Latin.
Ich hatte vor vielen Jahren einen denkwürdigen Abend in einer Disco in Mexico City, den ich nie vergessen werde. Ich war mit einer Gruppe von Deutschen unterwegs, die von Mexikanern zu einem Uni-Austausch eingeladen worden waren. An diesem Abend waren ein paar bezaubernde Mexikanerinnen dabei, die so freundlich waren, mir hölzernem Europäer beizubringen, wie man Salsa tanzt. Die Musik? Nun, zuerst dachte ich: Wow! Super DJ, genau der richtige Ort für diesen Abend! Toll, dass ich hier bin! Aber dann, nach etwa der halben Zeit, kam plötzlich die Hausband auf die Bühne und... tja... also, so etwas habe ich noch nicht erlebt. Die Jungs haben keine Gefangenen gemacht. Der gesamte Saal lag ihnen zu Füßen. Ich habe als winziger Teil eines großen, glücklichen Kollektivs zu Latin Musik geschwitzt, gelächelt und transzendiert. Für einen Abend waren alle Menschen schön, alle konnten gut tanzen, alle lächelten glücklich, das Kondenswasser rann von den Wänden, ich hatte hübsche Frauen in den Armen, die genauso glücklich schienen wie ich... kurz: ein Abend, wie man ihn nicht so häufig erlebt. Das ist 20 Jahre her und ich bin noch immer sehr froh darüber.
Latin.
Wenn ich das heute höre, freue ich mich und weiß auch immer sofort, dass ich Latin höre. Viel mehr weiß ich aber nicht. Mit Ach und Krach kann ich noch einen Bossa Nova erkennen, aber schon beim Bolero gerate ich ins Schlingern... denn mit Ravels Bolero hat das zumindest für meine Ohren nicht mehr viel zu tun. Und das ist erst der Anfang. Kennt hier jemand den Unterschied zwischen Timba, Mozambique und Descarga? Irgendwie scheint es mir, als gebe es da einen sehr, sehr großen Reichtum an Musik, von dem ich fast nichts weiß.
Es gibt CDs, auf deren Hüllen vermerkt ist, um was für Gattungen es sich bei den Tracks handelt. Eine davon habe ich vor mir. Ich klicke einen beliebigen Track an und höre einen
Danzón (was immer das bedeuten mag):
Estrellas de San Antonio: AngoaDas Tempo des Tracks scheint zunächst eher behäbig. In einer längeren Einleitung werden die führenden Akteure schon einmal vorgestellt: Wie hören eine Querflöte, ein paar Streicher und einen Pianisten, der angesichts der virtuosen Sprünge etwas ins Schlingern gerät - macht nichts. Dann beginnt das eigentliche Thema: die Streicher spielen schwülstige Melodien, die nicht enden wollen. Irgendwann erklingen zackige Synkopen und die Musik scheint sich doch auf einen Schluss zuzubewegen (2´00´´). Aber denkste - es geht weiter und die Einleitung erklingt erneut. So langsam haben wir den Groove im Blut und dann folgt... eine Improvisation? Nein, wir müssen erst noch ein wenig in Stimmung kommen! Zu diesem Zweck spielen die Geigen ein insistierendes Pattern und die Musiker... fangen an zu singen. In dieser Musik ist das wie eine Sensation, wie die Sonne, deren Strahlen sich durch die dunklen Wolken schieben. Gesang ist hier nicht - wie bei uns üblich - das, was der Star tut, der den Track von vorn bis hinten dominiert, Gesang ist vielmehr ein Mittel der Steigerung... und das funktioniert super. Die Typen brauchen nur drei oder viermal "Es Angoa!" zu singen und die Magie ist da. Ich habe keine Ahnung, was Angoa ist, aber es muss etwas Wunderbares sein, so zuversichtlich und überzeugt die Typen uns das hier präsentieren. Wie üblich in dieser Musik sind Wiederholung und Minimalismus die Schlüssel zur Extase. Die Typen brauchen nur zwei Töne und zwei Wörter. Sie müssen auch nicht ausrasten oder schreien. Je cooler sie singen, desto mehr sind wir im Publikum verloren... verloren im Strudel der Emphase. Danach führt die Querflöte zu den üblichen zackigen Synkopen die Musik zu einem Schluss (3´09´´). Zu einem Schluss? Denkste - es geht weiter und der Pianist darf jetzt zur Belohnung ein längeres Solo abliefern. Wir hören, dass die kleine Aufmunterung seiner Kollegen auch auf ihn abfärbt: Wie er sich hier durch triolische Windungen und chromatische Rückungen hindurchlaviert klingt schon sehr viel aufregender, als zu Beginn und wir stellen fest, dass wir uns in Bewegung befinden, ob wir wollen oder nicht. Aber auch das beste Solo geht vorbei und es folgen zackige Synkopen, die das Stück zu einem Ende führen (5´08´´). Zu einem Ende? Denkste - es geht weiter. Bestätigend versichern dem Pianisten seine selbstverständlich völlig cool gebliebenen Kollegen zum Klang erregt zitternder Geigen, dass es "Angoa" ist, was er da gespielt hat. Und nachdem uns allen beim Tanzen Freudentränen in die Augen treten und erneut die Querflöte die magische Beschwörungsformel weiterführt, kommt es zur nächsten Sensation (6´10´´): Nach mehr als sechs Minuten verraten uns die Musiker, dass sie doch noch so eine Art Botschaft haben: "Aguardiente quemaíno te quita la sed / aguardiente todavía" (vielleicht: „Der Schnaps aus Quemaí löscht den Durst. Noch einen Schnaps!“). Und genau wie bei jeder guten Extase-Musik ist es völlig egal, was genau gesungen wird. Das ist bei „Angoa“ nicht anders als bei „She´s sexy and seventeen“ oder „Purple Haze“. Und wie als Bestätigung versichern uns die Singenden nachträglich so ungerührt wie bei den anderen Gelegenheiten auch, dass selbstverständlich auch das, was sie da eben von sich gegeben haben, „Angoa“ ist. Erst jetzt, wo wir Kontrollverlust und Zungenreden erleben durften, wo wir die Pforte all unserer Sehnsüchte passiert haben, erst jetzt kann der Song enden. Die abschließende Wendung ist ein wenig überraschend, aber kein Donnerschlag. Es sind schlaue Füchse, die hier spielen. Die Überwältigungskeule lassen sie im Sack, sie brauchen ihr Publikum ja noch. Der Track lässt uns mit einem seligen Lächeln auf den Lippen, wenn auch etwas atemlos und irritiert, zurück. So soll es sein. Wir wollen mehr!
Latin.
Es Angoa!