Ausgehend von mehreren aktuellen Theoriediskussionen, die ich hier jetzt nicht verlinke, in denen es aber auf die eine oder andere Art darum geht, ob es gute und schlechte Regelsysteme gibt, ob Regelsysteme überhaupt wichtig für's Rollenspiel sind und ob das System, nach dem man spielt, nun nur die Spielregeln im engeren Sinne (also, das, was im Regelbuch und/oder in der Hausregelsammlung steht) umfasst oder die Gesamtheit an expliziten und impliziten Umgangsregeln einer Gruppe (evtl. bis hin zu der Frage, wer für alle kocht), und vor allem ausgehend von dem Eindruck, dass diese Themen ein Minenfeld leicht zu kränkender Eitelkeiten darstellen (wo ich mich explizit einschließe), eröffne ich mal diesen Thread, in dem es um folgende Frage gehen soll:
Was hat die Art, auf die Debatten um den Stellenwert von (Spiel-)regeln im Rollenspiel geführt werden, mit dem individuellen Bedürfnis der Debattierenden nach Distinktionsgewinn (ich verleihe meiner Position Gewicht, indem ich mich von anderen Positionen deutlich abgrenze) und mit ihrem Streben nach "kulturellem Kapital" (das natürlich nur innerhalb der Rollenspielszene, evtl. sogar nur innerhalb einer Sub-Szene wie Forgianer oder Old-Schooler, eine Gültigkeit hat) zu tun?
Um die Frage/These zu konkretisieren, komme ich mal mit meiner eigenen Biographie:
Nach langem seligen DSA1-2-Gespiele wurde ich (ich glaube so Anfang der 90er) zunehmend mit zwei Ansätzen konfrontiert, die versprachen, das Hobby Rollenspiel "anspruchsvoller" zu gestalten. Der eine war repräsentiert in Rolemaster, das anspruchsvoll erschien, weil die Regeln für damalige Verhältnisse ungeheuer komplex waren und enorm viele Bereiche abdeckten - es hatte den Ruf des "Profi-Rollenspiels". Die andere Richtung war - wenn auch in unterschiedlicher Weise - durch Vampire und Cthulhu repräsentiert (letzteres zumindest in seiner deutschen Variante) - eine Literarisierung des Hobbys versprachen und dem Schwerpunkt laut Regelbuch bzw. Szenediskurs auf das Darstellen psychologisch komplexer Figuren bzw. auf Atmosphäre legten. Aus dieser Richtung - sowie von DSA her - drang auch die Idee zu mir, dass es auf die Regeln gar nicht ankäme bzw. dass selbige fast schon antithetisch zu "eigentlichen Rollenspiel" wären.
Beide Richtungen haben meine Neugier erregt, aber auch eine gewisse Angst bei mir erzeugt, den entsprechenden Spielen nicht gerecht werden zu können. Das war tatsächlich in meinem Rollenspielumfeld so eine Weile ein Thema, dass manche Spiele unglaublich anspruchsvoll und damit auch "schwer" seien, also nur was für besonders brillante Rollenspieler, nicht für den Otto-Normal-Spieler von der Straße. Ob ich selbst ein authentisches Bedürfnis nach einer anspruchsvolleren Rollenspielerfahrung hatte, kann ich gar nicht sagen, es war aber klar, dass man sich als "ernsthafter" Rollenspieler für die eine oder andere Richtung der "Professionalisierung" entscheiden musste.
Ich bin dann bei Cthulhu gelandet, dass ich eine Weile durchaus gerne und viel geleitet habe - lange Zeit aber mit einer gewissen Hemmung und Angst im Hinterkopf. (Die hat mir erst eine Runde bei Cthulhu-Autor Steffen Schütte ausgetrieben, der einfach locker und humorvoll geleitet hat, ohne irgendwelche großen literariscchen Ansprüche vor sich herzutragen.) Den Ansatz, dass es "auf die Regeln ja nicht ankommt, sondern aufs gute Rollenspiel(TM)" verbinde ich deshalb bis heute ein bisschen mit der Angst, ein "schlechter Rollenspieler" zu sein, nicht zur Rollenspieler-Elite zu gehören.
Dass dieser Rollenspieler-Elitediskurs eine reale Sache ist und nicht nur in meinem Kopf existiert, habe ich dann später vor allem im deutschsprachigen Cthulhu-Forum erlebt. Wer da in jüngerer zeit die Diskussionen zur 7th ed. verfolgt hat, wird wissen, wie massiv ein Großteil der Spieler dort praktisch alle anderen Systeme (vor allem D&D) als stumpf denunziert und wie nachdrücklich immer wieder der hohe literarische Anspruch des eigenen Spiels betont wird. Besonders paradox an dieser Diskussion war, dass dabei immer die Behauptung hochgehalten wurde, dass Regeln ohnehin unwichtig sei, gleichzeitig aber der Untergang des Cthulhu-Spiels beschworen wurde, weil die 7te Edition entweder ein D&D-mäßiges Hack-and-Slay-Spiel daraus machen würde oder aber durch die andere (vielfältigere) Verregelung von Sanity die ach so komplexe Psychologie der SC in ein Regelkorsett zwänge, die das Rollenspiel ersticken würde. Sprich: Neue Regeln für den Kampf waren angeblick schlecht, weil der Kampf nicht das Kernthema von Cthulhu sei und dadurch eine Überbetonung erfahre; neue Regeln für Sanity waren angeblich schlecht, weil Geisteszustände das Kernthema von Cthulhu seien und man es durch Verregelung aus dem reich des guten Rollenspiels ins Reich der Regeln zerre, die ja nur was für dumme, schmutzige Proletarier sind ... diese Haltung ließ sich auch nicht durch den Umstand beeindrucken, dass Kampf und Sanity ja auch im guten alten Cthulhu (durchaus nicht unkomplex) verregelt sind, nur halt anders ... egal. Wie dem auch sei: Man sieht, dass ich bis heute einen kleinen Hass auf diese Elitedebatten schiebe, der mich dazu gebracht hat, der deutschsprachigen Cthulhu-Szene ganz den Rücken zu kehren.
Da waren forgige "System does matter"-Ansätze natürlich eine Art von Befreiungsschlag für mich - sie haben den unseligen Gegensatz zwischen Regeln und Rollenspiel in meinen Augen aufgehoben und vermittelt, dass es um das Rollenspiel als Gesamterfahrung geht, in dem man ganz unterschiedliche Schwerpunkte setzen kann. Sie haben aber auch einen neuen Elite-Diskurs eröffnet: Den der Spieler, die durchdesignte, wiederum "anspruchsvolle" Indies wie PTA, Fiasko und Polaris zocken und dabei eine hohe Synthese aus Erzählerlebnis und Spiel generieren. Und ich kann mir vorstellen, dass andere Spieler mit diesem Elitediskurs eine ganz ähnliche Frust-und-Angst-Erfahrung gemacht haben wie ich mit der Cthulhu-Szene und mit Vampire.
Worauf ich hinauswill, ist mal wieder was ganz Banales: Man kann den elitären Diskurs, der eine Spielweise über andere erhebt, ablehnen, ohne deshalb die Spielweise ablehnen oder für dumm befinden zu müssen. Viele Diskussionen über verschiedene Spielweisen sind aber davon geprägt, dass die einen den anderen "beweisen" wollen, dass ihr Ansatz doof ist, eine Kopfgeburt, für die Praxis untauglich. Da kommen dann Sachen in Richtung von: "Ich habe es mit Player Empowerment versucht, und es ist nur Mist bei rausgekommen, ihr spinnt doch alle und seid arrogant und blöd." Gleichzeitig wird die Erfahrung, dass andere mit diesen Ansätzen tolle Erfahrungen gemacht haben, negiert, sie werden als Lügner und Wichtigtuer dargestellt, die eben nichts im Sinn haben, als sich selbst als Rollenspieler-Elite darzustellen.
Und da ist ein Stück weit was wahres dran: Jede Begeisterung für einen neuen Ansatz schlägt natürlich leicht in ein Elitebewusstsein um: Ich habe da was gehört/probiert, das ist ganz toll, das müssen die anderen mir jetzt unbedingt bestätigen, das ist das neue geschnitten Brot ... klar kann das nerven. Und am besten grenzt man sich natürlich von der impliziten Abwertung, die man erfährt, wenn man nicht zur "neuen Elite" gehört, natürlich ab, indem man selber Elitär ein anderes Prinzip hochhält "System does not matter".
Psychologisch ist das alles sehr nachvollziehbar, für Diskussionen übers Rollenspiel aber Gift - denn gerade hier geht es ja ausnahmsweise mal nicht drum, eine zutreffende/praxistaugliche Theorie der Wirklichkeit zu entwickeln, sondern mögliche - und ganz unterschiedliche - Praktiken im Rollenspiel zu untersuchen, die alle richtig sind, solange sie den Beteiligten Spaß machen. Nicht mit dem Ziel, die richtige Praxis für die Rollenspielerelite zu finden, sondern aus den gewonnen Erkenntnissen heraus die jeweiligen unterschiedlichen Praktiken zu erweitern und herauszufinden, wo die verschiedenen Ansätze einander bereichern können.
Und trotzdem muss ich zugeben, dass es mir schwer fällt. Wenn Wellentänzer daherkommt und behauptet: "System does not matter", dann mag er damit eine interessante Perspektive ins Spiel gebracht haben, die für bestimmte Rollenspielpraktiken gilt. Wenn er das verabsolutiert, sehe ich aber nur noch einen aufgeblasenen Athmo-Spieler vor meinem inneren Auge, der mir erklärt, dass ich, wenn ich mich dafür interessiere, was für ein Regelsystem ich verwende, gar kein "richtiges Rollenspiel" Spiele, sondern zu diesem ungewaschenen Haufen da gehöre, die doch lieber gleich alle World of Warcraft spielen gehen und bloß nicht mit ihren kotigen Sohlen die heiligen Hallen des gehobenen Stimmungsspiels betreten sollen ...