Ich höre gerade "Cry Baby Cry" von den Beatles und denke mal wieder über Schlüsse nach. Wie bringt man einen Song zuende?
Der Song wechselt zwischen einem Refrain, in dem ein Kind aufgefordert wird zu weinen, und Strophen, in denen von Königen, Königinnen und Fürstinnen berichtet wird, die sich nicht unbedingt allzu adelig verhalten. Die Harmonien und Melodien sind einfach, aber ein bisschen sehr bedächtig und verstärken den Eindruck, dass es der Hörer hier mit einer Art Anti-Kinderlied zu tun hat.
Hier hört man den Song in einer Demo-Version, die in George Harrissons Wohnung aufgenommen wurde. Es ist die Phase, in der sich die Mitglieder der Band bei einem ersten Projekttreffen die Songs für das nächste Album vorstellen. Entstehen wird im Folgenden das sogenannte "Weiße Album".
The Beatles: Cry Baby Cry (Esher Demo)Der Song steht im gemächlichen 4/4-Takt, nur vor dem Refrain wird immer ein einziges Mal auf ein 2/4-Takt verkürzt. Achtet nun darauf, was bei 1:58 geschieht. Der Schluss des Songs wird eingeläutet, indem ein ganz gravierender Taktwechsel einsetzt: es erklingt ein 6/8-Takt, statt der Viertel wirken die Achtel als Grundschlag der Musik. Der Schluss klingt, als habe man die Geschwindigkeit verdoppelt und den Takt verändert... seltsam.
Etwas später stehen die Beatles im Studio und spielen die neuen Songs ein. Wie das unbearbeitete Mastertape klingt, weiß ich nicht. Es gibt aber einen alternativen Take.
The Beatles: Cry Baby Cry (Anthology 3 Version)Zu hören ist hier die erste Einspielung des Songs im Studio, live und ohne Overdubs. Was geschieht am Schluss? Nichts. Der Song endet mit einem Schlussakkord, der Bass liefert noch ein heftiges Vibrato hinterher, mit dem der Song ausklingt. Das war´s. Was ist mit dem seltsamen Schluss der Demo-Version geschehen? Er wurde weggelassen, und zwar vielleicht schon deshalb, weil den Beteiligten klar war, dass man für ihn noch einen Ersatz aus der Tasche ziehen wird.
Nun zu der Version des Songs, wie er tatsächlich auf dem weißen Album erschien. Er enthält eine ganze Menge Overdubs und Überraschungen: Akkordeonfragmente, ein verstimmtes Barpiano, irgendwelche Naturgeräusche, mehrstimmiger Gesang, Gitarrenlicks...
The Beatles: Cry Baby CryWas aber geschieht am Schluss? Der Song scheint vorbei, aber da beginnt ab 2:34 schon etwas Neues. Es ist der Song "Can you take me back", der eigentlich als eigene Nummer für das Weiße Album vorgesehen war, dann aber doch nur in Form dieses kleinen Schnippsels an den Schluss von "Cry Baby Cry" drangeklebt wurde. Das Erstaunliche ist allerdings: der Song steht in der gleichen Tonart und im gleichen Tempo wie "Cry Baby Cry". Die Montage klingt also so, als halte die Musik einen kleinen Moment inne, gehe dann aber weiter - mit passendem Rhythmus und passenden Akkorden, aber irritierenderweise mit ganz anderer Melodie und einem Text, der zum vorangegangenen Verlauf nicht so recht zu passen scheint.
Also:
In der Demoversion geht der Song am Schluss genauso weiter wie bisher, aber in einem anderen Tempo und Metrum.
In der Studioversion geht der Song am Schluss nicht so weiter wie bisher, aber im selben Tempo und Metrum.
Mein Strukturalistenherz freuen solche kleinen Entdeckungen.
Natürlich muss am Ende die Frage gestellt werden: Gibt es einen Grund dafür, dass der Song so ein "Schlussproblem" hat? Ich weiß es nicht genau, aber wenn man sich die letzte reguläre Strophe anschaut, stellt man fest, dass sich die Adligen um Mitternacht zu einem okkulten Beisammensein treffen. Ein paar Kinder scheinen sich einen Jux daraus zu machen, dass sie das Treffen mit ominösen Geisterstimmen begleiten.
At twelve o'clock a meeting 'round the table
For a séance in the dark
With voices out of nowhere
Put on specially by the children for a lark (ugs. für "Jux", "Spaß")
Dann folgt nach einem letzten Refrain der (je nach Version unterschiedlich) skurrile Schluss... meine vorläufige Interpretation: der Song verlässt hier die bisherige Darstellungsebene und wechselt in die Jux-Perspektive. Die Kinder haben das Wort!