Zur Anwendbarkeit von Charisma-Boni:
Es gibt Boni auf Charisma über Edges, die IMMER angewandt werden, es gibt solche, die nur unter bestimmten BEDINGUNGEN angewandt werden.
Charismatic Edge gibt einem einen Charisma-Bonus, der IMMER wirkt. - Der +2 Charisma-Bonus eines Roten Ritters in Evernight wirkt jedoch NUR auf Leute, die demselben Glauben angehören, und auf alle anderen Personen NICHT.
Ob in einer bestimmten Situation ein bestimmter Bonus eingesetzt werden kann, oder nicht, ist letztlich IMMER eine Spielleiterentscheidung.
Ein Klettern-Bonus für einen Dieb gibt es eigentlich nur in städtischer Umgebung. Was ist aber mit einer z.T. überwucherten Ruinenstadt? Kann der Dieb da plötzlich die unbewohnten Gebäude schlechter erklettern, als die bewohnten in einer bevölkerten Stadt? => Spielleiterentscheidung.
Wenn ein Charakter mit bestimmten Edges und Hindrances ausgestattet ist, so geben die Grundregeln nur einen TEIL der notwendigen Informationen für diese Spiel-Elemente mit. Ein anderer Teil liegt in der Ausprägung, in der Bedeutung des entsprechenden Spiel-Elements IM SETTING. Und ein weiterer Teil liegt in der Bedeutung des Spiel-Elements in der AKTUELLEN SITUATION.
Warum schreiben die quasi "Adlige können sich auch in den miesesten Kaschemmen besser umhören als Diebe..."
Das schreiben "die" ja überhaupt nicht!
Ein Dieb, der gut im Umhören ist, sollte halt etwas mehr Ausstrahlungskraft besitzen (z.B. über Charismatic Edge oder über ein gutes Aussehen) UND gut Streetwise beherrschen.
Ein Adeliger ist jemand, der BEFEHLSGEWOHNT ist und eine AUSSTRAHLUNG der Überlegenheit hat. Das wirkt auch beim Umhören ganz gut (Lord Peter Wimsey in den entsprechenden Detektivgeschichten z.B.).
ABER: Streetwise ist ja nicht gleich Streetwise!
Auch hier gilt: Welche AUSPRÄGUNG hat dieser Skill in diesem SETTING?
Streetwise kann ebenso ein Umhören in den Salons der guten Gesellschaft sein, wie ein sich Herumtreiben in den opiumgeschwängerten Hinterzimmern in Chinatown. - Was jetzt hier gerade relevant ist, entscheidet die Art des SETTINGS und die jeweilige SITUATION.
Über die Art des Settings hatte der Spielleiter oder der Setting-Entwickler beim Anfertigen der Setting-Adaption entschieden.
Über die jeweilige Spielsituation entscheidet der Spieler in puncto, was sein Charakter macht, und der Spielleiter, welche der Charaktereigenschaften hierbei gerade zum Tragen kommen.
Vielleicht noch einmal klarer, WOFÜR Charisma bei SW eigentlich eingesetzt wird:
Charisma ist für Reaktionswürfe als Bonus auf den 2W6-Wurf einzusetzen für NSCs, bei denen deren Reaktion NICHT vorher schon feststand.
Charisma gibt einen Bonus auf Persuasion-Würfe.
Charisma gibt einen Bonus auf Streetwise-Würfe.
Achtung! Charisma unterstützt somit NICHT die anderen sozialen Fähigkeiten wie Menschenkenntnis (Notice), Einschüchtern (Intimidation), Verspotten (Taunt), Provozieren (Taunt), Armeen Kommandieren (Knowledge (Battle)), Schiffe Kommandieren (Boating), Leute beim Glücksspiel abzocken (Gambling), Leute Beschatten (Stealth), usw.
Man sieht also: Die Reaktionswürfe sind ohnehin nur dann notwendig, wenn die Reaktion eines NSC vom Spielleiter NICHT bereits festgelegt wurde. - Diese Festlegung kann im Abenteuer einfach global getroffen werden (alle Evil Cultists greifen sofort und ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben eventuelle Eindringlinge in ihren Tempel an - KEIN Wurf auf NSC-Reaktion!), oder durch Plausibilitätsabwägung (der hartnäckige Bürgermeister ist ein Lüstling, wenn ihn das Very Attractive Saloon Gal etwas fragt, dann wird er ihr sofort umfassend behilflich sein - und sie zu verführen/kaufen versuchen; wenn ihn der mehr als nur leicht Verrückte Wissenschaftler etwas fragt, dann wird er unhöflich ablehnend reagieren - erst letzten Monat hatte ein durchreisender Ghost-Rock-Irrer zwei Gebäude seiner Stadt eingeäschert).
Die Plausibilitätsabwägung zur NSC-Reaktion bezieht natürlich den RUF des SC und dessen "sozial wirksame" Charaktereigenschaften wie insbesondere die Edges und Hindrances ein.
Gewürfelt wird nur, wenn der Spielleiter sich nicht zu einer Entscheidung durchringen konnte, oder es ihm egal ist, wie ein NSC nun auf die SCs reagieren sollte.
Bei den anderen Anwendungsbereichen von Charisma gilt dasselbe: Man kann noch so ÜBERZEUGEND wirken, aber man wird KEINE CHANCE haben den Bürgermeister von Lost Angels zum Rücktritt zu bewegen. Diese Position ist eine "Setting-Invariante" und nicht durch einen einfachen Würfelwurf zu ändern. Wohl aber durch eine ganze KOMBINATION von Würfelwürfen - und zwar dann, wenn die Spieler mit ihren SCs gemeinsam auf die Entfernung des Bürgermeisters HINARBEITEN. - Da fallen dann garantiert auch einzelne Persuasion-Würfe bei Informanten, bei Guardian Angels, bei den Men of the Grid usw. an, aber eben nicht nur der eine.
Man sollte sich daher auch immer mal überlegen, in welcher Granularität die sozialen Fertigkeiten bei SW eigentlich "arbeiten". - Sie sind grobgranular, was ihren Anwendungsbereich betrifft. Aber ihr "WIRKUNGSBEREICH" ist NICHT umfassender als bei anderen Fertigkeiten. - Somit wird nicht durch EINEN EINZIGEN Persuasion-Wurf durch Mr. Bond der Superschurke Goldfinger von allen seinen Missetaten ablassen und ein guter Steuerzahler und Republikaner werden, sondern Bond kann sich gerade mal "von der heißen Herdplatte" reden. Nur ein wenig Zeit gewonnen, aber noch lange nicht den "Krieg".
Will man wirklich BLEIBENDE Effekte zeitigen, dann muß man auch MEHR EINSATZ im Spiel zeigen. Damit ist gemeint sich bei entsprechenden Gelegenheiten einzelne "Etappensiege" auf dem Weg den großen Konflikt zu lösen zu erspielen.
Was hierbei geht und was nicht entscheidet der Spielleiter.
Man kann Persuasion W12+2 (mit Expert-Edge) +8 (Noble, Very Attractive,Charismatic) haben, aber die W12+10 werden einem NICHTS nützen, wenn man versucht in Weird Wars II Adolf Hitler davon zu überzeugen, daß er doch besser den Krieg sein lassen soll, mehr Toleranz üben soll, und sich im Alpenland in Rente begeben soll. - Wie gesagt "Setting-Invarianten" kann man nicht im Rahmen einer einzelnen Handlung ändern, sondern deren Änderungen sind KERNTHEMA einer ganzen Reihe von Szenarien, die auf dieses Ziel hinarbeiten.
Charisma-Nachteile:
Und mal ganz abgesehen davon, dass du komplett außen vor lässt, dass man sich durch Nachteile Bennies erspielen kann. Wer sich Nachteile holt, die er in seinem Charakterdasein nie auspielen können wird, bekommt halt keine Bennies dafür.
Das ist auch der Grund, wieso jemand mit ordentlichen Abzügen im Charisma (falls man alle Abzüge summierte) immer noch Fertigkeiten wie Persuasion gebrauchen kann. - Landa in Inglourious Basterds ist ein SEHR charismatischer Charakter, charmant, mit Esprit, und er ist Mean, Bloodthirsty und ein Fanatiker. Nur merkt man diese Nachteile eben NICHT STÄNDIG!
Und so ist es auch mit den Hindrances für die SCs. - Ein Nachteil wie Bloodthirsty wirkt NUR im Umgang mit Leuten, die den entsprechenden RUF dieses Charakters kennen. Ansonsten könnte der Charakter ganz höflich und nett wirken - bis er eben mal in einer Gewaltsituation "keine Gefangenen" macht. - Mean genauso: ein Charakter läuft ja vermutlich NICHT den ganzen Tag rum und begeht "Gemeinheiten" bei allen unbekannten Passanten.
WENN eine solche Hindrance zum Tragen kommt, und wenn es interessant, neu, erfrischend, unterhaltend oder sonst irgendwie "Bennie-würdig" war, dann gibt es einen Bennie für das Ausspielen dieses Nachteils. - Wenn Uhtred auf direkten Befehl des Königs Alfred den letzten Überlebenden von Guthrums Angreifern am Leben zu lassen, mißachtet und ihn tötet, dann ist sein König Alfred angepißt und die Verteidigung von Wessex wird schwieriger, weil man eben den Dänen NICHT verhören konnte. Aber der Spieler von Uhtred bekommt einen Bennie für ausgespieltes Bloodthirsty (und einen entsprechend miesen Ruf beim König).
Nicht nur der Spielleiter entscheidet, ob und welche Eigenschaften eines Charakters in einer bestimmten Situation gerade zum Tragen kommen, sondern natürlich entscheidet der SPIELER zuerst, ob er diese überhaupt EINSETZEN will! - So könnte der Spieler Uhtreds ja auch in der Szene seine Loyalität zu seinem König höher bewerten als seine Tendenz blutrünstigst alle Feinde zu schlachten.
Nur wann würfelst du denn auf Charisma?
Um Leute zu bequatschen, belügen was auch immer? Dafür gibt's Persuasion.
Um Leuten deinen Willen aufzuzwingen, ihnen Angst zu machen? Dafür gibt's Intimidation.
Um Leute zu beleidigen, verhöhnen? Taunt.
Informationen aus Leuten rauszuholen? Streetwise.
Sehr guter Punkt.
Man darf nicht vergessen, daß SW aus Deadlands Classic hervorgegangen ist. - Dort gibt es das Attribut Mien/Charisma, doch wird darauf praktisch NIE direkt gewürfelt, weil es eben detaillierte Fertigkeiten wie Überreden, Bluffen, usw. gibt.
Savage Worlds BRAUCHT KEIN Charisma-Attribut, weil alles relevante bereits mit den sozialen Fertigkeiten (bzw. den Fertigkeiten in ihrer sozialen Ausprägung, in ihren sozialen Anwendungsbereichen) abgedeckt ist.
Ein solches Charisma-Attribut muß ja schon soviel WERT sein, wie die anderen Attribute.
Bei den fünf SW-Attributen gibt es KEINE Dump-Stats. ALLE sind wichtig. Und wer in seinem Profil eines davon entwickelt, der BEKOMMT was für seinen Level-Up!
Diese "Wertigkeit" wäre bei einem Charisma-Attribut überhaupt nicht gegeben.
(Nebenbei: was MIR tatsächlich fehlt, wäre ein "Wahrnehmungs"-Attribut. Das ist auch in DL Classic mit Cognition STÄNDIG direkt im Einsatz, und hier hat man zu SW zuviel zusammengekürzt, finde ich.)
Also wozu ein Charisma Attribut, für das wichtige Attributssteigerungen draufgehen würden? Man hat ja immer nur eine Attributssteigerung pro Rank. Daher wieder die Frage wozu?
Was soll Charisma als Attribut denn anders machen?
Ein weiteres Attribut rüttelt an allen Steigerungsregeln, da die Rank-Spanne (4 Level-Ups pro Rank) auf die 5 Attribute und 5 Ranks bezogen ist. Bei einem weiteren Attribut müßte man an der Spanne oder den Ranks oder beidem schrauben. - Oder man führt "minderwertige" Attribute ein, die billiger und ggf. öfter zu erhöhen sind - auch wieder eine KRASSE Änderung der Charakterentwicklungsregeln. - Zudem müßte man alle Edges auf das neue Attribut als "Zugangskriterium" abklopfen. Und dann müßte man sich NEUE Edges aus den Fingern saugen, damit ein Charakter der schwerpunktsmäßig Charisma erhöht hat, AUCH WAS DAVON HAT (verglichen mit z.B. einem Charakter der Spirit, oder Vigor, oder Smarts, oder Agility oder Strength erhöht hat).
Komisch dass noch niemand das NAHELIEGENDE angesprochen hat:
Bei SW sind Attribute (Tricks einmal ausgenommen) passiv, d.h. sie beschreiben nicht was der Charakter kann, sondern was ihn auszeichnet (stark, gewandt, willensstark etc.).
Charisma ist eindeutig NICHT passiv (es wird fast ausschließlich verwendet um Leute zu beschwatzen) und hat daher unter den Attributen nichts zu suchen.
Es gibt durchaus auch Anwendungen außerhalb von Tricks, bei denen Attribute AKTIV eingesetzt werden (Common Knowledge, Springen, Balancieren), aber die meisten Attributs-Würfe sind irgendeine Art "Resistenz-Wurf".
Und daher ist es auch so schwer vorstellbar, gegen was man mit Charisma "widerstehen" soll.
Eigentlich hätte man den Wert auch weglassen können und sagen: diese und jene Talente/Handicaps geben einen Bonus/Abzug auf Umhören und Überreden und beeinflussen die NSC-Reaktion, so wie man es bei den Fertigkeits-Boni bei den Experten-Talenten gemacht hat, allerdings kommt Charisma derart häufig vor, dass sich die Einführung eines zusätzlichen Abgeleiteten Wertes "aus logistischen Gründen" einfach anbietet
Eben. - An sich ERWARTEN Rollenspieler - besonders auf dem "Zielmarkt" USA - die üblichen Eigenschaften Stärke, Geschicklichkeit, Konstitution, Intelligenz, Weisheit und die Dump-Stat Charisma (außer für Paladine als Zwang und für Barden - wofür auch immer). Und SW biete Strength, Vigor, Agility, Smarts, Spirit und das "Nicht-Attribut" Charisma.
Hoher Wiedererkennungswert und LEICHTE Conversion von D&D/D20-Material machen das separate Aufführen eines Charisma-Wertes eine gute Entscheidung.
<Rest des Beitrags>
PERFEKT dargelegt (und so viel knapper als ich es je könnte!).