Ich höre beim rpg ja gar keine Musik. Komischerweise habe ich bei HârnMaster überhaupt keinen Drang (höhö), Mittelalterflair zu verbreiten. Hârn ist für mich einfach was ganz eigenes und fantasy! Bei Ars Magica sähe das anders aus.
Seltsamerweise ist diese Bemerkung bei mir hängen geblieben. Abgesehen davon, dass ich in Bezug auf Hârn anders empfinde, sich mir da Mittelalter schon sehr aufdrängt, musste ich ein wenig daran herumdenken, wieso ich mittelalterliche Musik (und auch Renaissance-Musik) in der Tendenz schon eher fantastisch finde.
Wir hören zu 95%, vermutlich sogar zu 98% Musik mit funktionaler Harmonik. Selbst die vielen Leute, die keine Ahnung von Harmonik haben und am Rechner oder im Bandprobenraum frei Schnauze Musik fabrizieren, entkommen der so tief eingeprägten Funktionalität nur punktuell, Modalität oder andere Abweichungen wirken dann immer eher als Deko, stellen den Status Quo aber nicht grundsätzlich in Frage. Und je kommerzieller es werden soll, desto mehr greift man auf Funktionalität zurück. Wegen der raffinierten spätromantischen Harmonik (vor allem Wagner) funktionieren die meisten populären Filmmusiken so gut. Mit Kadenzen, Trugschlüssen, Modulationen gepaart mit cleverer Instrumentierung lassen sich Emotionen am einfachsten manipulieren, weil die Masse der Hörenden das von Kindesbeinen eingeübt hat. So "fantastisch" aber ein Parsifal auf der Obernbühne ist, so ist das doch unser musikalischer Standard.
Ich glaube, deswegen haben Musiken, die davon unberührt sind, für mich etwas derart Fremdes, Aufregendes, Exotisches, dass sie eher dem entsprechen, was in meinem Kopf Fantastik ist. Ich höre zwischendurch ja immer wieder auch gerne alle möglichen "Volksmusiken", field recordings, etc. also Indisches, Chinesisches, Persisches, Arabisches -- wobei auch alte field recordings aus Europa mitunter erstaunlich Fremdartiges aufweisen. So eine Peking-Oper ist unseren Hörgewohnheiten ähnlich fern wie irgendeine Fantasywelt.
In der Musik aus dem europäischen Mittelalter (es wurde seltsamerweise auch nur in Europa eine Notation für Musik entwickelt, weshalb man nur schwer über nicht-europäische Musik des Mittelalters sprechen kann) kommt noch ein anderes phantastisches Element dazu: Die Theorie. Dass die mehrstimmige Musik des Mittelalters so seltsam klingt, hat einen extrem sonderbaren Grund, der uns heute kaum begreiflich ist. Wir sind es gewohnt, dass Musik emotional ist oder zumindest sein soll, und diese Emotionalität wird mit den oben schon angesprochenen Mitteln der funktionalen Harmonik in dur und moll bewirkt. Im Mittelalter aber gibt es nur Tonleitern und keine Akkorde. Auf Pythagoras aufbauend folgte Musik rein theologischen Überlegungen. Reinheit und Einheit waren göttlich, deshalb war der eine Ton das non plus ultra. Mehrstimmigkeit konnte sich deswegen nur gegen den Widerstand der Theologie überhaupt entwickeln. Und die Auflagen, damit sie geduldet wurde, waren alles entscheidend: Es durften nur Intervalle zusammenklingen, die noch irgendwie als göttlich durchgingen, also Intervalle von klaren, geraden Verhältnissen, 2 zu 1 (Oktave), 3 zu 2 (Quinte), 4 zu 3 (Quart). Die 3 und die 4 waren als Repräsentanten göttlicher Verhältnisse legitim, Dreieinigkeit, vier Evangelisten etc. Terz und Sexte dagegen haben vollkommen wirre Verhältnisse (5 zu 4, bzw 6 zu 5), galten deshalb als Dissonanzen und waren zutiefst weltlich, verwerflich. Höchstens als Durchgangsnoten in der Mehrstimmigkeit erlaubt. Sekunde und Septe waren richtige Dissonanzen (sind es ja bis heute) und deshalb der Teufel schlechthin. Die Sekunde war wirklich nur ausnahmsweise dann gestattet, wenn sie anschließend vom Einklang auf dem Grundton "erlöst" wurde.
Unter diesen Prämissen lassen sich keine Akkorde bauen, nichts, was uns emotional auf die Weise manipulieren könnte, die wir vom Mutterbauch an eingeübt haben. Andersrum verstehen wir nicht, was es für die Chorherren in Notre Dame, die die ersten Organa gehört haben, bedeutet hat, wenn da als Durchgang eine "dissonante" Terz erklang. Die Befriedigung, dass die Komposition göttliche Zahlenverhältnisse wahrt und deshalb erhebend ist, können wir nicht nachempfinden. Für mich fühlt sich diese nicht auf das natürliche Klangerleben, sondern auf abstrakte, physikalisch-theologische Gedankenspiele basierende Musik deshalb tatsächlich fantastisch an. Als hätten Zwerge sich das ausgedacht.
Das alles übrigens abseits der Frage, ob das als Untermalung zum Rollenspiel taugt. Es sind nur so meine Gedanken zur Repräsentation von Fantastik in Musik.
Ansonsten habe ich noch ein paar CDs gehört, die mit weniger gefallen haben (unter anderem von Sequentia, The Medieval Ensemble of London) und mich dann auch wieder anderen Epochen gewidmet. Aber jetzt ist ja Advent, und da darf man ja die Weihnachtsplatten wieder aus dem Regal ziehen, und da sind auch welche mit Musik aus dem Mittelalter dabei.

Alle drei sind von reinen Frauen-Ensembles aufgenommen. Die Musiken aus Prag und Ungarn sind oft einstimmig oder schlicht zwei- bzw dreistimmig. In diesen Gegenden konnte die Ars Nova nicht Fuß fassen, deshalb ist das nicht so verschwurbelt, sondern eher melodiös. Die Musik aus den Niederlanden ist spätmittelalterlichen, aber ebenfalls sehr schlicht, mitunter fast schon liedhaft. Das liegt in diesem Fall daran, dass es Musik einer Reformbewegung ist, die aus Frömmigkeit und Volksnähe auf die hohen Künste der Ars Nova verzichtet hat. Alle drei CDs finde ich gelungen. Die Platte von Anonymous 4 habe ich seit ihrem Erscheinen 1996, lebe also schon fast 30 Jahre mit ihr und liebe sie immer noch. Anonymous 4 singen einfach zauberhaft, die Handvoll anderer Aufnahmen von ihnen, die ich habe, finde ich auch allesamt empfehlenswert.
Und da wir bei Weihnachtsplatten sind, erlaube ich mir noch einen Tipp, auch wenn es keine Musik aus dem Mittelalter ist, sondern aus der Renaissance. Diese CD ist gleich bei ihrem Erscheinen 2014 ganz oben auf dem Stapel der rund um Weihnachten am dringlichsten zu hörenden Platten gelandet. Einfach phantastisch! Alle Aufnahmen von Dominique Visse sind dringend zu empfehlen, aber diese alten französischen Weihnachtsmusiken sind besonders hinreißend, vor allem in diesen mal innigen, mal raubaukigen Interpretationen.
