Pen & Paper - Spielsysteme > Systemübergreifende Themen

Ist "Cyberpunk" eine Systemfrage?

<< < (5/8) > >>

WeepingElf:

--- Zitat von: schwarzkaeppchen am 23.04.2012 | 19:26 ---Mmh, das stimmt jetzt auch wieder nicht so ganz... das erste Buch Neuromancer ist im Kern eine Runnerstory, später kommt noch der Maas Biolabs - Run dazu. Das ist zumindest im Neuromancer schon ein wichtiger Teil des Ganzen, in den anderne Gibson Büchern dann garnicht mehr.
Ansonsten ist der klassische Cyberpunk eher oft mit Action angereicherte Polizei/Detektiv/Krimi-Geschichte, hängt sich an einem bestimmten technischen Gadget auf oder macht beides. Den militärischeren Teil findet mensch noch in Büchern wie Hardwired (Williams) oder Eclipse (Shirley) aber ich persönlich würde eher andere Sachen empfehlen.


--- Ende Zitat ---

Ich habe ja nicht gesagt, dass Runnerstories kein Teil des klassischen Cyberpunks seien, sondern nur, dass selbst der klassischste des klassischen Cyberpunks auch Elemente enthält, die über eine Standard-CP-RPG-Runnerstory hinausgehen.  Natürlich sind Case, Molly und Armitage geradezu archetypische Runner, und Turner im 2.  Roman auch.

anachronist:
Ist Cyberpunk denn überhaupt noch umsetzbar? Wenn ich mir jetzt nochmal die Cyberpunk Klassiker vornehme, strotzen die doch nur so vor 80er Feeling. Das ist doch ziemlich altbacken mittlerweile. Total retro. Cyberpunk hieß aber immer technisches Utopia, gesellschaftliches Dystopia. Schmerzhaft hell und trostlos grau.  Beide Visionen haben wir schon heute zu 75% bereits umgesetzt. Gewisse Aspekte von Cyberpunk haben wir lange überholt. Ich sag mal: kabellos. Was sollen wir da noch mit Gibsons Ideen als Zukunftsvisionen?

Hinzu kommt, dass die albernen Metarassen und das ganze Magiegesumse von Shadowrun innerhalb des Systems, Cyberpunk von Beginn an erstickt haben. Viel zu viel Idealismus, viel zu viel Hoffnung, viel zu viel Schützenswertes. Cyberpunk ist doch der totale Ausverkauf aller immateriellen Werte. Oder die Entwertung des Idealismus. In den meisten Runden gabe es statt einer Suche nach Sinn und Idealen regelrechte Ausrüstungsorgien. Materialfetischismus. Darum dreht sich doch der Pudel. Die Verchromung der Charaktere in allen mir bekannten Systemen ist viel zu wichtig und belanglos zugleich. Denn eigentlich war doch der Inhalt von Cyberpunk die bittere Auflösung der Identität, der Zugehörigkeit zu etwas Ideellem.

Ich glaube Cyberpunk Rollenspiele haben nur angepassten Mittelstandkids die Möglichkeit gegeben im geschützten Rahmen Gangster zu spielen.

WeepingElf:

--- Zitat von: anachronist am 26.04.2012 | 22:15 ---Ist Cyberpunk denn überhaupt noch umsetzbar? Wenn ich mir jetzt nochmal die Cyberpunk Klassiker vornehme, strotzen die doch nur so vor 80er Feeling. Das ist doch ziemlich altbacken mittlerweile. Total retro. Cyberpunk hieß aber immer technisches Utopia, gesellschaftliches Dystopia. Schmerzhaft hell und trostlos grau.  Beide Visionen haben wir schon heute zu 75% bereits umgesetzt. Gewisse Aspekte von Cyberpunk haben wir lange überholt. Ich sag mal: kabellos. Was sollen wir da noch mit Gibsons Ideen als Zukunftsvisionen?

Hinzu kommt, dass die albernen Metarassen und das ganze Magiegesumse von Shadowrun innerhalb des Systems, Cyberpunk von Beginn an erstickt haben. Viel zu viel Idealismus, viel zu viel Hoffnung, viel zu viel Schützenswertes. Cyberpunk ist doch der totale Ausverkauf aller immateriellen Werte. Oder die Entwertung des Idealismus. In den meisten Runden gabe es statt einer Suche nach Sinn und Idealen regelrechte Ausrüstungsorgien. Materialfetischismus. Darum dreht sich doch der Pudel. Die Verchromung der Charaktere in allen mir bekannten Systemen ist viel zu wichtig und belanglos zugleich. Denn eigentlich war doch der Inhalt von Cyberpunk die bittere Auflösung der Identität, der Zugehörigkeit zu etwas Ideellem.

Ich glaube Cyberpunk Rollenspiele haben nur angepassten Mittelstandkids die Möglichkeit gegeben im geschützten Rahmen Gangster zu spielen.

--- Ende Zitat ---

Ja, Du bringst da ein paar Sachen auf den Punkt.

Ad 1: Die Visionen des Cyberpunk sind in der Tat in einigen Teilen Alltag geworden, in anderen schon überholt.  Und in der Tat ist der Cyberpunk ein Kind der 80er Jahre, und schon daher nicht mehr aktuell.  Das ist aber generell ein Problem der meisten Science Fiction, denke ich.  Die Zukunftsvisionen der 50er Jahre, beispielsweise, sind erst recht überholt, an Autos mit Atomantrieb und Computer, die ganze Häuserblocks ausfüllen, glaubt doch niemand mehr.

Ad 2: Die Fantasy-Elemente von Shadowrun machen in der Tat das authentische Cyberpunk-Feeling in diesem Spiel kaputt.

Ad 3: Der Materialfetischismus und die "Verchromung" der Charaktere ist in der Tat ein gaaaanz großes Problem in fast allen Cyberpunk-Rollenspielen, und ein wichtiger Grund, warum mich das Genre im Rollenspiel nicht besonders interessiert.  (Ein weiterer Aspekt, der aber mit dem Genannten zusammenhängt, ist der Pessimismus/Zynismus des Cyberpunks.  Das gefällt mir auch nicht.  Ich spiele nicht gern Charaktere, die um des schnöden Mammons willen zu allen Schandtaten bereit sind.  Darauf läuft es aber in den meisten Cyberpunk-Kampagnen in der Praxis hinaus.)

Fazit: Cyberpunk als solcher ist überholt.  Das heißt aber nicht, dass der Cyberpunk in seiner Zeit keinen Sinn machte, oder dass man nicht darauf aufbauen könnte.

schwarzkaeppchen:
Ok, wird mal wieder ot, aber hey...


--- Zitat ---Beide Visionen haben wir schon heute zu 75% bereits umgesetzt.
--- Ende Zitat ---

Das ist so der Punkt. Imho ist Cyberpunk heute noch einen guten Tacken gruseliger weil es nicht mehr ein Szenario eine Stunde sondern 5 Minuten nach heute schildert - hitting closer to home.
Ich finde ja das William Gibson genau den falschen Schluss daraus gezogen hat, also anstatt weiter SF zu produzieren, Kram zu schreiben der heute angesiedelt ist aus Angst den Anschluss an die Entwicklung zu verpassen. SF ist doch keine genaue Futurologie sondern eine vaage Metapher, vielleicht für das was sein könnte, vielleicht für was anderes.
Warum soll ein Genre überholt sein weil es wie kein anderes die tatsächliche Entwicklung vorweggenommen hat? Ist Space Opera überholt nur weil es in zB Star Wars weder Mobiltelefone noch Internet gibt? Es braucht technisch vielleicht ein Update.
Und das versuchen aktuelle Postcyberpunk- und Transhuman-Schreiberlinge doch auch zu bewerkstelligen und ohne "Cyberpunk-Elemente" ist aktuelle SF ohnehin nicht mehr denkbar. Geschichten um einen entfesselten Kapitalismus, Chimären aus Mensch und Maschine und kaputte Leben bleiben weiterhin aktuell und spannend.

Ich finde es irgendwie interessant im selben Atemzug die Theorie aufzustellen, dass Cyberpunk den Ausverkauf aller immateriellen Werte darstellt aber durch einen Materialfetischismus (der eigentlich genau das begünstigt) zerstört würde. Das kommt mir jetzt irgendwie widersprüchlich vor, aber ich würde beide Argumente auch nicht so mittragen. Können bestimmende Faktoren sein, müssen sie aber nicht.
Der Punkt der mich daran eher ankotzt ist das es oft nicht mal um "Fetischismus" geht (wie den Gibson zB mit seinem andauernden Markenkult bedient), sondern schlicht um die übliche Wargamer-Effizienz. Darum unnahbare Teflon-Halbgötter zu spielen um "zu gewinnen" was dann evtl aber jegliche Spannung aus einem Versuch von narrativem Spiel nimmt. Was aber auch nichts anderes ist als der vom Helm +2 zur Socke +5 ausgerüstete Metzelzwerg oder die geminmaxte Vampir-Überfliegerin ohne einen Hauch von Skrupeln. Das ist kein Cyberpunk sondern ein Rollenspiel "Problem".
Aber naja eigentlich überhaupt nicht... es gibt genug Leute die Spaß daran haben, es gibt Alternativen dazu - ist nicht meins, aber das muss ja nichts heißen.


--- Zitat ---Ich glaube Cyberpunk Rollenspiele haben nur angepassten Mittelstandkids die Möglichkeit gegeben im geschützten Rahmen Gangster zu spielen.
--- Ende Zitat ---
Mmh, was unterscheidet jetzt das Genre Cyberpunk dabei von fast allen anderen Rollenspielen auf dem Markt? Alles bluttriefender Eskapismus für wahrscheinlich mehrheitlich "angepasste Mittelschichtler*innen" (ob Kids oder nicht). Und naja, klingt irgendwie abwertend - aber ich wüsste jetzt auch nicht was daran groß problematisch sein sollte.

Arkam:
Hallo zusammen,

ich bin auf den Begriff Cyberpunk das erste Mal in einem Artikel mit dem Thema "Was ist Cyberpunk gestoßen?". Die dort beschriebene Mischung aus einer gewalttätigen Welt, Hightech vor allem Computer Hightech und Idealismus hat mich angesprochen.
Das erste Buch von Gibson war da am Anfang eine Enttäuschung. Am Ende wurde ich dann aber doch zu einem begeisterten Cyberpunk Leser.

Natürlich will man da als Rollenspieler auch Cyberpunk spielen. Shadowrun kam nicht nur später sondern hatte eben auch Metarassen und Magie. Das waren für mich klare Ausschluss Kriterien auch wenn ich Shadowrun gespielt habe. Cyberpunk 2020 war da schon besser hatte aber große Regellücken. Sogar ein eigenes Regelwerk, Sprung in eine neue Welt, entstand und wurde tatsächlich auch bespielt.

Mit dem Spielen kam dann aber auch die Erkenntnis das der Punk in Cyberpunk tot ist und die Regeln aller bisher bespielten Systeme, ja auch Sprung in eine neue Welt :-( , Probleme machten.
Hier war das Übel der simulatorische Ansatz. Gerade in einem Gebiet das sich dermaßen schnell änderte wie die Computer und Kommunikation Technologie wurden konkrete Angaben, in RAM oder Megahertz, sehr schnell lachhaft. Zudem wurden gerade für das Hacken Subsysteme geschaffen die in ihrer Komplexität durchaus einem eigenen Kampfsystem, meistens nur für eine Person in der Runde, ähnelten. Das Ergebniss war keiner wollte einen Hacker spielen.  :q
Hinzu kam das Problem das mit Cyberware der Charakter verbessert werden konnte. So wurde es nötig sich extrem um Geld zu bemühen um sich den meistens recht teuren Kram leisten zu können. Das führte aber dazu das  man schnell nach dem Motto "Erst kommt das Fressen ähh natürlich die Cyberware und dann kommt die Moral." verfuhr. Schnell wurde der Charakter so auch vom Punk aus eher zu einem geachteten Mitglied der Gesellschaft oder zu mindestens einer mächtigen staatlichen Institution / Konzern. Auch hier wurde detailliert simuliert so das es jede Menge Subsysteme gab die alle aufeinander aufbauten Man konnte sich also nicht nur ein Kunstherz +1 kaufen sondern musste sich dann auch Herzklappen +1, Arterien +1 und Venen +1 kaufen um den gewünschten spieltechnishen Effekt zu erreichen.

Wegen dieser Erfahrung ist Cyberpunk im Rollenspiel für mich inzwischen tatsächlich eine Systemfrage. Cyberpunk Elemente im Rollenspiel sind ja inzwischen Standard. Ja selbst in der neusten Traveller Fassung sind Cybergliedmaßen und Hacken angekommen.

Gruß Jochen

Navigation

[0] Themen-Index

[#] Nächste Seite

[*] Vorherige Sete

Zur normalen Ansicht wechseln