Autor Thema: Innovative Rollenspiele  (Gelesen 1526 mal)

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Offline Wandler

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Innovative Rollenspiele
« am: 14.05.2017 | 12:40 »
Eine Frage die mir durch den Kopf geht und deren Recherche sich als sehr viel mühsamer herausgestellt hat als ich es erwartet hätte. Mich würde interessieren welche Rollenspiele ihr als innovativ bezeichnen würdet.

Es ist mir komplett egal ob das Rollenspiel zu 99.99% wie alle anderen abläuft, ob es nur ein einzelner Satz ist, der für euch innovativ war oder auch nur die Art wie etwas bestehendes präsentiert wurde. Eure ganz persönlichen Meinungen sind was mich interessieren würde.

Innovativ wird extrem oft in Verbindung mit erfolgreichen neuen Indies verwendet, allerdings scheitern fast alle Reviews, die das Wort "innovativ" verwenden zu erklären, was denn nun innovativ ist.

Ich würde bitte, dass ihr eure gegenseitigen Vorschläge nicht runtermacht ABER was mich sehr wohl interessiert, ist wenn jemand weiß, ob eine vorgeschlagene Mechanik vielleicht schon früher in einem Rollenspiel veröffentlicht wurde ("Haben wir immer so gespielt, ist mir dafür zu wenig").

Beispiele:
Apocalypse World - Fail Forward - Vincent D. Baker
Das Konzept bei einer Probe immer voranzukommen und nicht über Erfolg oder Fehlschlag zu entscheiden sondern über die Art des Vorankommens.

Burning Wheel - Goals, Instincts, Beliefs - Luke Crane
Das Konzept, die Wünsche und Einstellungen eines Charakters zum treibenden Erfahrungspunktemechanismus zu machen. Goals, Instincts und Beliefs gibt es bestimmt seit es Rollenspiele gibt, aber daraus eine Spielmechanik zu machen war mir neu.

Fate Core - Aspekte - Fred Hicks & Rob Donoghue
Ein Charaktermerkmal, free-form gewählt, welches über klassische Attribute und Fertigkeiten (die Fate ja irgendwie "auch" besitzt) und welche die Art wie eine konkrete Runde ablaufen wird schon durch die Wahl der Aspekte maßgeblich beinflussen wird. Überschneiden sich in Bezug auf ihre Triggerbarkeit mit den Goals, Instincts, Beliefs aus Burning Wheel und auch in ihrer freeform-wahl. Allerdings sind Aspekte eine noch größere Menge, da alle GIB die man in BW wählen kann auch Aspekte sein können, allerdings können sie noch darüber hinaus gehen.

Man könnte vielleicht sogar argumentieren, dass damit GIB aus BW nicht mehr innovativ sind, weil Aspekte einfach all das und noch mehr tun. Aus Beispielzwecken lass ich aber beide Einträge stehen.

Ucalegon

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Re: Innovative Rollenspiele
« Antwort #1 am: 14.05.2017 | 13:04 »
In Ansätzen findest du hier schon etwas dazu.

Offline Wandler

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Re: Innovative Rollenspiele
« Antwort #2 am: 14.05.2017 | 13:29 »
Spitze! Danke.

Ucalegon

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Re: Innovative Rollenspiele
« Antwort #3 am: 14.05.2017 | 18:44 »
Eine Recherchemöglichkeit für innovative Indies ist die Kategorie MOST INNOVATIVE GAME der Indie RPG Awards. Da stehen häufig mal mehr mal weniger hilfreiche Begründungen dabei.

Die Liste der bestplatzierten Rollenspiele in dieser Kategorie:
2002 Universalis
2003 My Life with Master
2004 Dogs in the Vineyard
2005 Polaris
2006 Lacuna
2007 Grey Ranks
2008 Sweet Agatha
2009 A Penny for my thoughts
2010 Apocalypse World
2011 Do: Pilgrims of the Flying Temple
2012 Dog Eat Dog
2013 The Quiet Year
2014 The Clay that Woke
2015 Fall of Magic

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Ein paar innovative Rollenspiele/Regeln, die mir in letzter Zeit besonders ins Auge gefallen sind:

Delta Green (2016) - Beim aktuellen, traditionellen Horror-Rollenspiel mit Trail of Cthulhu oder CoC 7E sind wichtige persönliche Bindungen der Figuren regeltechnisch ein Ruhepol, der bisweilen durch die SL in Gefahr gebracht werden kann. Diese Gefahr kommt von außen. In Delta Green sind solche Bindungen ebenfalls eine Quelle von Sicherheit und Stabilität, denen aber - und hier beginnt der innovative Teil - die Hauptfiguren selbst (!) Schaden zufügen, indem sie die Belastungen ihrer Arbeit und der furchtbaren Ereignisse, deren Zeugen sie werden, mit nach Hause bringen. Mechanisch: Bindungswerte meiner Figur zu geliebten und geschätzten Personen sinken, wenn ich sie benutze, um Stabilitätsverlust abzumildern oder einen Kontrollverlust zu vermeiden. Ein weiterer mechanischer Clou: Immer wenn die Gruppe der Hauptfiguren zusammen etwas Schreckliches durchsteht, das bspw. einem ihrer Mitglieder zugefügt wird, entstehen Bindungen zwischen den Hauptfiguren oder die bestehenden werden enger, während gleichzeitig alle anderen Bindungen der Hauptfiguren Schaden nehmen. Indem es diese Entfremdung der Hauptfiguren vom eigenen Leben so in den Mittelpunkt rückt, verschiebt Delta Green den Fokus traditionellen Horror-Rollenspiels ein ordentliches Stück. [Inspiriert ist das Ganze v.a. von aktuellen Serien wie True Detective oder The Americans].

Lovecraftesque (2016) - SL-loses Horror-Rollenspiel ist eine happige Design-Herausforderung, weil kaum ein Genre so sehr vom SL-Theater lebt wie Horror. Wie kann ich möglichst lange im Dunklen bleiben bzw. mich der Bedrohung langsam nähern, wenn ich mir sie und alle Hinweise auf sie doch selbst ausdenke?. Die Lösung, die Lovecraftesque findet, ist ein genialer Kunstgriff: Wer dran ist, erzählt Hinweise und Spuren, auf die die von einer anderen Person gespielte Hauptfigur der Geschichte stößt. Nach der Szene überlegen sich die Mitspielenden jeweils allein (!), was sich möglicherweise hinter den Hinweisen verbirgt und formen eine persönliche Theorie, die sie nicht mit den anderen teilen und auf der sie, wenn sie selbst Hinweise streuen müssen, aufbauen. Bis ganz zum Schluss ist also allen Beteiligten vollkommen unklar, um was es sich beim Final Horror eigentlich handelt, obwohl eine ununterbrochene Folge aufeinander aufbauender Hinweise den Zeugen an diesen Punkt geführt hat. Erst jetzt offenbart jemand seine Theorie als die "wahre." Dementsprechend müssen die enthaltenen Szenarios/Playsets für Lovecraftesque - die auch thematisch eine kleine Innovation sind, weil sie bewusst vom Standard weißer Männer als Horror-Protagonisten abweichen - nur eine Reihe beispielhafter Hinweise präsentieren, aber keine Lösung.

Hillfolk (2013) - Das Spiel unterscheidet klar zwischen dramatischen und prozeduralen Szenen mit jeweils eigener Mechanik. Der Fokus liegt natürlich auf ersteren ("Drama System") und damit in jeder Szene darauf, was die Figuren auf der emotionalen Ebene voneinander wollen, wann also bspw. Respekt gewährt wird und wann nicht. Was die Figuren können ist weitestegehend egal, es zählen ihre emotionalen Bedürfnisse und ihr Zerrissensein zwischen zwei dramatischen Polen/grundlegenenden Charaktereigenschaften. Dass Hillfolk dementsprechend fast ausschließlich aus sozialen Konflikt/Dialogsszenen besteht, in denen Figuren wie in einem Kammerspiel einander anschreien, gut zureden, Vorwürfe machen, manipulieren, bricht in dieser Militanz ganz grundlegend mit traditionellem Rollenspiel. 

Dog Eat Dog (2012) - Die Dynamik der Beziehung zwischen einer überlegenen Kolonialmacht und ihren Opfern in Form von Verhaltensregeln sich entwickeln zu lassen, die aus dem fiktionalen Geschehen selbst abgeleitet werden und die Spielenden mehr und mehr zu moralischen Entscheidungen für ihre Figuren zu drängen, ist schlicht das Beeindruckendste, das mir in einem Rollenspiel bisher begegnet ist. Steht mit dem Award 2012 also mehr als zurecht in der Reihe der ganz großen Neuerungen. Umfangreich habe ich das Spiel hier besprochen.

Technoir (2011) - Technoir bietet eine elegante, von den Fiasco-Playsets inspirierte Methode, einen Noir-Fall zu improvisieren. Jedes Mal, wenn die Figuren einen ihrer Kontakte anhauen, um nützliche Hinweise zu ihren Ermittlungen zu erhalten, wird auf der Playset-Tabelle gewürfelt und dem Fall eine neue Wendung hinzugefügt (von Erreignissen über Objekte und involvierte Personen) und mit einem bereits bestehenden Plotelement verknüpft. Visualisiert wird das Ganze als eine Art Beziehungs-Netz. Besonders cool: Der angehauene Kontakt kann selbst zum Teil des Netztes werden, also unerwartet etwas mit der Sache zu tun haben.   

Mars Colony (2010) - SF sagt mehr über unsere Gegenwart aus als über die Zukunft. Dass Mars Colony beim Setup entsprechend ohne Umschweife dazu auffordert, echte politische Parteien und eigene politische Ängste übermalt als Story-Elemente einzubauen, fand ich überraschend. Damit ist Mars Colony immer ein politisches Spiel, ganz abgesehen von den anderen Regeln. Die Grundidee, etwas von sich selbst ins Setup zu geben, ist freilich nicht neu. Keine Ahnung, wer das zum ersten Mal gemacht hat.

Sign in Stranger (2009) - Sollte es funktionieren - und ich bin nicht sicher, ob es das tut - dann löst dieses SL-lose SF-Rollenspiel ein interessantes Problem. Die Frage: Wie mache ich das Fremde wirklich fremdartig? Wenn ich in Sign in Stranger eine Beschreibung meiner Umgebung, eines Gegenstands, des Verhaltens fremder Wesen oder Tiere et cetera haben will, dann zieht eine andere Person ein Nomen, Prädikat oder Adjektiv aus einem Topf und basiert ihre Beschreibung auf dem gezogenen Wort ohne dabei das Wort selbst zu nennen. Ich sehe also vor mir bspw. eine Reihe engmaschig aufragender Spitzen (gezogenes Wort war: "Kamm"). Soweit, so Mad Libs. Der Clou: Was ich sehe, hat nichts damit zu tun, welche Funktion das Gesehene hat. Der eigentliche Spielinhalt (und die Mechanik) besteht darin, über viele, viele Sessions nach und nach Erklärungen für und einen Zugang zu der fremden Welt zu finden, in der ich gelandet bin, also Fragen zu erforschen von "Wo finde ich hier Unterschlupf?" über "Wie ernähren sich die Aliens?" bis zu "Welche Form haben Gesetz und Verbrechen in ihrer Kultur?" Quasi soziologische Hexploration. Innovativ: Aber Hallo. 

Ribbon Drive (2009), Matching Hearts (2016) - Musik bzw. eine Playlist in Rollenspielen zum Teil der Mechanik zu machen und nicht bloß im Hintergrund für die "Atmo" dudeln zu lassen, finde ich neu und cool.


Offline Wandler

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Re: Innovative Rollenspiele
« Antwort #4 am: 14.05.2017 | 19:35 »
Absolut spitzen Post. Danke!

Leider ist genau diese Kategorie des rpg awards ein Mitgrund für diesen Thread. Hat mich echt geärgert, dass sich eine Kategorie die sich "most innovative" nennt, dann nicht genau darauf eingeht warum.

Offline KhornedBeef

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Re: Innovative Rollenspiele
« Antwort #5 am: 15.05.2017 | 12:02 »
13th Age (2013) : Die "icons" und die extreme Verzahnung von Settingelementen, Charakterhintergrund, Konfliktlösung und improvisierter Abenteuerstruktur, die sie ermöglichen sollen. Ich kann mir allerdings gut vorstellen, dass diese Idee bereits einmal ähnlich umgesetzt wurde.
Edit: Genauer: es gibt 13 Figuren in der Welt, die einerseits archetypischen Charakter haben und andererseits so viel persönliche Macht haben, dass ihre Handlungen auf der ganzen Welt spürbar sind. So etwas wie Elminster in den Forgotten Realms, in etwa. Spielercharaktere können positive, negative oder "schwierige" Beziehungen mit diesen icons haben. Zu bestimmten Spielzeitpunkten würfeln sie je nach Grad der Beziehung eine Anzahl würfel, und das Ergebnis gibt an, ob für die Spielsitzung oder nur eine konkrete Situation die Beziehung zum icon eine Rolle spielt ("Der superwichtige Magier ist dir aufgrund deiner positiven Beziehung zum Erzmagier wohlgesonnen"). Dadurch werden auch für die Spielleitung unerwartete Verflechtungen angeregt, z.B. könnte der Wurf bestimmen, welches icon hinter einem bestimmten Plot steckt, der in der Session zentral ist.
« Letzte Änderung: 15.05.2017 | 12:22 von KhornedBeef »
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Offline ArneBab

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Re: Innovative Rollenspiele
« Antwort #6 am: 15.05.2017 | 21:41 »
Ich habe für das EWS mal ausgeführt, was daran wirklich neu ist: http://www.1w6.org/deutsch/regeln/hintergruende/was-ist-neu-am-ews

Der beste Ausdruck, den ich dafür gefunden habe, ist Direktheit. Wobei ich es verdammt schwer finde, ein Spielgefühl zu beschreiben — und herauszufinden, was davon eigentlich aus den Regeln kommt.
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