Autor Thema: Genrekonventionen, mechanische Handlungszanreize & Beliebigkeit  (Gelesen 1800 mal)

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Offline Horatio

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In dem „Ermittlungsabenteuer Improvisieren“ Thread kam es zu einer Nebendiskussion, die es möglicherweise wert ist etwas aufgedröselt zu werden:



[..] Es gibt auch Systeme, die zum einen mit recht starken Regeln in alle Bereiche rein greifen, nicht nur Kampf, sondern auch soziale Interaktion, wissenschaftliche Analysen etc. Da haben die Regeln Auswirkungen darauf, was narrativ möglich ist und als Fakt erschaffen werden kann. Das ist bei vielen klassischen Systemen eher schwach ausgeprägt. Man fragt, bis der SL alle Tipps raus gerückt hat. Es gibt Systeme, die in ihrer Grundmechanik das Erschaffen von Fakten durch Spieler generell formuliert haben. Und dass man sich an Genrekonventionen hält, ist Bestandteil des Gruppenvertrags, nicht wirklich des Systems, und kann bei improvisierten wie klassischen Spiel von der Runde eingehalten oder gebrochen werden.

Da hast du dann ein Regelgerüst, das eben viele der Improvisationsschritte, narratives Recht etc. festlegt, einschränkt, mit Konsequenzen versieht. Dazu eine anständige Definition des Genres ("Hallo, wir spielen heute Noir, also macht das hier Sinn..."), fertig. Die von deiner Signatur proklamierte Beliebigkeit, auf die du verweist, gibt es so nicht.

Besagte Signatur:
Zitat
You see, it did not matter that setting canon and expected style was being broken,
as long as the characters in the story believed in their roles, the Story Guide believed in the consequences of any actions taken,
and the players believed in the story more than mere setting facts. Whatever the story would be in genre and message,
that would be revealed after the fact, not before.
- Eero Tuovinen: A Loveletter to a Story Gamer


Wo du recht hast, ist, dass hier propagiert wird, dass Settingkonventionen und Genrerwartungen nicht der (zentrale) Motor einer Entscheidung sein sollen. Weder für SL noch für Spieler; weder für Handlungen von Charakteren noch für die Frage was für „Fakten eingebracht“ werden dürfen. Damit tritt eine Rahmenvorgabe / ein Filterungsprozess in den Hintergrund der für viele Runden zentral ist. Allerdings propagiert Touvinen hier einen anderen, der bevorzugt werden soll.

Erstmal, ganz egal wie man Rollenspiel spielt und welche Regeln man nutzt, es gibt immer eine Grenze der „allgemeinen Plausibilität“: Was liegt überhaupt im Rahmen des noch Denkbaren, verstößt also nicht gegen die Grundsätze der Logik, Ursache und Wirkung und die „Naturgesetze“ des Settings (im weitesten Sinne verstanden). Selbst die Realität ist so gesehen nicht immer realistisch aber hält natürlich diese Grenzen ein :P.

Wenn ich nur diese Ebene hätte, dann gebe ich dir tatsächlich Recht, dass erlaubt eine Beliebigkeit die ein auch nur halbwegs konsistentes Spiel unmöglich macht. Es braucht noch eine darüberlegende Ebene, eine Art Filter durch denn alle Handlungsmöglichkeiten laufen müssen damit sie nicht „beliebig“ werden.

Dazu können Genreerwartungen und Settingkonventionen genutzt werden und ja in dem Zitat wird sich dagegen ausgesprochen genau das als primären / ausschlaggebenden Entscheidungsrahmen anzusehen:

Zitat
[..]it did not matter that setting canon and expected style was being broken,[..]

Was darunter zu verstehen ist, sind zwei Forderungen die sich gerade in den großen Metaplot-Spielwelten finden:

1.) Das Quellenmaterial geht den Spielerhandlungen vor!

Beispiel: Ich spiele DSA und stehe vor einem der großen Schurken des Settings der etwas von uns will. Zwei Spieler entscheiden, dass ihre Charaktere – immerhin Helden – ihr Leben opfern wollen um diese Person ein für alle mal aus dem Verkehr zu ziehen und dem Rest der Gruppe die Flucht zu ermöglichen. Rein von der Situation und den Werten scheint das auch sehr wahrscheinlich dass sie damit durchkommen.

Diese Entscheidungen bewegen sich im Rahmen des Möglichen. Allerdings schieße ich mich wenn das gelingt aus der vorgesehene Kampagne und dem offiziellen Metaplot raus. Das heißt in Gruppen in denen diese Grundnahme gilt, ist klar, dass die SCs solche Dinge gar nicht erst versuchen sollten oder dass falls doch es keinen Erfolg haben darf.


2.) Das Genre (expected style) fordert Verhaltensweisen!

Letztendlich stellt das Genre auch eine subtilere Form von Quellenmaterials da. Wir filtern Handlungen die nicht im Geiste der Genrekonventionen sind und bevorzugen Handlungen die Genrekonventionen erfüllen / hervorrufen.

Beispiel: Ich spiele Superman mit den DC Comics als Vorlage. Nachdem der Superschurke der für unglaublich viel Leid verantwortlich war in seinen letzten Zügen liegt kündige ich an, dass Superman ihm das Genick brechen will. SL und Gruppe führen an dass Superman in den Comics so etwas erstmal nicht tun würde. Ich sehe das ein und lasse stattdessen Superman nach dem Sieg einen bedeutungsschweren Monolog darüber halten dass er einfach nicht genug tun kann um all dieses Leid zu verhindern.

Ich verzichte auf meine ursprüngliche Entscheidung weil sie das Genre kippen würde und wähle eine Handlung, die das Genre stützt.

Diese Grundnahmen helfen natürlich das Spiel in eine bestimmte Richtung zu lenken. Insbesondere bei Systemen die hierbei die „Erzählrechte“ nicht nur beim SL belassen. Auch die Spieler die Fakten einführen sind natürlich daran gebunden / dadurch motiviert.  Wie du schon gesagt hast gibt es eine Menge Systeme die hier Strukturen anbieten die das möglich machen. Das geht in meinen Augen aber auch etwas weiter: Bspw. können die Aspekte von Fate helfen auf mechanischer Ebene Genre und Settingkonventionen im Spiel zu stützen.


Allerdings sollen an die Stelle dieser Grundnahmen etwas anderes treten. Etwas zu deren Gunsten Settingfakten und Genrekonvention verletzt werden dürfen und im Zweifel sogar verletzt werden sollen wenn sie meiner Entscheidungsfreiheit im Wege stehen:

Zitat
[..] as long as the characters in the story believed in their roles, the Story Guide believed in the consequences of any actions taken,
and the players believed in the story more than mere setting facts. Whatever the story would be in genre and message,
that would be revealed after the fact, not before.

Die Spieler sollen also die zentralen Konflikte / Motivationen / Thematiken ihres und / oder der anderen  Charaktere in den Vordergrund stellen und Entscheidungen so treffen, dass diese im Spiel relevant werden UND diese mittelfristig auch zu einem Abschluss bringen. Ebenso soll der SL nicht das Setting, seine Vorstellung eines Handlungsverlaufes oder gar die Charaktere selbst vor deren Handlungen oder den Konsequenzen einer Handlung „schützen“.

Vergleich diesen Anspruch mit dem vieler typischen Kaufabenteuern von eher altmodischen Systemen.

Kleiner Exkurs: Das wird in Solar System / World of Near (Zitat stammt daher) sehr stark durch die Mechanik der Pfade / Keys vorangetrieben für die SoSy / TSoY bekannt sind. Hier bekommt man Erfahrungspunkte in verschiedenen Abstufungen dafür dass man seine Pfade verfolgt. In der Regel:

1XP: Der Pfad wird im Spiel „erwähnt“.
3XP: Die Pfad wird in Frage gestellt / führt zu Problemen.
5XP: Die Pfad wird endgültig abgeschlossen. Im Guten oder im Schlechten.


Ich hatte das Glück Eero Tuovinen mal auf der Spiel zu treffen und mit ihm etwas zu diskutieren. Auch darüber welche Art von Entscheidungen / Handlungen seiner Meinung nach FATE3 (er sprach von SotC) und SoSy im Spiel begünstigen.

Er führte dabei folgendes an (nach eigenem Verständnis frei wiedergegeben):

Wer SoSy so hart wie möglich gamet, der wird seinen Charakter in Situationen treiben die seine Pfade herausfordern und am Ende den Pfad zu einem Abschluss bringen und einen neuen wählen. Sein Charakter wird also dadurch gezwungen eine Entwicklung durchzumachen indem er seine zentralen Konflikte ins Spiel bringt und dort auflöst.

Wer SotC so hart wie möglich gamet, der wird versuchen so oft wie möglich seine Aspekte ins Spiel zu bringen. Er zeigt Facetten seines Charakter, er wird aber nicht dazu angehalten seine Themes / Konflikte abzuschließen oder ernsthaft zur Diskussion zu stellen.


Offen zur Diskussion und sorry for the long post, zu kürzer war ich heute nicht fähig :P.
« Letzte Änderung: 15.02.2015 | 21:51 von Horatio »
You see, it did not matter that setting canon and expected style was being broken,
as long as the characters in the story believed in their roles, the Story Guide believed in the consequences of any actions taken,
and the players believed in the story more than mere setting facts. Whatever the story would be in genre and message,
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Offline Chruschtschow

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Ok, mit etwas Kontext durchschaue ich, was du meinst. Und leider sehe ich wenig Diskussionsgrundlage, weil ich dem meisten mal so direkt zustimme. ;)

Zitat
1.) Das Quellenmaterial geht den Spielerhandlungen vor!

Kann man machen, wenn es das ist, was die Runde möchte. Es ist nicht so sehr mein Fall. Daher setze ich auch nur noch möglichst selten einen Fuß in Aventurien. Das ist ein sehr enges Korsett für mich, aber die Norm für viele andere Spieler. Natürlich möchten die wenigsten Spieler dann Gareth in Brand stecken.

Und Vampire hat mich auch nie gereizt. Generell Metaplotwelten. Ich mag die proaktiven Spieler, deren Geschichte Dreh- und Angelpunkt des Spieluniversums ist. Metaplot nimmt da Gestaltungsfreiräume.


Zitat
2.) Das Genre (expected style) fordert Verhaltensweisen!

Die halte ich für wesentlich wichtiger. Die damit einhergehenden Klischees machen viele Spiele, die stark auf Improvisation beruhen, überhaupt erst machbar. Die Spielrunde muss eine gewisse Erwartungshaltung einnehmen und auch ausnutzen können, wenn wirklich viele Optionen da sind. Elementare Orientierungshilfe.

Wobei ich da nicht solche Detailkacke meine wie: "Element X hat ihm die Kräfte verlieren." - "Was? Spinnst du? Er hatte die Kräfte immer. Element X hat sie nur geweckt!" - "Aber dann wären doch vorher schon im Kampf mit dem Grünen Flatulator die Kräfte erwacht." - "WAS? SPINNER!!!" Es sind die groben Pinselstriche, die die Welt skizzieren und fassbar machen.


Zitat
Die Spieler sollen also die zentralen Konflikte / Motivationen / Thematiken ihres und / oder der anderen  Charaktere in den Vordergrund stellen und Entscheidungen so treffen, dass diese im Spiel relevant werden UND diese mittelfristig auch zu einem Abschluss bringen.

Das halte ich auch für sehr wünschenswert. Übrigens ist das in Fate Core durch die Issues ein bisschen stärker geworden. Das sind Settingaspekte, die die großen Probleme des Settings beschreiben. Es gibt zwei, einen akutellen Current Issue und einen Impending Issue in Wartestellung. Werden die stark an der Gruppe orientiert, hast du direkt auch eine starke spielmechanische Anbindung.

Dazu kommen die Milestones für Spielercharaktere wie auch das Setting als Ganzes. Das geht so ein bisschen in die Richtung der XP-Verteilung, die du beschreibst. Die machen sich daran fest, wie sich die Geschichte entwickelt hat, ob etwas aufgedeckt wurde etc. Das kann eben auch sehr individuell für den einzelnen Charakter sein.

Ich könnte mir vorstellen, dass es auch gut klappen könnte, jedem einzelnen SC einen Issue Aspect zu geben, also sein persönliches Problem, vielleicht auch mit der Pflicht, den an einen der Issues des Szenarios anzubinden und daran die Milestones festzumachen. Ich glaube, das käme dem von dir beschriebenen System schon entgegen.

Und ich habe World of Near mal auf meine To-Read-Liste gesetzt.
« Letzte Änderung: 16.02.2015 | 17:57 von Chruschtschow »
Tolles Setting, würde ich aber mit Fate spielen. Und jeder Thread ist ein potentieller Fate-Thread. :d

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Offline D. Athair

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... wie ich das gut ausdrücken soll, weiß ich nicht.
Jedoch: Beobachtung und Spielerfahrungen haben gezeigt, dass die krassen sozialen Settingkonventionen (i.V.m. Vor- und Nachteilen der Charaktere) bei L5R am Spieltisch zu etwas sehr Ähnlichem führen wie TSoYs Pfade. Oder: Die Voraussetungen sind - ich nenns mal so - "gegensätzlich", das Ergebnis ziemlich das selbe.
"Man kann Taten verurteilen, aber KEINE Menschen." - Vegard "Ihsahn" Sverre Tveitan