Ich bin sicher kein Improvisationsmeister, aber ab und zu gelingt es mir, meine Gruppe und mich selbst (<- das empfinde ich dann als Flow) zu überraschen, auf welch sinnvolle wie auch "spontane" Ideen die bespielte Welt kommt. (Dieser Beitrag hat ein wenig
Werkstattcharakter zu meiner eigenen Kampagne, aus ihr schöpfe ich meine Beispiele.)
Was für mich zur Improvisation dazugehört, zusammengefasstEs wird ja häufig gesagt, dass eine gute Vorbereitung Improvisation fördert. Dem würde ich zustimmen. Dabei würde ich den Aspekt "Durchdringung" der gespielten Welt hervorheben, also wie vertraut Du mit den Verknüpfungen innerhalb der gespielten Welt, ihren Charakteren und ihrer Haltung und ihren Zielen bist. Mein wichtigster Filter ist dabei die
Konsistenz der Spielwelt und zugleich eine Offenheit für das, was geschehen wird, und mein zweiter Filter ist dramaturgisch.
"Durchdringung" der gespielten Welt als VorbereitungImprovisation ist in meinen Augen n i c h t, beliebige, viele, spontane Einfälle einwerfen zu können. "Beliebig" ist hier das Problem. Für mich ist die Konsistenz der Spielwelt, ihre innere Logik und theoretische Nachvollziehbarkeit, das, womit ich mit in der "Off-Session" am häufigsten beschäftige, sie halte ich für am wichtigsten. Die Welt durchdrungen zu haben lässt für mich überhaupt erst zu, improvisieren zu können.
Die g a n z e Welt immer präsent, durchdrungen haben? Nein, das meine ich nicht. Ich sehe Aufmerksamkeitsfokus immer wie ein "Feld der Gegenwart, jüngeren Vergangenheit und sehr nahen Zukunft", weiter zurück und weiter voraus zu schauen, wäre ein Fehler: Ja, die Grundzüge der Kampagne sind mir zwar immer klar, aber ich achte aktuell nur auf den Ort und die Charaktere, die zur Zeit gebraucht werden.
Beispiel, frisch gespieltSorry für die Länge, aber es braucht den Kontext: Unser Spieler Tim spielt den mächtigsten 3.5e-Charakter der Gruppe, einen Cerebremancer, effektiv Magier 13. / Psion 17 namens Aranik. Tim spielt Aranik heute noch genau so egoman wie mit 13 Jahren, als er Aranik angelegt hatte: Stell Dir vor, ein irrer, machthungriger, schräger Mad Scientist hat das Herz des Imperators Palpatine, traut sich aber nicht, konsequent dazu zu stehen. Tim ordnet Aranik als "chaotic neutral" ein. Aber seine guten strategischen Vorschläge kommen immer erstmal kalt und brutal aus seinem Imperatorherz. Seine einzige "Familie", die ihn die letzten Jahrzehnte auch immer zuverlässig moralisch eingefangen hat, sind die drei anderen in der Gruppe, und sie modifizieren seine strategischen Vorschläge so, dass nicht immer zuerst eine brutale Auslöschung der Gegner das Ziel ist. Seine Gruppe würde ihn als "chaotic evil" einordnen.
Nun hatte Aranik vor vielen Sessions einen magischen Unfall: Er wurde verdoppelt. Plötzlich gab es zwei identische Araniks. Man einigte sich auf eine Trennung, und "den anderen Aranik" nannte die Gruppe zur deutlicheren Unterscheidung "Baranik". Wir ahnten, dass eines Tages die zwei Araniks gegeneinander antreten würden.
Fast forward: Eine gewaltige Invasionsflotte auf psionischer Reisebasis trifft auf unserer Welt ein. Überraschung: Das Volk, das die Heimatwelt meiner Gruppe erobern will, sind Aranti, das Volk, dem Aranik und Baranik angehören. Sie nennen sich Bestar. Baranik schließt sich den Invasoren an und wird zu einem Bestar, Aranik und die Gruppe wollen die Invasion aufhalten. (
Die ausführliche Geschichte um die Aranti hatte ich hier aufgeschrieben.)
Am letzten Samstag kam es zu einer kämpferischen Auseinandersetzung. Baranik hatte fünf andere Bestar mit herbei teleportiert, Kampf lag in der Luft.
Ich hatte mich die letzten Wochen regeltechnisch intensiv mit Psionik auseinander gesetzt, weil ich als SL sie jetzt zum ersten Mal wirklich, sehr offensiv und gleich hochstufig einsetzen musste. Freitag und Samstag früh, direkt vor dem Spiel, habe ich mich dann in die kommende Begegnung hineingedacht.
Typische Fragen, die ich an mich stelle: Was wollen die NSCs? Was ist ihre Motivationslage? Wie kann ich Baranik, der ja ein charakterliches Abbild des widersprüchlichen Aranik ist, und sein Gefolge noch lebendiger darstellen? Was würden die Implikationen unterschiedlicher Ausgänge des Konfliktes sein?Was wollen Baranik und seine Schergen?• Erstes Ziel: Aranik gefangen nehmen, und versuchen, ihn später auf die Seite der Bestar zu ziehen. (<- Details denke ich hier im Moment nicht weiter, das lasse ich auch für mich noch in der Schwebe.) Nebenziel: Den Pilothelm konfiszieren, mit dem sich die Insel fliegen lässt.
• Samthandschuhfaktor beim Vorgehen: Null. Aranik (und also auch Baranik) vertritt gerne die Strategie: "Erst töten, dann verhören, dazwischen wiederbeleben." Aranaik wird dann immer zuverlässig von seiner Gruppe zu einem weniger blutigen Ansatz überstimmt. Aber sein Zwilling Baranik hat die abmildernde Gruppe nicht um sich herum, also ist dies seine enthemmte Strategie.
Wie ist ihre Motivationslage?• Baraniks Motivationslage: Nimmt er den Tod seiner alten Familie wirklich in Kauf? Ja, weil er Tod und Wiederbelebung als normale Strategie sieht. Aber Baranik würde keine Freude haben und vielleicht sogar einschreiten, wenn seine alte Gruppe von seinen Schergen gequält würde oder desintegriert, was eine Wiederbelebung schwieriger machen würde.
• Baranik ist hier der Boss des Kommandos, und seine fünf Schergen wollen ihn mit Geschwindigkeit und Präzision beeindrucken. Die Bestarin "Raht" ist die zweitmächtigste im Kommando, und sie ist von Baranik schwer angetan. 1. Ziel: Baranik schützen. 2. Ziel: Auftrag ausführen. Die eigene Sicherheit ist den Schergen egal.
Wie kann ich die NSCs lebendiger darstellen?• Baranik wird einsam sein. Im Gegensatz zu Aranik hat er keine "Familie" mehr, er hat nur die militarisierten Bestar um sich herum. Wie geht ein Mad Scientist damit um? Ich kam auf den Gedanken, dass Baranik als Einsatzbezeichnungen seines Kommandos angepasste Namen der Gruppe nutzt. In der Gruppe gibt es zB "Leyna" die Hochelbin, und - schwupps - ist eine weitere Schergen-Bestar weiblich, und Baranik gibt ihr den Kommandonamen "Beyna". Dasselbe macht er mit den drei weiteren Bestar, die er als Einsatzkämpfende und "Deplorables" dabei hat.
• Die Nummer zwei im Kommando, Raht, empfindet mindestens große Hingabe zu Baranik und setzt Baraniks Sicherheit auf ihre höchste Priorität. Sie ist die am wenigsten nüchterne Bestar des Kommandos. (Spoiler: Sie überlebte den Kampf nicht und kam dazu, nur ein Wort zu sprechen.)
• Wie kommunizieren die militarisierten Bestar wohl untereinander? Sicher knapp und effizient. Mir kam auf der Anfahrt zur Spielsession eine Art Code in den Sinn, der auch als Grundgerüst der Bestarsprache gelten könnte. Also die Sprache noch schnell notiert als kleines "Rätsel", für so kleine, zur Atmosphäre beitragende, leichte Denkaufgaben haben meine Leute immer einen Sinn. (Spoiler: Im Laufe der Session gab es keine Gelegenheit, die Sprache einzusetzen.)
Was würden die Implikationen unterschiedlicher Ausgänge des Konfliktes sein?Die "Anti-Schummel-und Ergebnisoffenheits"-Fraktion mag sich wundern: Ich war für j e d e n Ausgang der Session offen.
• Es hätte sein können, dass meine Gruppe sich einfach wegteleportiert, und es gar keinen Kampf gibt.
• Einen TPK hielt ich für sehr unwahrscheinlich (20. Stufe, alle magiekundig), und für den TPK-Fall habe ich einen für die Gruppe überraschenden, aber lange schon gesäten und auch schon hier und da "angedeuteten" Twist in der Tasche, der die Gruppe einmal zurückbringen wird, aber von dem die Gruppe nichts weiß.
• Eine weitere Möglichkeit war, dass Baranik von der Gruppe getötet wird und zukünftig als Antagonist wegfällt. Wär dann so, es gibt genügend andere Antagonisten.
-> Ich wäre mit allen Ausgängen fein gewesen. Ich habe keinen Ausgang forciert.
Voraussetzung für Improvisation erfüllt: Vorbereitung abgeschlossen, Zukunft offen...All diese (und sicher viele weitere denkbare Möglichkeiten) habe ich absichtlich nicht weiter durchdacht. Ich fühlte mich sicher in dem Detailreichtum, mit dem ich die jüngste Vergangenheit, die Gegenwart und die ganz nahe Zukunft durchdrungen habe. Ich habe mich zugleich frei gemacht von Erwartungen: Ich will nicht durchdrücken, was ich mir für Raht, Baranik und die anderen Bestar ausgedacht habe. Die "Durchdringung" dient nur mir als Vorbereitung, und ich muss mich davor hüten, all das auch ausspielen zu wollen. (Wie ich schon andeutete: Die Bestar-Kommandosprache konnte im stattfindenden Kampf gar nicht eingesetzt werden, so schnell war er vorbei, und Rahts emotionale Bindung zu Baranik hatte ebenso keine Chance, sichtbar zu werden, so schnell war sie tot.) Diese Offenheit möglicher Verläufe schafft für mich den Raum für Improvisation.
...Improvisationen der SpielsessionJetzt nicht wundern: Viele Improhighlights hatte ich letzten Samstag dann gar nicht. Ich beschreibe die Spielsession trotzdem so ausführlich, weil ich mit frischer Erinnerung die Voraussetzungen zur Improvisation erklären möchte, die ich für wichtig halte.
Also: Als die erste Bestar-Schergin fiel, rief die emotionalere Raht "Beyna!!!". Meine Spielerin verstand sofort die Ähnlichkeit des Namens ihrer Figur "Leyna". "Baranil hat seine Leute wie uns benannt" war sogleich ihre korrekte Vermutung. Der Kampf endete nach einer Runde, und alle Schergen waren tot, und Baranik hatte sich mit wenig Lebenspunkten noch wegteleportieren können. Die Gruppe durchsuchte die Schergen. Über die Farbe von deren Kleidung hatte ich mir bis zu dem Zeitpunkt keine Gedanken gemacht, aber ich wollte (spontan) auch anhand der Leichen darstellen, wie Baranik zu diesen Schergen gestanden hat. Also fragte ich meine Gruppe, welche Kleidungshauptfarbe ihre Figuren tragen. Und dann sagte ich, dass außer bei "Raht" die Hauptfarbe der Kleidung der vier Unterschergen dieselben Farben haben, wie die Gruppe sie trägt. Plus dass die Unterschergenfrau, die "Beyna" gerufen worden war, diese Kleidungsfarbe wie Leyna trägt. Leynas Spielerin analysierte daraufhin "Baranik vermisst uns. Der macht seine Leute zu einem traurigen Ersatz für uns." und traf den Nagel damit auf den Kopf.
Ja, die spontane Kleidungsfarbfrage war jetzt kein Mindblowing-Beispiel für Improvisation. Aber sie zeigt, wie "Durchdringung" der gespielten Welt ermöglichst, spontan auf die passenden (im Gegensatz zu "beliebigen") Ideen zu kommen.
Dramaturgische EinfälleWenn es in die Konsistenz der Welt passt (1. Priorität) und unterschiedliche Ausgänge auch für mich als SL offen sind, dann "nutze" ich nicht selten dramaturgisch interessante (Re-)Aktionen der gespielten Welt. Beispiel: Hätte die Gruppe Baranik erledigt und wäre Raht noch am Leben gewesen, hätte ich wohl, abhängig von dem Zeitfenster, das sie zur Verfügung gehabt hätte, ihre emotionale Überwältigung aufgrund Baraniks Dahinscheiden ausgespielt. Das hätte die Gruppe sicher beeindruckt, weil sie es schätzt, wenn die Antagonisten auch eigene Persönlichkeiten sind. Mit mehr Zeit für Raht hätte ich vielleicht ihren Hass auf die Gruppe, die Baranik getötet hätte, deutlich gemacht. A new antagonist would have been born - und die Gruppe wäre live dabei und auch die Ursache gewesen.
Lebendige, improvisierte NSC-Reaktionen muss man sicher nicht gleich einen "dramaturgischen Einfall" nennen. Dramaturgische Effekte können
Überraschungen und
Suspense sein, das Auspielen innerer
Konflikte, Zuspitzen von Konflikt (evtl durch
Zeitdruck), das Erfüllen von Erwartungen wie das Brechen von Erwartungen. Wann immer es spontan in die Konsistenz der gespielten Welt passt, nehme ich gerne eins davon, denn es schafft Abwechslung, Lebendigkeit, Spannung und führt zu Player-Engagement.
Die Kurzfassung: Der "Schrödinger-Oger" als Kern gelingender ImprovisationWas, wenn Baranik in Wirklichkeit eine Tarnung als Bestar aufbaut, um in Wahrheit gegen die Bestar zu arbeiten? Wenn sein Herz also doch nicht so schwarz wie das von Imperator Palpatine ist, sondern nur sehr dunkelgrau? Wenn er eher eine Art "Luthen" (SW:Andor) ist? Wenn seine Rücksichtslosigkeit, die er seinen alten Gefährten gegenüber ausspielt, seine Glaubwürdigkeit als loyaler Bestar stärken soll?
Angenommen, Baranik bleibt als (scheinbarer?) Antagonist noch etwas länger leben, und irgendwann, beim großen Showdown, stellt er sich überraschend auf die Seite der Gruppe und gegen die Bestar, wie geil wäre das denn, dramaturgisch gesprochen?
Bei
Schrödingers Katze ist das Gegenteil gleich wahr: Seine Gedankenexperiment-Katze ist tot und lebendig zugleich, und erst wenn es drauf ankommt (man nachsieht), fällt die Entscheidung, ob die Katze schon tot war oder nicht.
Ich habe in diesem Beitrag mal den Begriff "offen halten" genutzt. Aber genauer wäre, dass ich bei der "Durchdringung" der gespielten Welt einiges gerne und bewusst in einem "Schrödinger Katze"-Zustand halte. Das öffnet die Tür für gut improviserte und auch dramaturgisch interessante Reaktionen.
Schrödinger-Baranik "zugleich" als Feind der Gruppe und "zugleich" als Teil der Rebellion: Ist das nicht eine Art Betrug?Ja, unter Umständen (die ich vermeide) würde ich es Betrug nennen: Sobald eine der beiden Rollen Baraniks zur gespielten Realität geworden sind, ist die eine Rolle festgelegt. Konsistenz der gespielten Welt und so. (Was nicht heißt, dass er wie Darth Vader nicht doch noch einmal einen Gewissensschub bekommen kann, zu Anakin wird und den Sturz des Imperiums unterstützen kann - aber für eine solche Umkehr muss es für mich nachvollziehbare Gründe geben.)
Solange aber können beide potentielle "Realitäten" wahr sein - und das ist dann kein "Betrug": Dass er für die Invasoren arbeitet oder dass er heimlich gegen die Invasoren arbeitet, und seine Taten im Sinne der Bestar nur seiner Tarnung dienen. Ob ein Schrödinger-Oger Betrug ist, hängt also davon ab, ab wo die Realität beginnt. Und für mich beginnt sie ab dem Moment, wo die Realität sich durch Ausspielen manifestiert hat.
Es macht mir große Freude, einige Dinge/Figuren für mich in Schrödinger-Schwebezustand zu halten und dann zu sehen, was sich entwickelt, wie es sich ausspielt. Den Moment des Ausspielens, des Festlegens, würde ich die einfachste, weil gut vorbereitete, und zugleich spannendste und erfüllendste Improvisation nennen.
Wie ging nach Baraniks Flucht per Teleport weiterging und hätte gehen können.