usw). Ist letztendlich nichts anderes.

Das White Wolf-System fand ich schon immer furchtbar, weil viel zu verallgemeinernd und einengend. Geholfen hat mir das nie, eher im Gegenteil.
You're here for two things: to fucking ruin someone's shit, and to play a friendly game of make-believe.

AND YOU'RE ALL OUT OF IMAGINATION.

Tibor

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #21 am: 31.03.2012 | 16:54 »
Na, da gibt es ja schon einige echt gute Antworten mit interessanten Ansätzen. Vor allem die Idee der mittelalterlichen Biographien als Vorlage werde ich auf jeden Fall weiter verfolgen.

Um meinen Standpunkt nochmal etwas klarer darzustellen - mir persönlich geht es zur Zeit um die Erstellung eines Charakters für ein Online-Rollenspiel, nebenbei auch noch für taugliche Charaktere für kleinere Geschichten, die ich ab und an schreibe.
Es geht mir hier weniger darum, z.B. gewisse Fähigkeiten zu verpacken oder einen halb erwürfelten Lebenslauf zu bauen (wobei der Ansatz von 0 an einen Lebenslauf auszuarbeiten ein sehr guter ist), auch die "Rückwärts-Methode" ist in meinen Fällen ja eher nicht praktikabel.
Ich versuche meistens, einen Charakter zu bauen, der eine gewünschte Rolle einnimmt. Z.B. ein..sagen wir 35jähriger Bauer im Fantasymittelalter, der eine Abneigung gegenüber höher gestellten Handwerkern, Höhenangst und einen Hang zur Eitelkeit hat. (alles jetzt mal nur aus der Luft gegriffene Vorschläge).

Dieser Bauer ist jetzt erst mal da, den möchte ich verkörpern, oder im Falle einer Geschichte als wichtigere Figur auftreten lassen, so das ein "Hintergrund" wichtig ist.
Jetzt will ich halt versuchen, diesen Bauer zu erklären. Wieso ist er Bauer, warum ist er Eitel, warum würde er in bestimmten Situationen so und so handeln. Und dafür möchte ich gerne realistische Erklärungen, weil ich an den Haaren herbeigezogene, überspitzte oder unrealistische Gründe eben absolut nicht leiden kann.

Klar, vieles kann man über logischen Menschenverstand zusammenschustern und es muss auch sicher nicht 100%ig korrekt sein, aber einen gewissen Anschein von "Richtigkeit" sollte es schon vermitteln.

---------

Was den Bezug zur Realität und die dort auftretenden "unrealistisch/unsinnig handelnde Menschen" anbelangt - diese Meinung kann ich eigentlich nicht teilen. Denn grade solche Personen sind für diese Betrachtungsweise nämlich wahnsinnig interessant. Nur weil wir das von außen betrachtet vielleicht als unlogisch ansehen, steckt bei dem normalen Menschen, der nicht an Krankheiten oder ausgeprägteren Störungen leidet ja eigentlich immer etwas dahinter. Eine psychologische Komponente (erlebtes, gerlerntes oder so) oder eine Intention, die sich dem unwissenden Beobachter schlicht nicht erschließt.

Offline La Cipolla

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #22 am: 31.03.2012 | 19:34 »
Zitat
Das White Wolf-System fand ich schon immer furchtbar, weil viel zu verallgemeinernd und einengend. Geholfen hat mir das nie, eher im Gegenteil.
Welches System denn genau?
Die oWoD Dinger fand ich hilfreich, um ein Konzept zu haben; da durfte man dann nur nicht stehen bleiben und musste weitermachen, sonst wurde es archetypisch, wie auch die "Vorgaben" durch Clans u.ä.
Das nWoD Konzept finde ich großartig, weil man gar nicht erst auf die Idee kommt, da stehen zu bleiben; schon die Überlegung, welches Virtue und Vice man nimmt, erfordert eine grundlegende Auseinandersetzung mit psychologischen Details des Charakters. Die (inzwischen treffender) Richtlinien für Clans und ähnliches waren hier auch nicht mehr ganz so preskriptiv.
Bei Scion & Exalted wiederum war das System sehr nice, aber natürlich total auf das Setting fokussiert (und damit außerhalb desselben nicht wirklich nutzbar).

Prinzipiell würde ich dir mit der Verallgemeinerung aber recht geben. Daher ist es auch ganz essentiell, dass man diese Systeme nur als Startpunkte, als Inspiration für den Charakter sieht (wie vor allem in der nWoD aber auch klar gemacht wird). Und als solche sind sie schlichtweg großartig, weil zumindest ich sowieso "echtes" Rollenspiel brauche, um meinen Charakter glaubwürdig zu machen. Da reicht es nicht, sich eine Biografie o.ä. auszudenken, dann wird es bei mir meistens sehr archetypisch. ^^

El God

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #23 am: 31.03.2012 | 19:49 »
Zitat
Jetzt will ich halt versuchen, diesen Bauer zu erklären. Wieso ist er Bauer, warum ist er Eitel, warum würde er in bestimmten Situationen so und so handeln. Und dafür möchte ich gerne realistische Erklärungen, weil ich an den Haaren herbeigezogene, überspitzte oder unrealistische Gründe eben absolut nicht leiden kann.

Da auf Glaubwürdigkeit zu achten und schlüssige logische Erklärungen zu liefern, ist für Persönlichkeitsmerkmale gar nicht so einfach. Wir sind, was das angeht, auch Kinder unserer Eltern, soll heißen Erziehung und Genetik spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das sind aber keine so einfach herzuleitenden Einflüsse von außen - man sieht nur das Produkt, aber fast nie die Auslöser. Versuch doch mal dich selber bezüglich einiger bemerkenswerter persönlicher Eigenschaften einzuschätzen und dann abzuleiten, wo die herkommen. Du wirst mE sehen, dass das nicht trivial ist, für viele Sachen wirst du eventuell Ähnlichkeiten zu Eltern/ Verwandten feststellen, aber keine schließende Erklärung, ob das vererbt oder anerzogen wurde. Das meiste muss man einfach so hinnehmen.

Offline KlickKlack

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Re: Realitätsnahe Charaktererschaffung
« Antwort #24 am: 31.03.2012 | 20:05 »
Am Ende läuft es auf persönlichen Geschmack hinaus und wird doch wieder sehr literarisch (was ja nicht schlecht ist), denn plausibel, `realistisch` kann so vieles sein, mitunter auch auf den ersten Blick gegensätzliche Entwicklungen. Viele Gewalttäter die sich an Kinder vergangen haben erlebten in ihrer eigenen Kindheit etwas Ähnliches - nur ganz, ganz wenige Opfer solcher Übergriffe werden später zu Tätern... Auf den Bauern bezogen der Probleme mit den Hierarchien hat – Vielleicht erlebte er brutale,  in seinen Augen ungerechte Gewalt durch den Adel, durchaus plausibel die überkommenen Hierarchien dann zu hinterfragen. Vielleicht hatte er das Glück unter einem Lehnsherren zu leben der gütig, gerecht und milde war… aber ist einfach faul und neidisch und so fest davon überzeugt zu Höherem bestimmt zu sein, dass er Hierarchien einfach nicht ertragen kann, denn die konfrontieren ihn immer wieder mit dem eigenen Versagen.
Kurz gesagt, erzähle Dir die Geschichte immer wieder selbst, hinterfrage sie und entscheide dann nach Geschmack. Wenn Du Dir die ersten Zusammenhänge überlegt hast, schreibe sie doch hier hinein, dann bekommst Du sicher Feedback.