Autor Thema: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus  (Gelesen 6857 mal)

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Offline Chiarina

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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #150 am: 6.07.2021 | 01:15 »
Am nächsten Tag findet in Dégringolade das Fest der schlüpfenden Schildkröten statt. Lokapriya, der Philosoph, begibt sich mit vielen anderen Menschen und Minotauren an die Mündung des ewigen Flusses um dort zu beobachten, wie die frisch geschlüpften Schildkröten ihren Weg ins Meer antreten. Viele Menschen tragen Blumen im Haar und festliche, bunte Kleider. Der Duft süßen Gebäcks zieht durch die Straßen. Die Menschen lachen, singen und umarmen sich. Angestellte Minotauren arbeiten auch heute für die Menschen Dégringolades, aber weil die meisten Menschen freudig erregt sind, kommt es an einem Tag wie diesem auch zu weniger bösen Worten und Schikanen. Daher freuen sich auch die Minotauren auf dieses Fest.

An der Flussmündung angekommen sieht Lokapriya den kleinen Schildkröten hinterher, bis er etwas Ungewöhnliches entdeckt. Ein einzelnes Schilkrötenbaby scheint eine falsche Richtung eingeschlagen zu haben. Statt dem Meer steuert es die Straßen Dégringolades an. Schon folgt ihm Lokapriya, um seinen Kurs zu korrigieren, da fällt dem Minotauren auf, wie zielstrebig sich das Jungtier verhält. Lokapriya beschließt, ihm noch einen Moment zuzusehen.

Nach einer Weile erreicht die kleine Schildkröte ein paar verlassene Läden, deren Besitzer sich am heutigen Tag allesamt an der Flussmündung aufhalten. Das Tier klettert auf das Gestell eines Gewürzhändlers, auf dem sich ein Teil seiner Ware befindet. Lokapriya sieht, wie das Tier nach einem Stück Sternanis schnappt und in seine Richtung hält. „Für mich?“, fragt Lokapriya und nimmt die sternförmige Gewürzfrucht entgegen. Die Schildkröte setzt ihren Weg fort. Etwas später müht sich die Schildkröte und klettert auf den Wagen eines Obsthändlers. Mit ihrem kleinen Panzer versucht sie eine halbe Orange in Lokapriyas Richtung zu bewegen. Nachdenklich nimmt der Philosoph die Frucht entgegen und betrachtet die gleichmäßig um das Zentrum angeordneten Segmente der Frucht. Die Schildkröte setzt ihren Weg fort und gelangt schließlich an den kleinen Stand einer Kräuterfrau. Hier gräbt sie eine Weile zwischen verschiedenen Blättern herum und hält dem Philosophen schließlich ein großes Blatt Kapuzinerkresse entgegen. Lokapriya betrachtet das rundliche Blatt und die sternförmig zusammenlaufenden Adern. „Konzentrische Kreisfiguren? Willst du mir etwas sagen, kleines Tier?“, fragt der Minotaur, aber die Schildkröte zieht weiter. Schließlich erreicht sie den Turm der Helden. Lokapriya schaut sich neugierig um, Gerdatosa, der Turmwärter ist aber nirgends zu sehen. „Er wird ebenfalls an der Flussmündung sein und den schlüpfenden Schildkröten zusehen“, denkt sich der Philosoph. Dann sieht er, wie die kleine Schildkröte versucht, die Tür des Turmes aufzustemmen. „Du willst da hinein?“, fragt Lokapriya. Er zieht die Tür auf und wundert sich, dass sie nicht abgeschlossen war. „Ein paar Schildkröten schlüpfen und die ganze Stadt wird leichtsinnig“, murmelt er vor sich hin, folgt dann aber der Schildkröte ins Innere. Das Tier müht sich die Treppen hinauf, was Lokapriya kaum mit ansehen kann. Er sagt: „Ich nehme dich mit nach oben. Da willst du ja offensichtlich auch hin.“ Mit der Schildkröte in der Hand steigt er bis zur Turmspitze hinauf und schaut sich erst einmal um.

Neben der Tür, die auf die Turmplattform führt, befindet sich in die Wand graviert ein steinernes Gesicht, wie es an mehreren Häusern Dégringolades zu finden ist. Dieses hier besitzt allerdings eine besonders tief ausgehölten Mund. „Ein Mund der Wahrheit“, denkt Lokapriya und runzelt mit der Stirn. Er weiß, dass Menschen sich erzählen, derartige Steingravuren bissen Lügnern die Hand ab, wenn sie sie in den Mund steckten. Dann wirft er einen Blick vom Turm und wundert sich. Er hat das Gefühl, der Turm sei viel höher, als er von unten aussieht. Der Ausblick ist grandios und bietet eine Sicht weit über den Dschungel hinweg. Lokapriya atmet tief ein und hält plötzlich inne. Die Landschaft scheint an einer Stelle eine Grenze zu besitzen. Vor der Grenze wirkt das Grün intensiver, hinter ihr blasser. Lokapriya verfolgt diese Grenze mit seinen Augen und stellt fest, dass sie in einem großen Bogen verläuft. Dann fallen ihm weitere ähnliche Grenzen auf, auch in Dégringolade selbst verlaufen ein paar von ihnen. Schließlich erkennt er, dass das ganze Land, was ihm hier zu Füßen liegt, in konzentrischen Kreisen unterteilt scheint. Das Zentrum aber liegt nicht in Dégringolade, sondern an irgendeiner relativ fernen Stelle im Dschungel. „Was ist das für ein Ort?“, fragt Lokapriya die kleine Schildkröte. Leider erhält er keine Antwort. Stattdessen macht sich die Schildkröte an Lokapriyas Tragebündel zu schaffen. „Was machst du da?“, fragt der Minotaur und breitet seine Habseligkeiten vor der Schildkröte aus. Die Schildkröte kriecht daraufhin auf seinen geschnitzten Holzball mit den unzählbaren ineinandergeschachtelten Bällen zu, schlüpft durch ein paar der verzierten Öffnungen hindurch und ist irgendwann verschwunden. Es sieht so aus, als habe sie sich auf ihrem Weg ins Innere der wundersamen Kugel in Luft aufgelöst. Lokapriya schaut an unterschiedlichen Stellen ins Innere der Kugel, schüttelt sie auch ein wenig, aber die Schildkröte bleibt verschwunden. „Seltsames Tier“, denkt er. „Ich hätte gern noch eine Erklärung gehört.“ Dann aber erblickt er erneut das in die Wand gravierte Steingesicht und spricht: „Du sollst die Wahrheit erkennen können. Kannst du sie auch verkünden?“ Nach einem kurzen Zögern fasst er entschlossen in den Mund des Reliefs. In diesem Moment klingt die Stimme Synesia Empyreus in seinem Schädel, die Stimme der Verstorbenen, deren Geist Lokapriya eine Weile in einer Amphore mit sich führte. Lokapriya hört: „Er war im Auftrag seines Herrn, eines Geschichtenerzählers, auf dem Weg zu einem Dschungelbewohner, den er unter dem Namen Mamsir kannte und dem er eine Papyrusrolle bringen sollte, auf der der Geschichtenerzähler eines seiner Werke festgehalten hatte.“

Verwundert schüttelt Lokapriya den Kopf. War das eine Erinnerung? Diese Worte kannte er. Es waren die Worte Synesia Empyreus, die sie nach seiner Begegnung mit dem seltsamen Wesen aus Kiefernnadeln zu ihm gesprochen hatte. Lokapriya war damals mit dem Anführer und den beiden Soldaten auf ein Grab im Dschungel gestoßen, in dem sich die Überreste des erwähnten Boten befanden. „Der Bote ist tot“, überlegt Lokapriya, „der Geschichtenerzähler wahrscheinlich auch… und dieser Mamsir? Vielleicht sollte ich versuchen mehr über ihn herauszufinden.“ Nachdenklich verlässt Lokapriya den Turm der Helden. Das Fest der schlüpfenden Schildkröten ist fast vorbei und Lokapriya beschließt daher, nach Rhomoon zurückzukehren. Brummelnd zieht er durch die milde Abendluft am ewigen Fluss entlang.
« Letzte Änderung: 9.07.2021 | 16:53 von Chiarina »
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #151 am: 6.07.2021 | 01:17 »
Während die geschlüpften Schildkröten auf das Meer zu kriechen schauen ihnen sechs zufällig beieinanderstehende Minotauren hinterher und unterhalten sich dabei über die neuesten Ereignisse.

Der Minotaur mit den Hyazinthen an den Hörnern: War das nicht Lokapriya, der Philosoph?

Der albinistische Minotaur mit der Kindertrage auf dem Rücken: Ich denke schon. Warum ist er schon gegangen?

Der bettelnde, invalide Minotaurenveteran aus dem Immerkrieg: Habt ihr´s nicht gesehen? Er ist einer geschlüpften Schildkröte in die Stadt gefolgt.

Der schläfrige Minotaureneunuch des Opilio Rhangabe: Ich kann das gut verstehen. Hier herrscht ein entsetzlicher Trubel.

Der junge Minotaur aus der Metzgerei Karwasra: Trubel? Die Leute freuen sich! Es ist das Fest der schlüpfenden Schildkröten!

Der Minotaur mit den Hyazinthen an den Hörnern: Und es kommt gerade recht, nach der Katastrophe beim Rinderopfer.

Der bettelnde, invalide Minotaurenveteran aus dem Immerkrieg: Das stimmt. Der Vadhm war vom Blutvergießen ganz rot, wir dürfen aber nicht die schönen Dinge des Lebens vergessen. Ich erinnere mich, dass ich während meiner Zeit im Dschungel auch bezaubernd schöne rote Blumen beobachten und von heilkräftigen Blutegeln profitieren durfte.

Der junge Minotaur aus der Metzgerei Karwasra: Lokapriya hatte für den herzerwärmenden Anblick der schlüpfenden Schildkröten offenbar nicht viel übrig. Ich würde zu gern wissen, warum er das Fest verlassen hat.

Der Minotaur mit den Hyazinthen an den Hörnern: Ich habe keine Ahnung. Gestern allerdings habe ich meinen Herrn zu einer Gesellschaft des Messenio Burcanus begleitet. An dem Abend wurden auch viele spannende Geschichten über den Dschungel erzählt. Meistens ging es dabei um den Immerkrieg.

Der bettelnde, invalide Minotaurenveteran aus dem Immerkrieg: Lass gut sein!

Der Minotaur mit den Hyazinthen an den Hörnern: Ist recht. Es war allerdings auch der Orakelmann, Mujeeb, und sein Gehilfe da. Sie haben Messenio ein Orakel vorgelegt und ihn dazu gebracht seine Geschichten vom Krieg zu unterbrechen und stattdessen von seiner Kaffeeplantage zu sprechen.

Der junge Minotaur aus der Metzgerei Karwasra: Wie soll das funktioniert haben? Ich dachte, Mujeeb hat nur noch einen einzigen Spruch auf Lager!

Der Minotaur mit den Hyazinthen an den Hörnern: Das ist besser geworden. Er hat die Gesellschaft eine ganze Weile lang unterhalten.

Der bettelnde, invalide Minotaurenveteran aus dem Immerkrieg: Gut so. Es gibt erbaulichere Themen als den Immerkrieg.

Der Minotauren-Dachwächter vom Theater des Saemauug Empyreus: Frauen beispielsweise! Neben der Villa des Porfirio Empyreus haust doch dieser Fischer! Er hatte Besuch von diesem jungen Ding, das vor einiger Zeit mit dem Sohn Porfirios ein Techtelmechtel hatte.

Der albinistische Minotaur mit der Kindertrage auf dem Rücken: Das ist das Mädchen, das in der Küche des Amphitheaters arbeitet, nicht wahr?

Der schläfrige Minotaureneunuch des Opilio Rhangabe: Wahrscheinlich hat sie sich von ihm getrennt, weil er andauernd mit diesem Minotaurenumhang herumläuft.

Der junge Minotaur aus der Metzgerei Karwasra: Wahrscheinlich war sie enttäuscht und würde gern mal einen echten Minotauren kennenlernen

Die übrigen Minotauren lachen. Das Kind in der Trage des albinistischen Minotauren fängt an zu schreien. Es bekommt eine Hyazinthe zum Spielen und beruhigt sich irgendwann wieder.

Der Minotauren-Dachwächter vom Theater des Saemauug Empyreus: Das Mädchen hätte mit dem Fischer ja einen recht stattlichen Minotauren näher kennenlernen können! Stattdessen hat sie wohl irgendwelche Forderungen gestellt, die der Bruder nicht erfüllen wollte. Beide müssen recht aufgebracht gewesen sein. Sie haben jedenfalls ein ziemliches Geschrei veranstaltet.

Der bettelnde, invalide Minotaurenveteran aus dem Immerkrieg: Ich habe gehört, der Fischer habe den Ruf des Dschungels gehört.

Der Minotauren-Dachwächter vom Theater des Saemauug Empyreus: Das stimmt. Ich weiß ja nie, was ich dazu sagen soll. Die Brüder setzen ohne Not ihre Leben aufs Spiel… aber dass sich da ein Minotaur von so einem frechen Ding nicht alles bieten lässt, gefällt mir durchaus.

Der albinistische Minotaur mit der Kindertrage auf dem Rücken: Der Fischer muss aufpassen! Aus solchen Situationen entsteht Rache und Unheil! Was ist, wenn das Mädchen nachtragend ist und irgendwelche Geschichten erzählt?

Der schläfrige Minotaureneunuch des Opilio Rhangabe: Was soll dann schon sein? Schlimmstenfalls gibt es einen Minotauren weniger.

Der Minotaur mit den Hyazinthen an den Hörnern: Lasst uns versuchen noch ein paar dieser Gebäckstückchen zu ergattern! Wir haben genug Probleme gewälzt!

Der junge Minotaur aus der Metzgerei Karwasra: Das stimmt. Manche Probleme muss man eben schlucken.

Der Minotaur mit den Hyazinthen an den Hörnern: Manche Gebäckstückchen auch.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #152 am: 24.07.2021 | 00:01 »
14

Wenn du aus dem Dschungel zurückkehrst,
ist die Stadt noch dieselbe wie zuvor.

Du bist es nicht.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #153 am: 24.07.2021 | 00:02 »
Ich verteile in Teig gebackene Bananenblüten.

Richtig lecker ist das nicht, aber fremdartig.

Auf der Suche nach Vergleichen kommen Artischocken in den Sinn, dann erzähle ich kurz von den winzigen Bananenfrüchten, die sich zwischen den Blättern bilden.

Eine Weile kauen wir schweigend.

Unsere Vision beginnt.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #154 am: 24.07.2021 | 00:03 »
Nach einer Nacht auf einer morastigen Wiese mit roten Blumen im Dschungel erwachen Ashtavede, der erste Advokat, der Anführer und die beiden Soldaten und beginnen sich über ihre nächsten Schritte zu beraten. Die Minotauren sind einig, dass sie wieder nach Dégringolade zurückkehren wollen. Für Ashtavede und Saibhang stellen die Stadttore allerdings ein Problem dar. Sie dürften als Sträflinge bekannt sein, die auf ihrem Transport zum Gefängnis von Fesula entlaufen sind. Wahrscheinlich werden sie gesucht. Also beschließen sich die Minotauren zu trennen. Saibhang, der erste Advokat, sagt: „Wenn die Stadt in Sicht kommt, werde ich mit Ashtavede versuchen mit einem Floß in die Mündung des Vadhm zu gelangen. Auf diese Weise können wir die Tore mit ihren Wachen umgehen. Einen tüchtigen Flößer könnten wir dabei allerdings auch noch gebrauchen.“ Der Anführer erklärt sich einverstanden sie zu begleiten. Die Soldaten planen auf dem normalen Weg in die Stadt zurückzugehen. Wohin aber müssen sie sich wenden, um zur Stadt zurückzukehren? Der zweite Soldat schlägt aufs Geradewohl eine Richtung ein, die anderen folgen ihm.

Dann aber bedeutet er seinen Gefährten stehenzubleiben und zu schweigen. In einiger Entfernung sind Schritte, Rufe und ein verdächtiges Stöhnen zu hören. Die Minotauren verbergen sich im Unterholz und warten auf die Verursacher der Geräusche. Schließlich zieht auf einem kleinen Pfad vor ihnen ein Trupp von fünfzehn Soldaten aus dem Immerkrieg vorbei. Sie haben vier gefesselte Gefangene dabei, deren Haut orangerot gefärbt ist. Einer von ihnen ist ein Minotaur, die drei anderen sind Menschen. Einer der Soldaten schwingt eine Peitsche und traktiert die Gefangenen damit. Die Gefangenen stöhnen unter den Hieben und ächzen unter Zwang bei jedem Treffer Sätze wie „Ich freue mich, ihre Bekanntschaft zu machen“, oder „Vielen Dank, geschätzter Gefährte!“ Viele der Soldaten schauen sich das Schauspiel höhnisch an. In ihrer Mitte geht ihr Anführer, der Edison Angelus genannt wird.

Ashtavede verzieht angewidert das Gesicht. Saibhang aber flüstert: „Die Gefangenen sind Äußere! Den mit dem stolzen Gesicht habe ich bereits kennengelernt: es ist Mohan Gopi, einer ihrer Anführer.“ „Sie sollen sicherlich versklavt werden“, meint der zweite Soldat und fügt hinzu: „“Wir können sie nicht befreien. Fünzehn Gegner sind zu viel für uns. Wir können ihnen aber folgen. Ich nehme an, sie sollen in Dégringolade verkauft werden.“

Also schleichen die Gefährten vorsichtig hinter dem Trupp her. Früher oder später macht der zweite Soldat aber eine Beobachtung: „Sie versuchen uns abzuschütteln. Irgendjemand hat gemerkt, dass wir sie verfolgen und versucht uns loszuwerden.“ „Vielleicht führen sie uns auch in einen Hinterhalt?“, meint der erste Soldat. Die Mintauren beschließen, die Verfolgung aufzugeben und lassen sich zurückfallen.

Wenig später beginnt der zweite Soldat immer wieder aufmerksam nach oben zu schauen. Er sagt: „Ich glaube, die Bäume werden kleiner. Möglicherweise sind wir bereits am Rand des Dschungels.“ Diese Annahme ist korrekt. Wenig später erblicken die Minotauren vom Rand des Dschungels die Stadt, in der sie aufgewachsen sind. Der erste Soldat bemerkt: „Meinen Glückwunsch, Bruder! Und zu diesem hoffnungsvollen Anblick lehnst du dich ausgerechnet an einen Eukalyptusbaum.“ Erstaunt schaut sich der zweite Soldat um und nickt: „Eukalyptus ist Bestandteil vieler meiner Massageöle, der Saft ist meine Essenz.“ „Hat sie einen Namen, diese Essenz?“, fragt der erste Soldat. „Myrtakaya, die Wohlriechende“, sagt der zweite Soldat. „Hört sich so an, als hättest du dir selbst einen Namen verliehen“, meint Ashtavede. „Ich werde dich Myrtakay rufen.“ Die anderen Minotauren nicken zufrieden.

Dann aber ist der Moment des Abschieds gekommen. Die Soldaten nähern sich der Stadt, der Anführer, Ashtavede und Saibhang ziehen am Rand des Dschungels entlang Richtung Meer, wo sie mangels geeigneter Werkzeuge mühsam aus ein paar Stämmen ein Floß bauen. Letztlich gelangen beide Gruppen ohne weitere Zwischenfälle in die Stadt.
« Letzte Änderung: 24.07.2021 | 09:33 von Chiarina »
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #155 am: 24.07.2021 | 00:05 »
Nach der Feier bei Messenio Burcanus kehrt bei Mujeeb Gashkari und dem zweiten Advokaten wieder Alltag ein. Mann und Minotaur ziehen in Dégringolade durch die Straßen und bieten Passanten an, ein Orakel zu erstellen.

Nach einem wenig ereignisreichen Vormittag schaut Mujeeb seinen Assistenten interessiert an und fragt: „Und jetzt, Rind? Was grübelst du? Du denkst über das Schicksal deines Volkes nach, stimmt´s? Irgendwann musst du aber auch einmal zu einer Entscheidung kommen!“ Der zweite Advokat antwortet: „Ich bin hin und hergerissen, Mujeeb! Manchmal glaube ich, ich sollte mich um eine Gefährtin bemühen und eine Familie gründen, aber mir fällt dann gleich wieder das Leid der Frauen ein, die sich an einen Minotauren binden. Dann denke ich, vielleicht sollte ich versuchen, im Immerkrieg zu Ruhm und Ehre zu kommen. Ich will der erste Minotaur werden, der zum Feldherrn aufsteigt! Das Kriegshandwerk hat allerdings auch seine Schattenseiten.“

Mujeeb Gashkari nickt und sagt: „Du stehst vor wichtigen Entscheidungen. Mit fällt dazu ein Kindermärchen ein, das die Mütter ihren menschlichen Sprösslingen in Dégringolade erzählen. Ich werde es dir erzählen.

Gopal und Yad waren zwei Prinzen. Sie lebten im Schloss ihrer Eltern ein einsames Leben. Da sagte ihr Vater, der König: „Wir haben euch unterrichtet, so gut wir konnten. Nun seid ihr alt genug, um auf eigene Faust die Welt zu entdecken. Es steht ein Stern am Himmel, der neuen Unternehmungen Glück verheißt. Brecht daher bald auf und kehrt zurück, wenn auch der Stern zurückkehrt. Ich will dem erfolgreicheren von euch unser Schloss und Reich vermachen.“ Da zogen die Brüder in die Ferne: Gopal in den Westen, Yad in den Osten.

Gopal trat in die Dienste eines fremden Herrschers und lernte das Kriegshandwerk. Er schlug viele siegreiche Schlachten und wurde schließlich sogar zum obersten Befehlshaber des Herrschers ernannt. Sein hartes Leben hinterließ Spuren an seinem Körper. Er ergraute früh, seine Augen verloren ihren Glanz und um seine Mundwinkel bildete sich ein gnadenloser Zug. Yad begab sich auf eine lange Wanderung. Er lernte eine Frau kennen, mit der er einen Sohn zeugte, der ebenfalls Yad genannt wurde. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Fahrender durch kleine Reparaturarbeiten und der Unterhaltung der Menschen, denen er begegnete. Eines Tages traf Yad im Dschungel auf einen Wakwak und starb. Sein Sohn aber setzte seine Wanderung fort.

Dreißig Jahre nach dem ersten Erscheinen des glückverheißenden Sternes erschien er ein zweites Mal. Gopal macht sich auf den Rückweg, und auch Yad, dem sein verstorbener Vater davon erzählt hatte, machte sich auf den Weg zu seinem Großvater. Als die beiden Männer bei dem betagten Greis ankamen fragte dieser: „Gopal, was hast du aus deinem Leben gemacht?“ Gopal sagte: „Ich bin ein großer Heerführer und von allen Bürgern meines Landes geachtet. Ich stehe in der Gunst meines Herrschers und alle Feinde neigen ihr Haupt vor mir. Sind mir noch einige Siege vergönnt, wird mein Name in den Geschichtsbüchern stehen und Unsterblichkeit erlangen!“ Gopals Vater nickte, dann wandte er sich Yad zu: „Du musst mein Enkel sein, so sehr ähnelst du meinem Sohn Yad. Erzähle mir, was aus ihm geworden ist!“ Yad sprach: „Dein Sohn ist tot. Er gab seine Essenz aber an mich weiter. Ich bin heute so alt wie er, als er dich verlassen hat. Wie er bin ich auf Wanderschaft. Wie er verdiene ich meinen Lebensunterhalt durch Kesselflicken und Geschichtenerzählen. Yad ist ebenso unsterblich wie Gopal.“

Gopal aber lachte und fragte ungeduldig: „Entscheide dich Vater, wer erbt dein Schloss?“ Da sah der Greis zuerst den vom Krieg gezeichneten Gopal ins vernarbte Gesicht und dann seinen hübschen, aufrechten Enkel Yad an, überlegte einen Moment und stürzte dann zu Boden. Er starb, ohne sich entschieden zu haben.


Eine Weile lang sitzt der zweite Advokat stumm vor Mujeeb und denkt nach. Dann sagt er: „So möchte ich nicht sterben, Mujeeb! Da ich mich nicht entscheiden kann, werde ich das Los entscheiden lassen. Die leere Hand steht für die Familie, die Hand mit dem Samenkorn für den Immerkrieg.“ Daraufhin hält der Minotaur dem Orakelmann seine beiden Fäuste entgegen und Mujeeb deutet auf die rechte. Der zweite Advokat öffnet sie. Es kommt ein Samenkorn zum Vorschein. Wieder überlegt der Minotaur eine Weile. Schließlich sagt er: „Wenn ich Dégringolade verlasse, was wird dann aus dir?“ „Oh, mach dir keine Sorgen um mich. Es gibt eine ganze Menge nichtsnutzige Rindviecher in den Straßen Dégringolades, die mir ein wenig zur Hand gehen können. Ich komme schon zurecht! Wenn du wirklich in den Immerkrieg ziehen willst, solltest du zum Platz vor dem Amphitheater in Khostalush ziehen. Dort bieten sich immer wieder Söldner an, die neue Anstellungen suchen.“ Der zweite Minotaur legt dem Orakelmann seine Hand auf die Schulter und sagt: „Danke, Mujeeb. Du machst mir den Abschied leicht. Ich werde dich nie vergessen!“ „Ich werde dich daran erinnern, wenn du als siegreicher General zurückkommst!“, sagt Mujeeb mit einem Grinsen im Gesicht. Dann gehen der zweite Advokat und Mujeeb Gashkari getrennte Wege.
« Letzte Änderung: 24.07.2021 | 10:04 von Chiarina »
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #156 am: 24.07.2021 | 00:08 »
Nach einigen Botengängen wendet sich der Philosoph Lokapriya schließlich wieder der Gemeinde Rhomoon zu und stattet der Gaststätte Zum friedlichen Mungo einen Besuch ab. Erstaunt erblickt er im Schankraum Bhanumati, die Frau, der er erst kürzlich zu einer Aushilfsanstellung bei der Bäckerei Salloum verholfen hat. Ihr Gesicht wirkt verquollen, ihr Blick entschlossen.

„Eine Bäckerin im friedlichen Mungo, was für eine Überraschung!“, sagt Lokapriya. „Was ist mit dir geschehen?“ Bhanumati erklärt: „Mein Ehemann war nicht begeistert davon, dass ich bei Salloum arbeite. Wir hatten eine Auseinandersetzung.“ Lokapriya erschrickt ein wenig, dann fragt er: „Wie ist sie ausgegangen?“ Bhanumati sagt: „Ich kann nicht mehr zurück. Es ist gut, wie es ist. Eine Entscheidung ist gefallen. Bei Salloum hat man mir eine kleine Abstellkammer zur Verfügung gestellt. Ich kann dort übernachten. Die Leute dort behandeln mich gut. Ich hoffe nur, dass mich mein Gatte in Frieden lässt. Derzeit habe ich Angst, auf die Straße zu gehen.“ „Und doch bist du hierhergekommen?“, fragt Lokapriya. Bhanumati errötet etwas und antwortet: „Du hast gesagt, du wärest öfter hier. Ich habe gehofft, dich hier zu treffen, Lokapriya. Du bist ein starker Minotaur. In deiner Gegenwart wird mein Gatte sich sicherlich nicht trauen, mir etwas anzutun.“ „Wie stellst du dir das vor?“, fragt Lokapriya. „Die Abstellkammer in der Bäckerei Salloum ist groß genug für uns beide“, sagt Bhanumati und fasst Lokapriya am Arm. „Wünschst du dir nicht auch ein wenig mehr Sicherheit? Ich habe schon mit dem Bäckermeister gesprochen. Du könntest deine langen Botengänge aufgeben und die Backwaren austragen.“ Mit einem hoffnungsvollen Blick sieht Bhanumati Lokapriya an. Der Minotaur schnaubt ein wenig und sagt: „Ich muss darüber nachdenken. Ich kann das nicht von heute auf morgen entscheiden. Lass mir einen Moment Zeit. Ich komme vorbei und sage Bescheid, das verspreche ich dir.“ „Meine Gedanken sind bei dir, Lokapriya!“, sagt Bhanumati. Sie blickt ihm lange in die Augen und fügt hinzu: „Ich habe gesagt, was ich sagen wollte. Jetzt kehre ich zur Bäckerei Salloum zurück.“ „Auf bald!“, sagt Lokapriya, aber es ist ihm nicht ganz wohl dabei.

Kurz nach dem Abschied von Bhanumati betreten andere Bekannte des Philosophen den friedlichen Mungo. Es sind Ashtavede, Saibhang und der Anführer, die ihr provisorisch zusammengezimmertes Floß inzwischen irgendwo in Dégringolade ans Ufer gezogen haben und sich in einer ruhigen Atmosphäre einen Plan für ihr weiteres Vorgehen überlegen wollen. Dass sich Lokapriya auch in der Gaststube aufhält, kommt ihnen gerade Recht.

Der Anführer: „Ich bin davon überzeugt, dass die Lösung für unsere Probleme im Dschungel liegt. Warum sonst sollte er uns immer wieder rufen?“

Ashtavede: „Das ist gut möglich. Denkt an die rote Stimme, die uns von Schaschbukkaho erzählt hat!“

Lokapriya: „Was habt ihr erlebt? Erzählt mir davon!“

Nachdem ihm die Rückkehrer aus dem Dschungel von ihren jüngsten Erlebnissen erzählt haben, beginnt Lokapriya laut zu denken: „Schaschbukkaho? Der Name bedeutet „Sechs Ochsen“. Später wird sein Körper in sechs Teile zerstückelt, die aber eine Art Eigenleben behalten. Die Legende sagt, dass wir von vier knabenhaften Minotauren abstammen, die aus dem ewigen Fluss gezogen wurden. Waren das bereits Körperteile von Schaschbukkaho?“

Saibhang: „Gut möglich. Die rote Stimme behauptet auch, die drei Stimmen seien das, was vom Geist unseres Urvaters übriggeblieben sei. Offenbar wurde auch sein Geist zerrüttet.“

Lokapriya: „Ich habe schon ein paarmal darüber nachgedacht, ob es nicht vorteilhaft sein könnte, wenn die Stimmen auf irgendeine Weise zusammengeführt werden könnten. Ich habe nur keine Ahnung, wie das zu bewerkstelligen ist.“

In diesem Moment öffnet sich die Tür der Schankstube und der zweite Advokat tritt ein. Der Anführer grüßt ihn erfreut: „Hallo Bruder, wo hast du Mujeeb gelassen?“

Der zweite Advokat setzt sich zu den andren Minotauren und sagt: „Ich habe eine Entscheidung getroffen und Mujeeb verlassen. Ich will zum Zentrum nach Khostalush, vor das Amphitheater, wo die Söldner sind und ihre Dienste anbieten. Wenn es das Schicksal gut mit mir meint, werde ich mir im Immerkrieg einen Namen machen!“

Lokapriya: „Was ist das für eine Idee? Willst du dir das Blut von den Mücken aussaugen und die Glieder von Macheten zerhacken lassen? Wir organisieren ein Rinderopfer um unsere Brüder vor dem Elend des Krieges zu bewahren und du begibst dich freiwillig hinein?“

Zweiter Advokat: „Mein Ziel ist es, den Immerkrieg für die Minotauren zu drehen. Vielleicht kann ich die Minotauren nach ein paar Siegen von meinen Führungsqualitäten überzeugen! Vielleicht kann ich eine Streitmacht zusammenstellen, die nicht für die Sache irgendwelcher Tyrannen, sondern für sich selbst kämpft!“

Die anderen Minotauren werfen dem zweiten Advokaten zweifelnde Blicke zu.

Ashtavede: „Ich halte deine Idee für ausgemachten Blödsinn. Immerhin scheint aber auch für dich der Dschungel das Ziel zu sein. Unser Weg führt vielleicht noch eine Weile lang in dieselbe Richtung.“

Lokapriya nickt: „Zum Fest der geschlüpften Schildkröten stand ich auf dem Turm der Helden und hatte einen merkwürdigen Blick auf den Dschungel hinter Dégringolade… fast wie eine Vision. Der Dschungel und die Stadt schienen aus konzentrischen Kreisen zu bestehen und das Zentrum war irgendwo ein ganzes Stück weit weg mitten im Wald. Vielleicht gehört auch der Name Mamsir zu dieser Vision. Ich erinnerte mich an ihn. Zu diesem Mann war der Bote unterwegs, dessen Grab wir vor einiger Zeit im Dschungel gefunden haben.“

Anführer: „Dieser Bote ist aber doch schon lang tot!“

Lokapriya: „Und doch scheint der Empfänger seiner Botschaft noch irgendeine Rolle zu spielen. Dieser seltsame Blick vom Turm der Helden beschäftigt mich. Ich würde mich gern auf den Weg zu diesem Zentrum machen, aber wie lässt es sich finden?“

Saibhang: „Wenn sich irgendjemand im Urwald auskennt, dann sind es die Äußeren. Wir sind auf unserem Rückweg eine Weile lang hinter einem Trupp aus dem Immerkrieg hergeschlichen. Sie hatten vier versklavte Krieger der Äußeren dabei. Ich vermute, sie werden als Sklaven verkauft, vielleicht sogar auf demselben Söldnermarkt im Zentrum, zu dem unser Freund unterwegs ist.“

Saibhang nickt dem zweiten Advokaten zu und fährt fort: „Zumindest dorthin scheinen alle unsere Wege zu führen. Wollen wir uns auf den Weg machen?“

Anführer: „Ich muss vorher noch einen Abstecher machen und nach meiner Hütte sehen. Dort warten die Holzsammler und der Sänger auf mich. Wenn ich mit ihnen gesprochen habe, werde ich nachkommen.

Die Minotauren nicken, drücken Nagur Mulukutla, dem Wirt, ein paar Samenkörner in die Hand und machen sich auf den Weg.
« Letzte Änderung: 24.07.2021 | 10:38 von Chiarina »
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« Antwort #157 am: 24.07.2021 | 00:09 »
Die beiden Soldaten haben bei der Rückkehr nach Dégringolade keine größeren Probleme überwinden müssen. Als sie sich aber dem Haus von Porfirio Empyreus nähern, merken sie schon aus einiger Entfernung, dass irgendetwas nicht stimmt. Auf der Straße vor der Villa stehen ein paar Menschen, einige lachen und zeigen mit den Fingern auf das Anwesen, andere rufen „Flittchen!“ oder ereifern sich. Auch ein paar Kinder sind unter ihnen, die Müll und Dreck auf das Grundstück werfen. Ein Fremder schlägt hin und wieder mit einer Metallstange gegen die Gartenmauer.

Die beiden Soldaten nähern sich vorsichtig und bemerken, dass sich am Haus selbst etwas verändert hat. Das steinerne Gesicht über der Eingangstür, das bisher noch jedem, der sich der Haustür näherte, einen rätselhaften Blick zuwarf, hat seine Augen geschlossen. „Wie konnte das geschehen?“, fragt der Myrtakay, zweite Soldat. Der erste Soldat antwortet ihm: „Es heißt ja, die Steingesichter befinden sich an den Häusern, in denen Angehörige der Empyreus-Sippe leben.“ „Dann ist Porfirio verstorben?“, fragt der Myrtakay. „Könnte sein“, antwortet der erste Soldat. „Wenn das der Grund für die geschlossenen Augen des Steingesichts ist, wirft das allerdings ein interessantes Bild auf die Väter von Saaronis Kindern.“ Myrtakay überlegt kurz und murmelt: „Fünf Knaben und zwei Mädchen – und keines davon ein Empyreus?“

Dann aber bahnen sich die Soldaten einen Weg durch die Leute auf der Straße und nähern sich dem Eingangstor zum Grundstück. Schnell wird ihnen bewusst, dass jemand für die Verteidigung des Hauses gesorgt hat. Am Tor befinden sich zwei bewaffnete Minotauren, im Vorgarten ein dritter. Myrtakay begrüßt die Torwachen und fragt nach den vergangenen Ereignissen. Einer der Minotauren am Tor bekommt große Augen und sagt aufgeregt: „Ihr hier? Es ist gefährlich für euch hier zu sein! Man verdächtigt euch, am Tod von Porfirio Empyreus schuld zu sein! Verschwindet besser!“ Diese Information versetzt Myrtakay allerdings in großen Zorn. Er schüttelt die Torwache und lässt nicht eher ab von ihr, bis sie ihm alles erzählt hat. So hört er, dass Porfirio Empyreus kurz nach ihrem letzten Verschwinden verstorben ist. Das Steingesicht über der Eingangstür habe daraufhin seine Augen geschlossen, was dem Ruf von Porfirios Gattin Saaroni erheblich geschadet habe. Sie verbarrikadiere sich derzeit im Haus und organisiere die Verteidigung ihres Besitzes. Porfirios Todesursache sei derzeit noch nicht ganz geklärt. Porfirio habe die Essenz der Tigerlibellen konsumiert und sei wohl davon ausgegangen, gegen die schädliche Wirkung des Konsums von Schnecken gefeit zu sein. Nach seiner angeblichen Heilung habe er exzessiv Schnecken zu sich genommen. Einige Leute meinten, die Schnecken hätten ihn umgebracht, es gäbe aber auch Stimmen, die behaupten, die von den Minotauren abgelieferten Tigerlibellen seien unwirksam gewesen oder sogar vergiftet worden. Da die Soldaten kurz darauf Porfirios Haus verlassen haben und niemand wisse, wo sie sich aufhalten, sei der Verdacht auf sie gefallen. Myrtakay erzürnt bei diesem Bericht erneut. Er brüllt die Wache am Tor an: „Ich muss den Urheber dieser Verleumdung finden und dingfest machen! Welcher Lügner hat das Gerücht in die Welt gesetzt, unsere Tigerlibellen könnten als Mordwerkzeug verwendet worden sein?“ Der Torwache sagt: „Auch das weiß ich nicht sicher. Es heißt aber, dass sich Ekrem, der dritte Sohn des Hauses, darum bemüht, den angeblichen Mord an seinem Vater aufzuklären.“ „Ekrem?“, fragt Myrtakay. „Der ist doch gerade einmal acht Jahre alt!“ „Du weißt, wie Gerüchte entstehen!“, antwortet die Torwache. „Inzwischen ist er nicht mehr der einzige mit dieser Meinung.“ Die beiden Soldaten schauen sich an. Dann zuckt Myrtakay hilflos mit den Schultern und sagt: „Was soll ich machen? Soll ich einem Achtjährigen den Kopf abreißen? Soll ich einen Achtjährigen dazu zwingen, seinen Blödsinn als reine Phantasie zu deklarieren? Das scheint mir völlig sinnlos zu sein.“

Die beiden Soldaten entfernen sich ein paar Schritte vom Haus Porfirio Empyreus und schauen dem Treiben vor dessen Tür einen Moment lang ohnmächtig zu. „Ich glaube, unsere Arbeit hier ist beendet!“, sagt der erste Soldat. Myrtakay nickt langsam.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #158 am: 24.07.2021 | 00:10 »
Ein paar Meter weiter macht ein anderer Minotaur eine ähnlich schwerwiegende Entdeckung. Der Anführer kehrt nach der Beratung in der Taverne „Zum friedlichen Mungo“ zu seiner Fischerhütte zurück, findet allerdings alles in Schutt und Asche. Während seiner Abwesenheit hat offensichtlich irgendjemand sein Heim zerschlagen und sogar teilweise niedergebrannt. Von den Holzsammlern und dem Sänger fehlt jede Spur. Nach dem ersten Schreck beginnt der Anführer im Dreck zu wühlen, um brauchbare Überreste oder ein paar Hinweise auf die Zerstörung zu gewinnen. Grimmig muss er jedoch erkennen, dass hier jemand ganze Arbeit gemacht zu haben scheint. Vieles wurde absichtlich demonstrativ unbrauchbar gemacht.

Dann findet der Anführer unter einigen Tonscherben eine, in die jemand das Wort „Fesula“ hineingeritzt hat. „Das Gefängnis im Dschungel!“, denkt der Anführer. „Was hat das zu bedeuten? Wie kommt diese Scherbe hierher? Ist sie eine Botschaft? Sind die Zerstörer meiner Hütte aus Fesula?“ Aber der Anführer findet keine Antwort auf seine Fragen. Traurig betrachtet er noch eine Weile seine zerstörte Hütte und beschließt dann, wie mit seinen Gefährten abgesprochen, sich auf den Weg ins Zentrum von Dégringolade nach Khostalush zu machen.

Zuerst allerdings schaut er nach, warum sich vor dem benachbarten Haus des Porfirio Empyreus Menschen versammelt haben. Er trifft dabei auf die beiden Soldaten, die ihm ihre Geschichte erzählen. Der Anführer revanchiert sich mit einem Bericht über sein zerstörtes Heim. Danach beschließen die beiden Soldaten, ihm zum Platz vor dem Amphitheater zu folgen.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #159 am: 24.07.2021 | 00:12 »
Saibhang, der erste Advokat, Lokapriya, der Philosoph und der zweite Advokat befinden sich mit Ashtavede auf dem großen, zentralen Platz vor dem Amphitheater in Khostalush. Unterschiedliche Interessen führen sie an diesen Ort, zunächst aber suchen sie nach den Äußeren, die die von Myrtakay, dem zweiten Soldaten, angeführte letzte Dschungelexpedition verfolgt und wieder aus den Augen verloren hat. Die Minotauren beobachten die Söldner und Sklaven, die hier auf einem Podest zur Schau gestellt als Kanonfutter für den Immerkrieg, als Leibwächter, Gladiatoren oder ähnliche Zwecke ihre Besitzer wechseln. Äußere sind allerdings nicht unter ihnen zu entdecken.

Die Gefährten beginnen daraufhin die am Rand des Platzes befindlichen Händler und Sänftenträger zu befragen. Im Schatten des Turms von Yala Ashrouf stößt Lokapriya nach langer Zeit endlich auf einen Bogenmacher, der nach der Arbeit den Heimweg antritt. Der Mann erzählt ihm: „Als ich heute morgen hierherkam, standen diese orangenen Wilden auf dem Podest: zwei Krieger und ein Rind. Sie wurden an das Amphitheater verkauft, soweit ich das mitbekommen habe. Ich erinnere mich, weil der eine von ihnen eine Szene gemacht hat. Er rief nach einem weiteren Mann aus dem Dschungel, der sich aber in einem Gitterwagen befand und nach Fesula gebracht werden sollte. Mohan Gopi, ich werde euch nicht vergessen, rief der Wilde mehrere Male. Dann wurde er mit den anderen Buschmännern ins Amphitheater gebracht.“ Lokapriya dankt dem Mann für diese Information und erzählt seinen Gefährten davon.

Der zweite Advokat erzählt: „Den Anführer wollen sie foltern, die anderen im Amphitheater im Schaukampf sterben lassen! Ich befürchte, wir kommen nicht mehr an sie heran!“ Saibhang aber spricht: „Vielleicht kenne ich doch noch eine Möglichkeit. Wartet auf mich, ich will es zumindest versuchen!“

Saibhang wendet sich dem Amphitheater zu und spricht mit einem Mann, der den Eintritt kassiert und das Publikum für die Abendveranstaltung einlässt: „Guter Mann, ich bin der Bordellier des Etablissements Die Seide in Rhomoon. Wir brauchen dringend ein paar Wachen, aber ich bin zur Versteigerung der Söldner zu spät gewesen. Gibt es nicht die Möglichkeit, gegen einen guten Betrag ein paar Gladiatoren auszulösen?“ „Wo denkst du hin, Rind! Die Gladiatorenkämpfe sind die Endstation! Hier kommt niemand wieder heraus.“ „Bedauerlich“, sagt Saibhang. „Ihr müsst wissen, dass es erst kürzlich zu Unruhen in unserem Haus kam und sich die Damen nun ängstigen!“ „Tut mir leid, ich kann da nichts machen“, sagt der Mann und fährt nach kurzem Überlegen fort: „Allerdings hätte ich nicht übel Lust, eurem Haus einmal einen Besuch abzustatten. Leider übersteigen die Preise in einem Etablissement wie dem eurem meine Rücklagen. Ich verdiene als Einlasser des Amphitheaters leider nicht viel.“ „Vielleicht können wir da handelseinig werden!“, meint Saibhang. „Ich denke da an ein sehr gefälliges Mädchen, das mir noch einen kleinen Gefallen schuldet! Sicherlich kann ich sie dazu überreden, ein bisschen nett zu dir zu sein. Dafür würde ich mir gern mal eine Aufführung hier im Amphitheater anschauen.“ „Ein Rind will sich einen Gladiatorenkampf ansehen?“, ruft der Einlasser. Dann aber hält er inne und fügt hinzu: „Mir soll´s Recht sein. Wenn dir jemand dumme Fragen stellt, sagst du, dass du ein Leibwächter bist und dein Herr für den Moment ungestört sein will.“ Saibhang nickt, dann wird er eingelassen und mischt sich in den Besucherstrom, der in das Amphitheater führt.

Im Theater selbst versucht sich Saibhang erst einmal zu orientieren. Er befindet sich in einer Tribüne mit Stehplätzen. Das Publikum macht einen wohlhabenden Eindruck, zu den Allerreichsten gehören die Menschen hier aber nicht. Vielleicht fünfzig Schritt entfernt und über die übrigen Tribünen hinaus reichend erhebt sich der Block mit den Ehrenplätzen. Ein Baldachin weht über den dort sitzenden Zuschauern. Dazwischen befinden sich Menschenmengen, Ordner und eine kaum überwindbare Abtrennung zweier Tribünen. Saibhang hat wenig Hoffnung, die Tribüne der Ehrenbürger Dégringolades zu erreichen. Dann widmet er seine Aufmerksamkeit dem Geschehen in der Arena. Saibhang beobachtet zu seinem Entsetzen, wie im Sand ein Minotaur von drei Raubkatzen zerfleischt wird. Als er das Brüllen der hungrigen Jäger und die Schreie des Sterbenden hört, greift er entschlossen zu seinem Wasserschlauch und reißt den Korken aus dessen Verschluss.

Die Katastrophe lässt nicht lang auf sich warten. Licht strömt aus der Flasche und schießt kurze Zeit später fast explosionsartig ins Freie. Wie ein Kugelblitz fegt die Gestalt der hellen Stimme knatternd über die entsetzten Zuschauer hinweg und setzt alles in Brand, was ihr im Weg steht: Gewänder, Haare, Sitze und mehr. Unter den Zuschauern bricht Panik aus. Menschen versuchen zum Ausgang zu gelangen und trampeln hysterisch über unter ihnen befindliche Mitmenschen hinweg. Hysterische Schreie erklingen, der Bereich der Verwüstung weitet sich rasant aus. Saibhang hat Mühe, nicht selbst der Menge und dem Feuer zum Opfer zu fallen. Er strebt den Ausgängen zu und erreicht sie mit Mühe und Not. Einen letzten Blick wirft er auf die Ehrentribüne. Enttäuschenderweise scheinen die Verheerungen an diesem Ort nicht allzu schwerwiegend zu sein. Dann begibt er sich in den Tunnel unter den Rängen, der zum Hauptausgang führt. Hier kann er sehen, dass Menschen in Panik aus verschiedenen Bereichen des Amphitheaters zusammenströmen. Saibhang freut sich, als er sieht, dass auch Gefangene und wilde Tiere die Situation nutzen, dem Theater zu entfliehen. Schließlich aber steht er vor einer Wand von Menschen und fühlt kurz darauf einen stechenden Schmerz in seiner Schulter. Jemand hinter ihm hat versucht, sich den Weg freizukämpfen. Blutend fegt Saibhang seinen Hintermann zur Seite und versucht voranzukommen. Ein paar Menschen weichen entsetzt vor ihm zurück, da er mit seinem blutüberströmten Körper einen abstoßenden Eindruck erweckt.

Vor dem Amphitheater warten Ashtavede, Lokapriya und der zweite Advokat auf Saibhangs Rückkehr. Statt dem ersten Advokaten können sie jedoch zunächst einmal den Anführer und die beiden Soldaten begrüßen, die es in den Abendstunden bis Khostalush geschafft haben. Lokapriya hat die Neuankömmlinge gerade über die neuesten Entwicklungen und Saibhangs Verschwinden im Inneren des Amphitheaters informiert, als das Chaos losbricht. Erst ist ein unglaublicher Lärm zu hören, der aus dem Inneren des Gebäudes nach draußen dringt, dann sind Flammen zu sehen, die aus dem Gebäude herausschlagen. „Da gehen schlimme Dinge vor sich!“, sagt Ashtavede. „Ich hoffe nur, Saibhang ist nicht darin verwickelt!“ Schließlich erscheinen die Fliehenden am Ausgang: blutende, verletzte Zuschauer, Gladiatoren und wilde Tiere stürzen ins Freie und verteilen sich, soweit sie dazu noch in der Lage sind, in allen Richtungen. „Ist das nicht einer der Äußeren?“, ruft plötzlich Myrtakay, der zweite Soldat. Ashtavede zieht den noch immer orangebemalten Mann zur Seite. Es dauert nicht allzu lang und auch der zweite Mann und der Minotaur sind gefunden. Die Situation vor dem Amphitheater wird dabei allerdings immer brenzliger, denn mit den Gefangenen erreichen auch Minotauren den Platz. Viele dieser Minotauren sehen sich einer Extremsituation ausgesetzt, mit der sie nicht umgehen können. Sie beginnen zu brüllen, trampeln über halbtote Menschen hinweg und folgen mit gesenkten Hörnern dem Ruf des Dschungels.

Endlich erreicht auch Saibhang den Ausgang. Er hat viel Blut verloren, kommt noch bis zu seinen Gefährten, bricht dann aber bewusstlos vor ihnen zusammen. „Wir müssen hier weg!“, ruft Ashtavede. Lokapriya schnappt sich den verlassenen Wagen eines Händlers und legt Saibhang auf die Ladefläche. Zusammen ziehen die Minotauren und die Äußeren den ersten Advokaten durch Dégringolade. Am nahegelegensten Stadttor bleibt ihnen nichts anderes übrig als sich mit einer bereits dezimierten Wachmannschaft ein Gefecht zu liefern. Glücklicherweise fliehen die demoralisierten Wachen schnell. Etwas später befinden sich die Gefährten im Dschungel.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #160 am: 24.07.2021 | 00:12 »
Beim ersten Halt im Dschungel sagt Ashtavede: „Drei Äußere konnten wir befreien.“ Er nickt den beiden Männern und dem Minotauren mit den orangegefärbten Körpern grimmig zu. „Einer allerdings fehlt uns noch.“ „Mohan Gopi“, sagt der zweite Advokat. „Ihr Häuptling.“ Ashtavede nickt. Der Anführer sagt: „Wir haben einen Gefährten, der dringend Hilfe und Ruhe braucht. Das Gefängnis Fesula ist weit. Ich fürchte, wir können uns kaum um Mohan Gopi kümmern.“ „Das werde ich übernehmen“, sagt Ashtavede. „Ich war schon einmal auf dem Weg nach Fesula. Vielleicht ist das mein Schicksal. Wenn ich kann, werde ich den Mann befreien.“ Die Äußeren schauen den tätowierten Minotauren erstaunt an. Dann sagt der Anführer: „Ashtavede, ich wünsche dir viel Glück. Wahrscheinlich führt unser Weg zunächst zu den Äußeren. Vielleicht finden wir auch das Zentrum dieser konzentrischen Kreise, die Lokapriya gesehen haben will. Wer weiß? Wir würden uns glücklich schätzen, wenn wir dir einmal wieder begegnen würden. Pass auf dich auf!“ Ashtavede umarmt der Reihe nach die Anwesenden, dann zieht er davon.

Während die Äußeren beginnen, ein Feuer für die Nacht zu machen, blickt Lokapriya, der Philosoph, seine Gefährten an und sagt: „Ein Anführer, ein Soldat, ein Advokat, Myrtakay, Saibhang und Lokapriya… Schaschbukkaho! Vielleicht verbindet uns mehr, als uns bisher bewusst war!“
« Letzte Änderung: 24.07.2021 | 11:02 von Chiarina »
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #161 am: 24.07.2021 | 00:15 »
In der Nacht finden ein paar Minotauren vor dem ausgebrannten Amphitheater zusammen. Auf dem davor befindlichen Platz wurde ein Notlazarett errichtet, in dem sie eine Weile lang ihre verwundeten Herren umsorgt haben. Jetzt sind ihre Schutzbefohlenen eingeschlafen und die Minotauren erzählen sich gegenseitig von den Schrecken des vergangenen Tages.

Der Minotaur mit dem abgerissenen Ohr: So viel Unglück an einem Tag! So viele Tote an einem Tag!

Der Minotaur mit der qualmenden Tonpfeife: Es werden nicht mehr Minotauren gewesen sein als bei der Versammlung am Fluss!

Der Minotaur mit dem Brandzeichen am rechten Oberarm: Dafür sind heute auch viele Menschen gestorben.

Der erste Minotaur mit der Sänfte: Die ganz hohen Herrschaften sind allerdings nochmal mit einem Schrecken davongekommen.

Der Minotaur mit der großen Brandwunde: Nicht alle! Ich habe gehört, Porfirio Empyreus sei gestorben.

Der zweite Minotaur mit der Sänfte: Er soll ein merkwürdiger Mann gewesen sein, eigensüchtig, naiv und unbeholfen, aber auch mit einem guten Kern.

Der erste Minotaur mit der Sänfte: Und jetzt scheint es so zu sein, dass alle Kinder seiner Frau unehelich sind!

Der Minotaur mit dem abgerissenen Ohr: Wenn alle Frauen ihren Männern treu wären, wäre das auch nicht gut!

Der zweite Minotaur mit der Sänfte: Neun uneheliche Kinder kommen mir trotzdem seltsam vor!

Der Minotaur mit der großen Brandwunde: Das Gerücht kam ja zustande, weil das Steingesicht über deren Hauseingang die Augen geschlossen hat. Können wir denn sicher sein, was das bedeutet? Vielleicht hat es damit auch eine ganz andere Bewandnis!

Der Minotaur mit dem abgerissenen Ohr: Stimmt es, dass da sogar ein Minotaur vor der Tür Ärger gemacht hat?

Der erste Minotaur mit der Sänfte: Das war Myrtakay, der ehemalige Masseur von Porfirio Empyreus. Er konnt aber beruhigt werden. Sonst hätte es da wahrscheinlich auch noch ein Blutbad gegeben.

Der zweite Minotaur mit der Sänfte: Da ist schon genug passiert! Neben dem Haus am Fluss haben sie dem Fischer die Hütte abgebrannt!

Der Minotaur mit der qualmenden Tonpfeife: Wer macht denn so etwas?

Der Minotaur mit dem Brandzeichen am rechten Oberarm: Feuer scheint zu einem beliebten Mittel geworden zu sein, Probleme zu beseitigen.

Er zeigt auf das qualmende Amphitheater hinter sich.

Der Minotaur mit dem abgerissenen Ohr: Wie geht es deinem Herrn?

Der Minotaur mit dem Brandzeichen am rechten Oberarm: Es hätte schlimmer kommen können. Ich denke, ich werde ihn am Morgen nach Hause bringen können.

Der Minotaur mit der qualmenden Tonpfeife: Habt ihr mitbekommen, dass auch Saibhang, der ehemalige Bordellier aus der Seide, abtransportiert wurde? Ich nehme an, er ist bei dem Aufruhr umgekommen.

Der Minotaur mit der großen Brandwunde: Seine Freunde haben ihn mit einem Wagen vor die Stadt gekarrt. Vielleicht wollen sie ihn im Dschungel bestatten!

Der Minotaur mit dem Brandzeichen am rechten Oberarm: Da wäre ich nicht so sicher. Saibhang hat auch schon das Rinderopfer überlebt.

Der Minotaur mit dem abgerissenen Ohr: Er soll genau an dem Ort gewesen sein, von dem die Katastrophe ausging.

Der erste Minotaur mit der Sänfte: Ganz erstaunlich, dieser Bruder! Er ist wie das Auge eines Taifuns.

Der Minotaur mit dem Brandzeichen am rechten Oberarm: Der Sturm scheint allerdings vorbei zu sein.

Erneut zeigt er auf das qualmende Amphitheater hinter sich.
« Letzte Änderung: 26.07.2021 | 10:21 von Chiarina »
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #162 am: 23.08.2021 | 23:32 »
15

Nachts trägt der Wind Geisterstimmen herbei,
die von ungekannten Gefahren erzählen.

Lautlos werden Fensterläden geöffnet,
die Namen von Freunden geflüstert
und so dem Wind sein nächstes Ziel angewiesen.

Was sind ein paar durchwachte Nächte
gegen die Hoffnung?
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #163 am: 23.08.2021 | 23:33 »
Für die letzte Runde habe ich keine Einführung vorbereitet, aber wie es der Zufall will bringt einer meiner Mitspieler Glückskekse mit. Drei werden geöffnet und offenbaren vielversprechende Inhalte:

- Es ist Zeit mit entfernten Lieben zu sprechen. Erzähle ihnen, was es Neues gibt!
- Du wirst schwierige Zeiten überstehen.
- Morgen ist ein guter Tag, etwas Neues zu beginnen.

Wir werfen uns ein kurzes Lächeln zu.

Unsere Vision beginnt.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #164 am: 23.08.2021 | 23:36 »
Nachdem sich Myrtakay um den verwundeten Saibhang gekümmert hat, nehmen die übrigen Minotauren und die anwesenden Äußeren am abendlichen Lagerfeuer Platz. Die Äußeren werfen ihren Rettern erwartungsvolle Blicke zu. „Und nun?“, fragt einer der Männer. Der zweite Advokat räuspert sich und behauptet, sich nun einer Truppe im Immerkrieg anschließen zu wollen. Die Äußeren runzeln mit der Stirn oder wenden sich etwas ab. Der Anführer meint, sie sollten sich um einen Ort bemühen, an dem sie auf Ashtavede warten können. Lokapriya behauptet, zuallererst das Zentrum des Waldes finden zu wollen. „Vielleicht können wir ja auch dort auf Ashtavede warten.“ Der Philosoph fragt die Äußeren, ob sie das Zentrum des Waldes kennen. Der Minotaur behauptet, er kenne es und könne die Anwesenden dorthin führen. Die beiden Menschen nicken. „Also gut“, meint Myrtakay. „Morgen machen wir uns auf den Weg.“

Den gesamten nächsten Tag marschieren die Gefährten durch den Urwald. Dank ihrer kundigen Führer können sie die meisten Gefahren umgehen, der verletzte Saibhang verlangsamt ihren Marsch aber doch erheblich. Am Abend kommt eine Palisadenwand in Sicht. Lokapriya und der zweite Advokat erkennen, dass sie sich vor dem Fort der Äußeren befinden. Der Philosoph meint zu den Äußeren: „Ihr habt uns zu euch nach Hause geführt. Das war so nicht abgemacht!“ Einer der Männer meint: „Das ist das Herz des Waldes. Wir haben euch dorthin geführt, wo ihr hinwolltet. Wenn es Ashtavede wirklich gelingen sollte, unseren Anführer Mohan Gopi zu befreien, wird er ihn außerdem wahrscheinlich zuerst hierherbringen. Ihr seid am richtigen Ort.“ Lokapriya und der zweite Advokat sind nicht überzeugt davon und murren ein wenig. Weil die Nacht einbricht, betreten aber doch erst einmal alle Anwesenden das Fort.

Wie schon beim ersten Besuch erweist sich die Kommunikation mit den Äußeren als schwierig. Auf dem Hof des Forts fragt der Anführer nach einem Werkzeugschuppen und bekommt den Weg zu einem Vorratslager gezeigt. Ein Äußerer bittet den ersten Soldaten um Unterstützung beim Holzhacken, geht dann aber mit ihm zu einer Gruppe, die aus Schilfblättern Körbe flechtet. Der Anführer fragt im Vorratslager nach einem Werkzeugschuppen und bekommt den Weg zum Schlafraum der Kinder gezeigt. Lokapriya erkundigt sich nach der Art des Zusammenlebens der Äußeren und bekommt erzählt, alle Äußeren lebten in einem Zustand völliger Freiheit. Direkt danach behauptet aber ein Mann mit lustlosem Gesichtsausdruck, er sei jetzt für eine Wache eingeteilt. Der Anführer fragt im Schlafraum der Kinder nach einem Werkzeugschuppen und bekommt den Weg in die Küche gezeigt.

Nach kurzer Zeit ist Lokapriya von der nicht zustande kommenden Kommunikation völlig entnervt. Der zweite Advokat hilft eine Weile in der Küche aus und bekommt Arbeitsanweisungen, die ihm völlig sinnlos erscheinen. Immerhin kann er mit anhören, dass sich die anwesenden Äußeren untereinander völlig normal unterhalten. Diese gestörte Kommunikation wird offenbar nur gegenüber den Neuankömmlingen betrieben. Als der zweite Advokat seinen Gefährten von seinen Beobachtungen erzählt, beschließt der Anführer, den direkten Weg zu gehen. Während der abendlichen Runde am Lagerfeuer spricht er einen Äußeren auf deren Verhalten an: „Warum sprecht ihr mit uns auf diese sinnlose Art und erzählt uns Lügen?“ Der Äußere antwortet: „Glaube mir, es ist besser für euch!“ „Es ist besser für uns angelogen zu werden?“, fragt der Anführer. „Wir schützen euch vor der Wahrheit“, fügt der Äußere hinzu. Der Anführer schüttelt mit dem Kopf und weiß nicht, was er sagen soll.

Weil die Minotauren aus Dégringolade abgesehen von den Kommunikationsproblemen gut behandelt werden und Saibhangs Wunden noch nicht ganz ausgeheilt sind, bleiben sie einige Tage im Fort. Zweimal versuchen der Anführer, der zweite Advokat und der zweite Soldat kleine Expeditionen auf eigene Faust zu unternehmen. Die Äußeren lassen sie ziehen. Die Minotauren nehmen einen Eimer mit Pech mit und markieren ihren Weg durch Zeichen an den Bäumen des Dschungels. So versuchen sie ohne fremde Hilfe das Zentrum des Waldes zu erreichen.

Bei der ersten Expedition nehmen die Minotauren am Ende ihres ersten Expeditionstages ein trillerndes Tiergeräusch wahr, kurz darauf schreit eine Frau und ein Minotaur brüllt. Der zweite Advokat eilt voran und hält dann plötzlich inne. Vor ihm wird der Rücken eines gewaltigen, zwei Meter großen Pfeilgiftfrosches sichtbar. Hinter dem Riesenfrosch ist die Frau und der Minotaur auszumachen, die der Frosch wohl bereits als Beute ins Auge gefasst hat. Der Minotaur hat einen spitzen Stock in der Hand, der mit etwas Glück als improvisierter Speer verwendet werden kann. Der zweite Advokat schaut sich um, sieht weitere passende Äste auf dem Boden liegen, liest sie auf und wirft sie seinen nachfolgenden Gefährten zu. Dann stürzt er mit einem Kriegsschrei auf den Frosch zu, rennt auf seinem Rücken hinauf zu seinem Kopf und stößt dem Monstrum seinen Speer ins Auge. Zischend schnellt die Zunge des Riesenfrosches nach vorn und versprüht eine Wolke von gelbgrünen Speicheltropfen. Der Minotaur an der Seite der Frau schreit auf und fasst sich an seinen Arm. Von der Seite nähert sich kurz darauf Myrtakay und bohrt seinen improvisierten Speer in das andere Auge des Frosches, der daraufhin zuckend zusammenbricht. Der Anführer versetzt dem gewaltigen Tier den Todesstoß.

Nach ihrem Sieg erkennen die Minotauren, wen sie gerettet haben. Es ist Gouliza und ihr Minotauren-Geliebter, der ehemalige Wärter vom Quell des Vertrauens. Myrtakay behandelt die Wunde des Minotauren und meint: „Die Schmerzen kann ich ein wenig lindern, aber eigentlich brauchst du Ruhe. Wenn ihr diesen mit Pech gezeichneten Wegmarkierungen folgt, kommt ihr an ein Fort der Äußeren. Dort könnt ihr hoffentlich ein wenig ausruhen.“ Das Paar bedankt sich und berichtet von seinen Erlebnissen. Am Morgen nach der Katastrophe im Amphitheater hätten sich an einigen Orten in Dégringolade Menschen zusammengerottet, die die Minotauren für den Brand verantwortlich machten. Eine dieser Gruppen nahm sich die Gaststätte Zum friedlichen Mungo vor, die bekannt für ihre tolerante Haltung gegenüber Minotauren war. Das Haus, in dem Gouliza mit ihrem Geliebten Zuflucht gefunden hatten, wurde so ein Opfer der Flammen. Nur unter Schwierigkeiten konnten die beiden das brennende Haus verlassen und den wütenden Angreifern entkommen. Gouliza konnte dabei hören, wie einer der Brandstifter zu einem anderen meinte: „Azam kann zufrieden mit uns sein!“. Nach diesem Ereignis hätten sich Gouliza und ihr Geliebter einen Tag lang durch die Stadt geschlagen. Dann aber wurde bekannt, dass in vielen Stadtteilen eine nächtliche Ausgangssperre für Minotauren verhängt worden ist, worauf sie sich entschlossen hätten, ihr Glück im Dschungel zu suchen.

Azam, sagte der Brandstifter?“, fragt der zweite Advokat. „Das ist doch sicherlich Gaureeshankar Azam, der Mann der Stierzecken verteilt, Schlägertrupps auf Minotauren loslässt und sich im Haus von Kanta Planudes herumdrückt!“ Der Anführer und der zweite Soldat nicken grimmig. Sie setzen ihre Expedition fort, haben aber am Ende des Tages noch nichts erreicht. Am nächsten Morgen treten sie frustriert den Heimweg an und erreichen am Abend wieder das Fort der Äußeren.

Nach dem Ende dieser Expedition geht es Saibhang etwas besser. Er nimmt daher an der zweiten Expedition teil und begleitet Myrtakay, den Anführer und den zweiten Advokaten. Die Expedition verläuft problemlos, bringt aber auch keine neuen Erkenntnisse. Im Lager führen die Kommunikationsprobleme mit den Äußeren zu immer neuen absurden Situationen.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #165 am: 23.08.2021 | 23:39 »
Nach einer knappen Woche ertönt am Vormittag ein Ruf von einer der Wachen: „Mohan Gopi ist zurück! Der Häuptling ist da!“ Und tatsächlich ist es so. Das Tor des Forts öffnet sich und Mohan Gopi betritt sichtlich geschwächt aber glücklich das Fort seiner Leute. Sofort werden Fässer mit vergorener Ziegenmilch in den Hof gerollt und ein Fest hergerichtet. Alle Anwesenden wollen Mohan Gopi die Hand schütteln und ihn umarmen. Der Mann lächelt, wirft aber auch dem ein oder anderen Gefährten bereits einen achtsamen Blick zu.

Als das Fest eine Weile im Gang ist, tritt der Anführer auf Mohan Gopi zu und fragt ihn: „Mohan Gopi, bis du auf deinem Weg zurück irgendwann Ashtavede, einem Minotauren mit vielen bunten Tätowierungen, begegnet?“ Mohan Gopi erzählt: „Ich konnte mich aus dem Käfigwagen, der mich nach Fesula ins Gefängnis bringen sollte, befreien, als er einen Unfall hatte. Als der Wagen gegen einen Baum schlug, brach eine der Gitterstangen. Ich konnte ins Freie, nahm einer meiner Wachen ihr Messer ab und kämpfte mich durch meine Widersacher hindurch in den Dschungel. Dort ergriff ich die Flucht. Irgendwann erreichte ich einen kleinen See, an dem sich ein Minotaur befand, der eine grüne Zigarre rauchte. Wir verbrachten ein paar Stunden miteinander und freundeten uns an, am Ende sagte er aber, er sei der Bordellier des Freudenhauses Die Seide gewesen und habe seinen Beruf an einen Konkurrenten namens Saibhang verloren. Er meinte weiterhin, wenn ich ihm etwas Gutes tun wolle und irgendwann einmal diesem Saibhang begegnete, dann solle ich den Minotauren umbringen. Er hoffe auf diesem Weg seinen Job zurückerlangen zu können.“

Der Anführer blickt Mohan Gopi ungläubig an. „Ich kann das kaum glauben, Herr!“, sagt er. „Ashtavede und Saibhang sind freundschaftlich miteinander verbunden!“ „Möglicherweise sind sie nicht offen zueinander gewesen“, meint Mohan Gopi daraufhin.

Für den Rest des Festes beraten sich die Minotauren aus Dégringolade. Saibhang hält sich bedeckt. Sein Name wird vermieden. Keiner der Freunde kann sich vorstellen, dass an Mohan Gopi die Wahrheit gesagt hat. Myrtakay merkt ein paarmal, dass der Führer der Äußeren ihm und seinen Gefährten immer wieder argwöhnische Blicke zuwirft. Offensichtlich unterhält er sich auch mit einigen seiner Vertrauten über sie. Seine Gesprächspartner werfen den Minotauren aus Dégringolade ebenfalls ein paar misstrauische Blicke zu und nicken.

„Was sollen wir tun?“, fragt Lokapriya. „Mir scheint, bei der Suche nach dem Zentrum des Waldes können wir auf keine Hilfe der Äußeren rechnen. Wir werden uns wahrscheinlich selbst auf den Weg machen müssen.“ „Wir können auch gemeinsam in den Immerkrieg ziehen“, meint der zweite Advokat. „Beim Kampf mit dem Riesenfrosch habe ich gemerkt, was für ein Potential wir Minotauren verschenken, wenn wir uns immer nur passiv verhalten.“ Schon will Lokapriya etwas erwidern, da sagt Goulizas Minotauren-Geliebter: „Dieser Mohan Gopi lügt uns an, weil er uns nicht vertraut. Vielleicht sollten wir ihn einfach mal im Quell des Vertrauens baden gehen lassen.“ „Das ist in Dégringolade!“, meint Lokapriya. „Da kommen wir gerade her und es führt uns keinen Meter näher an das Zentrum des Dschungels heran.“ „Die Unterstützung von Mohan Gopi könnte das Vorhaben aber sehr beschleunigen“, meint der Quellwächter. Eine Weile denken die Gefährten über den Vorschlag nach. Dann meint der Anführer: „Wir machen es. Lasst uns mal sehen, ob wir eine günstige Gelegenheit dafür finden.“

Diese Gelegenheit ergibt sich noch in derselben Nacht. Das Fest verläuft fröhlich und alkoholreich, am Schluss sind die meisten Äußeren betrunken oder schon im Bett. Mohan Gopi hat so viel getrunken, dass er irgendwann neben dem Lagerfeuer einfach umkippt. Die Minotauren aus Dégringolade warten noch ein wenig, bis auch die letzten Feiernden gegangen sind, dann nähern sie sich dem Häuptling der Äußeren. Der Anführer umfasst seinen Körper und zieht ihn nach oben. Mohan Gopi stöhnt ein wenig. Mit Hilfe des zweiten Soldaten greift der Anführer unter die Arme des Betrunkenen und schafft ihn Schritt für Schritt in Richtung Ausgang. Irgendwann wird Mohan Gopi etwas munterer und beschwert sich lallend, bekommt aber sofort noch ein paar Schlucke vergorene Ziegenmilch verabreicht. Vor dem Tor regt sich erneut der Widerstand des Äußeren, worauf die Gefährten mutiger werden. Der Führer der Äußeren wird gefesselt und geknebelt, dann in den Dschungel geführt. Nach einer Weile suchen sich die Entführer ein Versteck und verbergen sich dort mit Mohan Gopi für den Rest der Nacht.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #166 am: 23.08.2021 | 23:41 »
Am nächsten Tag schleppen die Minotauren den Anführer der Äußeren weiter durch den Urwald. Auf ihrem Marsch wird darüber diskutiert, wie sie als gesuchte Verbrecher und Aufrührer Dégringolade betreten sollten. Auch die Frage, ob das am besten tagsüber oder in der Nacht geschieht, wird erörtert. Am Abend ist die Metropole erreicht und die Freunde erblicken vom Waldrand aus die Mauern Dégringolades. Myrtakay sagt: „Wir versuchen es nachts. Vielleicht ist es in den Straßen doch etwas sicherer als bei Tag, selbst wenn die Ausgangssperre für Minotauren noch in Kraft sein sollte. Bleibt die Frage nach der Passage eines Stadttores. Ich schlage vor, wir geben uns als Diener von Mohan Gopi aus. Unser Freund hier wird den Mund halten und uns das Reden überlassen. Höre, Mohan Gopi, wenn du irgendwie die Torwachen auf uns aufmerksam machen solltest, erzählen wir ihnen, dass du auf einem Gefangenentransport nach Fesula getürmt bist, dann sind wir alle dran. Hast du verstanden?“ Schicksalsergeben nickt Mohan Gopi. Seine Augen blicken ins Leere. Myrtakay nimmt ihm seine Fesseln ab.

Mit bangen Herzen nähert sich die Gruppe dem nahegelegensten Stadttor Dégringolades. Als sie vom Licht der Fackeln am Tor beleuchtet werden, mustern sie die Torwachen aufmerksam. Der befehlshabende Hauptmann sagt: „Wer seid ihr und wo kommt ihr mitten in der Nacht her?“ Der Anführer sagt: „Wir kommen aus dem Dschungel und führen unseren Herrn nach Hause!“ „Mitten in der Nacht?“ „Wir haben uns verirrt und waren tagelang unterwegs. Unser Herr, Zeno Empyreus, hat Furchtbares durchgemacht und sollte schnellstmöglich der Obhut seiner Lieben überstellt werden.“ Der Hauptmann der Torwache mustert den schweigenden, scheinbar teilnahmslosen Mohan Gopi. Offenbar erkennt ihn niemand als gefährlichen Feind der Stadt. Der Hauptmann sagt: „Euch ist bekannt, dass es eine nächtliche Ausgangssperre für Minotauren gibt?“ „Herr“, erwidert der zweite Soldat. „Wir bringen unseren Gebieter nach Hause und werden für den Rest der Nacht unser Gesindehaus nicht mehr verlassen.“ „Wenn ihr in eine Straßenpatrouille hineingeratet, kann ich für nichts garantieren.“ „Wir werden aufpassen, Herr!“ „Dann geht!“

Erleichtert betreten die Minotauren und Mohan Gopi nächtliche Stadt. Der Geliebte Goulizas kennt sich aus und führt die Gruppe auf schnellstem Weg zum Quell des Vertrauens. Ein Brandgeruch hängt in der Luft und durch die Nachtluft ziehen hin und wieder Rauchschwaden. Irgendwann erblickt der erste Soldat in einiger Entfernung ein Licht auf der Straße. Die Gefährten nähern sich vorsichtig und erblicken eine Straßensperre mit einem Lagerfeuer. Vier gerüstete Krieger befinden sich am Feuer und halten Ausschau.

„Sie wachen über die Ausgangssperre“, behauptet Goulizas Geliebter, „aber seid unbesorgt! Der Quell des Vertrauens ist nicht mehr weit und ich kenne einen kleinen Umweg.“ Über ein paar kleine Gässchen erreichen die Minotauren schließlich das Wasserbecken. Das Wächterhäuschen scheint verwaist zu sein, aber noch immer flankieren marmorne Löwenstatuetten die Stufen, die zum Wasser hinabführen und auch der kleine Wasserfall stürzt am rückseitigen Rand wie eh und je in das Becken. Goulizas Geliebter erklärt: „Üblicherweise betritt man zu zweit das Becken, schreitet hindurch und stellt sich dann unter den Wasserfall. In der Regel vertrauen die beiden Badenden hinterher einander.“ Die Gefährten schauen sich an und der Anführer sagt: „Ich denke es ist eine Aufgabe für einen Philosophen.“ Lokapriya nickt und sagt: „Komm, Mohan Gopi! Wir gehen baden!“

Gemeinsam steigt der Führer der Äußeren mit Lokapriya ins Wasser. Mensch und Minotaur waten durch das Becken bis zum Wasserfall und stellen sich in die schäumende Gischt. Dann hört Lokapriya Mohan Gopi rufen: „Ich denke, ich habe da das ein oder andere klarzustellen!“ Lokapriya ruft zurück: „Ich werde dir wohlwollend zuhören!“ Die beiden kehren zu ihren Gefährten zurück und steigen Hand in Hand über die Stufen zwischen den marmornen Löwen wieder aus dem Becken heraus. Goulizas Geliebter sagt: „Lasst uns den Ort verlassen, er ist zu auffällig! Ich kenne in der Nähe ein Haus mit einem Hühnerstall im Garten, in dem wir eine Nacht verbringen können.“

Während die Bewohner des Stalles leise gackern richten sich die Minotauren und Mohan Gopi im Finsteren ein. Das Mondlicht scheint nur schwach durch einige Ritzen und erlaubt es den Minotauren gerade eben noch, die Silhouette des Häuptlings zu erkennen. Mohan Gopi sagt: „Es tut mir leid, dass ich euch mit Misstrauen begegnet bin! Ihr müsst wissen, dass wir Äußeren den Leuten aus der Stadt gegenüber voreingenommen sind. Sie bringen den Immerkrieg in den Dschungel und ihre Rede ist voller Falschheit und Lüge. Warum sollte das bei euch anders sein? Als ihr zum ersten Mal bei uns wart, habt ihr unser Fort bei Nacht und Nebel verlassen, indem ihr ein Loch in unsere Außenmauer gesägt habt. Für uns sah das nicht nach einem Vertrauensbeweis aus! Wenn wir Leuten aus der Stadt begegnen, nehmen wir zu unserem Schutz üblicherweise deren Verhalten an. Wir erzählen ihnen Lügen und dummes Zeug. Und wenn wir können, sabotieren wir ihre Kriegshandlungen im Immerkrieg. In eurem Fall hätten wir uns wohl anders verhalten sollen, aber ich habe die Hoffnung, dass es noch nicht zu spät ist.“ Lokapriya blickt Mohan Gopi ernst in die Augen und behauptet: „Du hast Recht, auch wir sind euch nicht mit Vertrauen begegnet.“ Mohan Gopi fährt fort: „Das Bad im Quell des Vertrauens hat meinen Blick auf euch verändert. Ich will euch die Wahrheit über meine Befreiung erzählen. Nach zwei Tagen im Käfigwagen auf dem Weg nach Fesula lauerte Ashtavede meinen Beschützern auf. Er rollte einen großen Felsblock auf den Weg, der die ersten drei oder vier meiner Wachen erschlug. Dann stürzte er wie ein Taifun auf die Gruppe herab, zerbrach einen der Gitterstäbe meines Käfigs und bekämpfte meine Widersacher. Ich beteiligte mich an dem Kampf, sobald ich mich durch die Öffnung im Gitter hindurchzwängen konnte. Zusammen konnten wir ein paar von ihnen unschädlich machen und dann fliehen. Nach dieser Tat wanderten wir eine Weile zu zweit durch den Dschungel. Vielleicht wisst ihr, dass Ashtavede ein begabter Sänger und Komponist ist. Auf unserem Weg arbeitete er immer wieder an einer kleinen Melodie, die nach und nach zu einem hübschen Lied wurde. Schon bald konnte ich mitsingen, aber immer wenn ich ihn fragte, wie die Worte zu dieser Melodie lauteten, zuckte er mit den Schultern und behauptete, er wisse es nicht. Eines Nachts legte ich mich zum Schlafen nieder und hörte plötzlich Ashtavede schreien. Ich sprang auf und konnte gerade noch sehen, wie der Minotaur von einem davonfliegenden Wakwak verschleppt wurde. Ashtavedes Körper hing völlig leblos in den Klauen der Bestie. Ich bin überzeugt davon, dass er sein Ende gefunden hat. Danach schlug ich mich allein bis zu unserem Fort durch.“

Die Erzählung von Ashtavedes Ende geht den meisten Minotauren recht nahe. Besonders Saibhang wischt sich mehrfach das Gesicht und seufzt einige Male schwer. Nach einer längeren Stille fragt der erste Soldat: „Mohan Gopi, habt ihr Äußeren eigentlich jemals darüber nachgedacht uns zu opfern?“ „Opfern?“, fragt Mohan Gopi. „Du meinst auf einem Altar mit einem Zeremonienmesser? Nein. Bei ihrem ersten Besuch haben wir aber darüber nachgedacht, ob wir Lokapriya, Saibhang und den zweiten Advokaten nicht als Lockmittel verwenden, durch das wir im Immerkrieg den ein oder anderen Trupp in einen Hinterhalt führen könnten.“  Wieder ist es eine Weile lang still im Hühnerstall. Schließlich fragt Lokapriya: „Kennst du das Zentrum des Waldes, Mohan Gopi?“ Der Philosoph erzählt dem Führer der Äußeren von seiner Vision auf dem Turm der Helden, woraufhin Mohan Gopi berichtet: „Ich weiß von welchem Ort du sprichst, Lokapriya. Ich kann euch auch dorthin führen. Ein paarmal war ich in der Nähe, aber ich habe den Ort nie betreten. Irgendwie schien es mir, als gehöre ich nicht dorthin. Vielleicht hatte ich sogar ein wenig Angst davor. Wenn ihr aber meint, den Ort finden zu müssen, werde ich ihn euch zeigen.“ Lokapriya sagt: „Morgen verlassen wir die Stadt. Dann kannst du uns Ashtavedes Melodie beibringen!“ Mit einem Lächeln auf dem Gesicht finden die Minotauren in den Schlaf.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #167 am: 23.08.2021 | 23:42 »
Da es tagsüber keine Ausgangssperre für Minotauren gibt, bereitet es den Gefährten keine weiteren Probleme, am nächsten Tag Dégringolade wieder zu verlassen. Einige Tage ziehen sie mit Mohan Gopi durch den Dschungel und erreichen dann das Fort der Äußeren. Hier verabschiedet sich Goulizas Geliebter von ihnen. Er will mit Gouliza der Gemeinschaft der Äußeren beitreten und verabschiedet sich herzlich von seinen Wohltätern.

Mit Mohan Gopi ziehen die Gefährten noch eine Weile länger durch den Urwald. Dabei lernen sie Ashtavedes letzte Melodie, die sich als recht anspruchsvoll erweist. Mohan Gopi singt sie auf Muhmuhmuh oder irgendwelche anderen Nonsense-Silben und die Gefährten tun es ihm gleich, so gut sie können. Schließlich gelangen sie an den Rand einer größeren Lichtung. „Wir sind da“, meint Mohan Gopi. Die Minotauren erblicken eine Hütte und um sie herum ein paar Felder und ein paar Ziegen. Ein kleiner Bach fließt durch das Gras. „Idyllisch“, meint der erste Soldat und seine Gefährten nicken. „Ich werde nicht mitkommen“, sagt Mohan Gopi. „Ich sagte es ja bereits: Mir scheint der Ort nicht für mich bestimmt zu sein. Vielleicht aber findet ihr dort, was ihr sucht. Ich wünsche euch jedenfalls von ganzem Herzen alles Gute.“ Lange umarmt Mohan Gopi Lokapriya und auch die anderen Minotauren verabschieden sich herzlich von ihm. Dann rascheln ein paar Zweige und der Äußere ist im Dschungel verschwunden.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #168 am: 23.08.2021 | 23:43 »
Wenig später stehen die Minotauren aus Dégringolade vor der Hütte auf der Lichtung. Aus dem Inneren des Gebäudes sind wohlvertraute Geräusche von klapperndem Geschirr zu hören. Der Anführer klopft und wenig später öffnet sich die Tür. Ein großer, alter Mann mit faltiger Glatze und langem Ziegenbart öffnet und schaut die Minotauren fragend an. Der Anführer spricht: „Wir kommen aus Dégringolade und suchen das Zentrum des Waldes. Kann es sein, dass wir am Ziel sind?“ Der Mann bittet seine Besucher hinein, streckt seine Erbsensuppe mit etwas Wasser und lädt sie zu einer bescheidenen Mahlzeit ein. Seine Hütte besteht aus einer Feuerstelle mit ein paar Schränken und Truhen, einem großen Tisch mit ein paar Sitzgelegenheiten und einer Schlafstelle. Das hintere Ende der Hütte dient den Ziegen als Stall. Bei Tisch erzählen und erfahren die Minotauren einiges. Lokapriya berichtet von seiner Vision auf dem Turm der Helden, woraufhin der alte Mann behauptet, die Minotauren seien dann wohl am rechten Ort. Dann stellt er sich ihnen als Mamsir vor. Lokapriya nickt und berichtet ihm, dass sie im Dschungel das Grab eines verstorbenen Boten gefunden hätten, der offensichtlich auf dem Weg zu ihm gewesen ist, sein Ziel aber nicht mehr erreicht hatte. Mamsir meint: „Ja, hin und wieder finden Boten hierher. Es kann auch gut sein, dass einige ihren Weg nicht bis zum Ende gehen können. In letzter Zeit ist es still geworden. Ich habe schon lang keinen Besuch mehr gehabt.“ Lokapriya meint: „Der Bote, von dem ich gesprochen habe, ist bereits viele Jahrzehnte tot, vielleicht sogar Jahrhunderte! Wie alt seid ihr, Mamsir?“ „Ich weiß es nicht“, erwidert der alte Mann. „Und was tut ihr?“, will der zweite Advokat wissen. „Warum kommen Boten zu euch?“ Mamsir erzählt ihnen im Folgenden, dass er ein Schriftgelehrter und Geschichtenerzähler sei. Die Boten würden ihn mit Inspirationen und Stoffen für neue Geschichten versorgen, die er dann aufschreibe. „Bedauerlicherweise“, behauptet Mamsir, „leide ich schon seit einer ganzen Weile unter einer Schreibblockade. Ich habe mit einem Epos begonnen, für dessen Fortgang mir einfach überhaupt keine Idee kommen will.“ Der zweite Advokat schaltet sich ein: „Das hört sich für mich nach einem ähnlichen Problem wie bei Ashtavede an. Der Minotaur hat eine Melodie erfunden, für die ihm aber kein Text einfiel!“ Mamsir sagt: „Ah, das klingt nach einer Herausforderung! Kennt ihr die Melodie? Seid so gut und singt sie mir doch vor!“ Eine Weile lang erklingt Ashtavedes Melodie, auf „Muhmuhmuh“ gesungen und hin und wieder von ein paar meckernden Ziegen begleitet.

Am Abend kann Mamsir erfolgreich mitsingen. Lokapriya meint: „Mit eurer Geschichte können wir euch vielleicht helfen“ Mamsir nickt, geht an einen seiner Schränke und öffnet ihn. Die Minotauren aus Dégringolade sehen etliche Schriftrollen: Mamsirs Werke. Der Einsiedler greift eine von ihnen und rollt sie auf seinem Esstisch aus. „Schaut her“, meint Mamsir. „So weit bin ich bisher, aber irgendwie geht es nicht weiter.“ Lokapriya schaut dem Alten über die Schulter und liest seinen Freunden laut vor, was Mamsir geschrieben hat. Je weiter die Minotauren Mamsirs Geschichte hören, desto stärker wird ihre Verblüffung. Sein erstes Kapitel handelt von einem Angestellten in einem Freudenhaus, der ein paar tote Nachtfische aus einem Wasserbecken fischen muss. Das nächste berichtet von einem Schneckengärtner, der auf der Gartenmauer seines Herrn ein seltsames Sgraffito entdeckt. Danach ist von einem Masseur die Rede, der ein paar Blessuren eines jugendlichen Draufgängers behandelt. Das vierte Kapitel handelt von einem Fischer, der den Gesängen der Flussdelphine zuhört. Im letzten Kapitel ist von einem Boten die Rede, der von einem Freudenmädchen einen Liebesbrief empfängt und dem Mann, zu dem es sich hingezogen fühlt, überbringen soll. Mamsir erklärt: „Ich habe noch einen Orakelmann mit seinem Gehilfen im Kopf, irgendwie ist mir aber jegliche Erfindungsgabe abhandengekommen.“ Dann bemerkt er die verblüfften Gesichter seiner Gäste und meint: „Aber was habt ihr denn?“ Der Anführer meint: „Es sieht so aus, als hättet ihr hier Episoden aus unserem Leben aufgeschrieben. Wir sind erstaunt!“ Auch Mamsir selbst ist erstaunt und meint: „Das seid ihr? Dann seid ihr Schaschbukkaho?“ Vor Verblüffung staunen sich alle Anwesenden eine Weile lang mit offenen Mündern an. Lokapriya sagt: „Und ihr? Wer seid ihr?“ Mamsir antwortet: „Scheinbar bin ich euer Erzähler! Oh, und wenn das so ist, dann könnt ihr mir doch vielleicht ein wenig mehr aus eurem Leben berichten! So komme ich dann möglicherweise mit meiner Erzählung doch noch voran!“
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #169 am: 23.08.2021 | 23:47 »
In den folgenden Tagen erzählen die Minotauren Mamsir von ihren Erlebnissen. Der Einsiedler will alles ganz genau wissen, fragt oft nach weiteren Details und notiert emsig alles, was ihm erzählt wird. Schnell wird absehbar, dass sich die Arbeit noch Wochen wenn nicht Monate hinziehen wird. Mamsirs Hütte und Felder unterhalten ihn, aber nicht noch sechs Besucher, von denen jeder auch noch vier Mägen besitzt. Die Minotauren müssen daher bei der Nahrungsbeschaffung mithelfen. Tagsüber jagen sie Wild im Dschungel, kümmern sich um Mamsirs Tiere oder suchen nach essbaren Pflanzen und Wurzeln, abends helfen sie dem Einsiedler bei der Fortsetzung seines Epos.

Viele Tage später ist alles erzählt. Mamsirs Epos ist in der Gegenwart angelangt. Saibhang sagt: „Damit ist unsere Geschichte aber noch nicht abgeschlossen. Wir sind nicht zufrieden mit der Situation in Dégringolade und möchten dort etwas verändern.“ Mamsir lächelt und sagt: „Wir werden sehen.“

In der Nacht merkt der ein oder andere Minotaur im Halbschlaf, wie Mamsir im Schein einer kleinen Öllampe am Tisch sitzt und ein paar Wörter aufschreibt. Am nächsten Morgen kann er sich nicht daran erinnern. Die Schriftrolle findet sich aber auf dem Esstisch. Gespannt lesen alle Anwesenden, was Mamsir in der Nacht quasi schlafwandlerisch notiert hat:

„Dann sang Schaschbukkaho an heiligem Ort folgendes Lied, wodurch er alle drei Stimmen gleichermaßen ehrte:

Du glaubst schon lang ein Rind zu sein,
und nicht etwa Mensch oder Schwein.
Du glaubst zum Recht führt Strategie
Und bist statt Vieh doch nur Phantasie.

Doch auch dein Schöpfer hat dies Problem,
als Teil der Welt er sich einst gefiel,
doch denkt er nach, wird ihm unbequem:
ist selbst auch nur ein Gedankenspiel.

Du glaubst schon lang ein Rind zu sein,
und nicht etwa Mensch oder Schwein.
Du glaubst zum Recht führt Strategie
Und bist statt Vieh doch nur Phantasie.

Sei hohle Kugel statt großer Held!
Bist wie die Haut einer Zwiebel nur,
doch schaff in dir eine neue Welt:
erzählen kannst du auch als Figur.

Du glaubst schon lang ein Rind zu sein,
und nicht etwa Mensch oder Schwein.
Du glaubst zum Recht führt Strategie
Und bist statt Vieh doch nur Phantasie.“


„Ein Satz und der Text eines Liedes“, meint der zweite Soldat. „Was nun?“ Mamsir antwortet: „Passt der Liedtext vielleicht zu der Melodie, die ihr mir mitgebracht habt?“ Die Minotauren probieren es aus und stellen fest: Das funktioniert.

Dann meint der Anführer: „Und nun? Schaschbukkaho sind offensichtlich wir sechs. Wir singen das Lied an einem heiligen Ort und ehren dadurch die Stimmen. Wollen wir das überhaupt? Und selbst wenn: Von was für einem Ort ist die Rede?“

Lokapriya meint: „Ich weiß nicht, wovon das Lied handelt. Was bedeutet dieser seltsame Text? Singen wir über uns, wenn wir das Lied singen? Sind wir nur Phantasie? Mamsir hat behauptet, er sei unser Erzähler. Heißt das, er ist unser Schöpfer? Und ist auch er nur – wie es der Text behauptet – ein Gedankenspiel? Wessen Gedanken sind da gemeint? Wenn jeder erzählen kann, aber gleichzeitig auch Figur sein kann, wer ist dann der Ursprung aller Erzählung? Wer ist real?“

„Spielt doch keine Rolle“, meint Myrtakay. „Wir können singen und wir können erzählen. Die anderen Fragen können wir sowieso nicht beantworten! Lasst uns doch lieber überlegen, was wir jetzt unternehmen!“

Die Minotauren beraten ein wenig und gelangen zum Schluss, dass sie zumindest versuchen wollen, dem Eingangssatz Folge zu leisten. Die Stimmen mögen wahnsinnig sein, sie sind aber auch getrennt. Vielleicht nehmen sie Vernunft an, wenn sie zusammengeführt werden, vielleicht verdreifacht sich ihr Wahnsinn. „Vielleicht finden wir es heraus, wenn wir an einem heiligen Ort unser Lied singen“, meint der erste Soldat. Die Minotauren nicken, überlegen, welche heiligen Orte sie kennen, und sprechen zuerst Mamsir auf seine Hütte an. Mamsir meint: „Oh nein, das hier ist kein heiliger Ort. Es ist einfach nur meine kleine, armselige Hütte. Außerdem habt ihr das Lied doch eben gerade gesungen. Konntet ihr irgendwelche mysteriösen Stimmen wahrnehmen? Ich jedenfalls nicht. Ich denke, ihr braucht einen anderen Ort.“

Dann gehen die Minotauren die bemerkenswerten Orte durch, die sie in letzter Zeit kennengelernt haben. Lokapriya fasst die Überlegungen zusammen: „Wir sehen also drei Möglichkeiten: Den Belugha-See, den ewigen Fluss und den Turm der Helden.“ „Wenn das so ist“, meint Myrtakay „probieren wir die Möglichkeiten doch einfach der Reihe nach durch!“ Die Minotauren sind einverstanden. Sie wollen mit dem Belugha-See beginnen. Mamsir ist bereit, sie dorthin zu führen.
« Letzte Änderung: 24.08.2021 | 00:19 von Chiarina »
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #170 am: 23.08.2021 | 23:48 »
Am Belugha-See nehmen die Minotauren Abschied von Mamsir. „Was wird nun aus deinem Epos?“, fragt Lokapriya. Mamsir meint: „Ich weiß es nicht, aber mit eurer Hilfe habe ich die Geschichte doch sehr weit vorangebracht. Den Schluss muss ich vielleicht allein finden.“ Der alte Mann erhebt die Hand zum Gruß und macht sich auf den Rückweg.

Dann beginnen die Minotauren am Seeufer ihr Lied zu singen. Der gewaltige Belugha taucht aus dem Wasser auf und lobt ihren Gesang, von den Stimmen ist aber nichts zu sehen. Nachdem die Minotauren Belugha erzählt haben, was sie hier tun, meint dieser: „Na, die Stimmen sucht ihr hier vergebens. Ich glaube, sie sind einverstanden damit, den See mir zu überlassen. Sie zeigen sich hier fast nie. Ihr könnt aber schon einmal anfangen zu erzählen. Vielleicht hilft euch das ja auf eurem Heimweg nach Dégringolade!“ Lokapriya beginnt daraufhin von einem Floß zu erzählen, dass ihn und seine Gefährten den Vadhm hinab zur Stadt zurückbringt. Tatsächlich haben die Minotauren schnell Holz gefunden und zusammengebunden. Der Rückweg geht erfreulich schnell vor sich. „Haben wir das deiner Erzählung zu verdanken oder ist es der Segen des großen Belugha, der uns hier begleitet?“, fragt der zweite Advokat Lokapriya. Der Philosoph zuckt mit den Schultern.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #171 am: 23.08.2021 | 23:49 »
Schließlich kommt Dégringolade in Sicht. Wie bereits vor einiger Zeit erreichen die Minotauren das Stadtgebiet, indem sie auf ihrem Floß das Tor von Bari-Ein durchfahren. Die Stadt sieht mitgenommen aus. Der Dschungel ist erschreckend weit über den Stadtrand hinweg gewuchert. In der Stadt sind Gebäude eingestürzt. Wurzeln bohren sich aus den Wegen und machen sie an einigen Stellen unpassierbar. Als die Minotauren durch Rhomoon fahren, halten einige von ihnen nach ihren früheren Wohnungen Ausschau. Die Hütte des Anführers ist nicht wieder aufgebaut worden. Es sieht so aus, als wären einige ihrer Überreste vom Fluss weggespült worden. Die Seide und das Haus des Porfirio Empyreus stehen noch. An den Grundstücksmauern von Porfirios Villa patrouillieren schwergerüstete Wachen und verleihen dem Anwesen das Aussehen einer Festung.

Später erreichen die Minotauren die drei Inseln. Es ist der Ort, an dem einst das Rinderopfer stattfand. Die Minotauren verlassen ihr Floß, stellen sich ans Ufer des ewigen Flusses und singen ihr Lied. Schon bald aber laufen ein paar Menschen zusammen und schimpfen. Sie fühlen sich von dem Gesang belästigt. Als ein paar von ihnen mit Gemüse werfen und ein paar Bewaffnete auf die Minotauren zukommen, verschwinden diese.

Der Weg zum Turm der Helden ist nicht weit. Kurz bevor sie den davor befindlichen Platz erreicht haben, ist aber ein lautes Wehklagen zuhören: „Oh nein!“, ruft da jemand voller Verzweiflung. Die Minotauren beschleunigen ihren Schritt und sehen, wie Gerdatosa, der Verwalter des Turms der Helden, mit schmerzverzerrtem Gesicht eine geisterhafte Gestalt an einem der Tische vor dem Turm erblickt. Es ist Halifa, die ein Pergament auseinanderfaltet und deutlich vernehmbar zu lesen beginnt:

„Ich bin nicht die Zukunft

Du kannst mir die Finger küssen,
sie aber nicht zu Gitterstäben machen.

Deine Liebeserklärung flog durch dunkle Wolken,
erreichte mich spät,
ließ sich zwischen ein paar Erinnerungen nieder
und verteilte sich schließlich in meinem ganzen Körper.

Schuld ist das Pochen in der Brust.
Wir haben uns von unseren Ängsten erzählt und
noch bevor du mein nachtschwarzes Herz erreichtest,
war ich ein Gefangener des Lichts,
das die Milchstraße deiner Augen aussandte.

Später, wenn du dafür in Stimmung bist,
werde ich dir gewissenhaft das Allheilmittel verabreichen,

aber vergiss das Heim,
das du in meiner Handfläche zu erkennen glaubst.

Ich bin nicht die Zukunft.

Gerdatosa.“


Der Geist Halifas blickt mit Tränen in den Augen ins Nichts und sagt: „Gerdatosa, Liebster, wenn du Recht hast, dann habe ich keine Zukunft mehr. Ich werde eine traurige Heldin abgeben!“ Sie verschwindet im Turm, kommt wenig später auf der Turmspitze wieder zum Vorschein und stürzt sich herab.“

Gerdatosa und auch die Minotauren schauen sich das Geschehen mit wachsendem Grauen an. Der Anführer ist allerdings der erste, der sich aufrafft und seine Gefährten zur Vernunft ruft. „Freunde, wir haben hier einen Auftrag. Lasst uns den Turm besteigen!“ „Nun gut“, meint Lokapriya. „Ich muss dann eben hinterher mit dem Turmverwalter noch ein Gespräch führen.“
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #172 am: 23.08.2021 | 23:51 »
Wenig später stehen die Minotauren auf dem Turm. Sie alle können die konzentrischen Kreise sehen, die die Stadt und den Dschungel zu gliedern und ihr Zentrum ungefähr dort zu haben scheinen, wo sich Mamsirs Hütte befindet. Dann singen die Minotauren ihr Lied. Der zweite Advokat scheint schon bald auf außergewöhnliche Weise beseelt zu sein. Inmitten der Minotauren erscheint außerdem die bereits bekannte Lichtgestalt, deren Äußeres sich aufgrund ihrer Helligkeit kaum erkennen lässt. Schließlich bemerken die Minotauren, wie sich die Steine des Turmes zu ihren Füßen rötlich färben. „Die drei Stimmen“, meint Lokapriya. „Sie sind alle hier.“ „Und die helle Stimme in unserer Mitte – nickt sie nicht wohlwollend mit ihrem Kopf?“, fragt Saibhang. Ob das stimmt oder nur Einbildung ist, weiß aber keiner seiner Freunde genau zu sagen.

Dann endet das Lied der Minotauren und auf den ersten Blick scheinen die Stimmen zu verschwinden und alles sieht so aus, wie es war. Dennoch fühlen sich die Minotauren in einem außergewöhnlichen Zustand. „Es ist etwas in mir, das ich nie zuvor gespürt habe!“, meint der zweite Soldat und seine Gefährten nicken, weil sie ähnlich fühlen.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #173 am: 23.08.2021 | 23:53 »
„Lasst uns zu den Besuchern des Turms hinabsteigen!“, meint Lokapriya. So geschieht es. An den Tischen am Fuß des Turms der Helden sitzen wie so oft Gäste, die jetzt, nach Einbruch der Dämmerung, das Treiben der geisterhaften Helden aus früheren Zeiten beobachten. Nur Gerdatosa sitzt noch immer voller Schmerz allein an einem der Tische und weint große, salzige Tränen. Lokapriya geht zu ihm und fragt: „Was ist geschehen, Gerdatosa?“ Der Mann mit den hübschen Blumentätowierungen auf den Armen sagt: „Ich war ein paar Tage bei meiner Schwester in Kantairon. Als ich zurückkam, hörte ich davon, dass sich irgendjemand vom Turm der Helden gestürzt haben soll. Ich wusste nicht, wer es gewesen ist. Eben erst ist meine geliebte Halifa hier als Geist erschienen. Offenbar hat sie der Turm in die Reihe seiner Helden aufgenommen. Ich musste ihre Todesszene mit ansehen. Diese Verse aber, die sie gelesen hat – die habe ich nie geschrieben! Ich bin gar kein Mann, der Verse dichtet! Diesen Brief muss ihr irgendein übelwollender Mann untergeschmuggelt haben!“ „Das hört sich für mich so an, als stecke Kanta Planudes dahinter“, meint Saibhang. „Er scheint sich auf besonders grausame Weise an der Frau gerächt zu haben.“

Lokapriya legt Gerdatosa, dem Turmverwalter, seine Hand auf die Schulter und will ihn trösten. Dann aber verfolgen seine Gedanken eigene Wege. Er denkt an die Schicksale, die er in der Seide kennengelernt hat, an seine unterdrückten Brüder, an die brennenden Häuser, an die platzenden Steine, an den wuchernden Urwald und die nächtlichen Straßenwachen. Er denkt an das fehlgeschlagene Rinderopfer, das brennende Amphitheater und die die Leichen der im Dschungel gefallenen Soldaten, die von Termiten zerfressen werden. Und nach einer ganzen Weile erhebt sich Lokapriya, wendet sich an die Besucher auf dem Platz vor dem Turm der Helden und erzählt.

Lokapriya berichtet von einem eifersüchtigen Mann, der gewalttätig wird, hinterher aber seine Frau um Vergebung bittet. In seiner Erzählung tauchen danach auch Menschen auf, die Minotauren um Vergebung für vergangenes Leid bitten. Der Hass zwischen Menschen und Minotauren scheint plötzlich völlig sinnlos zu sein.

Die Menschen auf dem Platz vor dem Turm der Helden hören dem Philosophen aufmerksam und überrascht zu.

Dann ergreift der zweite Advokat das Wort und erzählt ebenso. Er berichtet vom Gesang der Flussdelphine, der so süß tönt, dass die Vorstellung, jemand könnte diese gesegneten Kreaturen zu einem Aphrodisiakum verarbeiten, völlig abwegig erscheint. In seiner Geschichte werden auch die Kerne der gefleckten Zitrone erwähnt. Ihre Verwendung als Gift, das Personen im ewigen Fluss ertrinken lässt, erscheint in seiner Geschichte als ebenso schreckliches Missverständnis, wie alle anderen Opferungen, die aus welchen merkwürdigen Ritualen auch immer an Personen begangen werden.

Die Menschen auf dem Platz vor dem Turm der Helden hängen inzwischen an den Lippen des Vortragenden. Es ist unübersehbar, dass auch sie der Meinung sind, hier ereigne sich etwas ausgesprochen Wichtiges.

Als nächstes erzählt Saibhang. Er schildert eine Szene, in der viele Menschen mit Minotauren gemeinsam in den Quell des Vertrauens und danach Hand in Hand wieder heraussteigen. Am Ende seiner Erzählung beenden die Menschen gemeinsam mit den Minotauren den Immerkrieg im Dschungel.

Mit weit aufgerissenen Augen nicken die Menschen auf dem Platz vor dem Turm der Helden zu Saibhangs Geschichte. Es scheint eine wunderbare Idee zu sein, wovon der Minotaur spricht.

Es folgt die Erzählung Myrtakays. Er erzählt von Personen, die nur aufgrund ihrer Familienzugehörigkeit bevorzugt oder eben auch benachteiligt werden. Der Held seiner Geschichte ist ein Fünfzehnjähriger an der Schwelle zum Erwachsenenalter, der trotz eines schlechten Rufes Selbstbewusstsein gewinnt und es sich nicht bieten lässt, dass ihn andere herumkommandieren oder schikanieren. Der junge Mann betätigt sich im Folgenden als Arzt, der Eukalyptus und Karpfenspeichel als Heilmittel verwendet. Es gelingt ihm, die Lebensqualität seiner Mitmenschen zu steigern und den friedlichen Umgang miteinander unter ihnen zu fördern.

Die Menschen auf dem Platz vor dem Turm der Helden murmeln lange beifällig, nachdem er seine Geschichte beendet hat.

Dann beginnt der erste Soldat zu sprechen und erzählt davon, wie die Schnecken aus den Gärten der Reichen verschwinden und in den Dschungel kriechen. In seiner Geschichte hören die Menschen auf Drogen zu nehmen und sind danach viel besser dazu in der Lage Verantwortung zu übernehmen und mitfühlend zu handeln.

Die Menschen auf dem Platz vor dem Turm der Helden beginnen daraufhin vorsichtig zu klatschen. Ihre Gesichter nehmen einen entspannten Ausdruck an, dennoch hören sie weiter gespannt zu.

Die letzte Erzählung stammt vom Anführer. Er berichtet von einer Gruppe junger Holzfäller, die von einem Fischer lernen Selbstverantwortung zu übernehmen.

Auch diese Geschichte wird von den Menschen auf dem Platz vor dem Turm der Helden begeistert aufgenommen. Sie klatschen lange, einige jubeln sogar. Irgendwann aber kehrt Stille ein. Das Publikum der Minotauren merkt, dass keine Erzählung mehr folgt. Und nach einer langen Weile beginnen die Anwesenden den Platz zu verlassen und sich dabei darüber zu unterhalten, was sie gehört haben. Ein paar Gesprächsbrocken können die sechs Minotauren aufschnappen:

„Naja, das waren eben ein paar Geschichten.“

„Ja, aber es waren schöne Geschichten!“

„Und sie wurden mit so einer Leidenschaft vorgetragen!“

„Aber es waren nur ein paar dahergelaufene Minotauren!“

„Ja, aber sie haben gut erzählt!“

„An einigen Stellen konnte ich mich richtig gut in die Figuren hineinversetzen! Stellt euch vor, sogar in die Minotauren!“

„Das waren ein paar Hirngespinste, verpackt in aufrührerische Reden, die wir da gehört haben!“

„Das kann man so sehen, ich fand die Erzählungen aber herzerwärmend und anrührend.“

„Und ich will mir ein paar der Geschichten merken, damit ich sie meinen Kindern weitererzählen kann.“
[...] the real world has an ongoing metaplot (Night´s Black Agents, The Edom Files, S. 178)

Offline Chiarina

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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #174 am: 23.08.2021 | 23:54 »
Zuletzt bleiben die sechs Minotauren auf dem Platz vor dem Turm der Helden zurück. Sogar der Turmverwalter Gerdatosa ist verschwunden. Niemand hat mitbekommen, wann er gegangen ist. Die Minotauren merken, dass der besondere Moment vorbei ist. Die Stimmen scheinen wieder verschwunden zu sein.

„Wir schauen mal, wie es im Haus von Saaroni und Ayatashatru aussieht“, meinen die beiden Soldaten.

„Und ich will versuchen meine Hütte wieder aufzubauen“, sagt der Anführer.

„Ich mache mich auf die Suche nach Mujeeb“, meint der zweite Advokat.

„Ich werde mal nachfragen, ob meine Dienste in der Seide immer noch gefragt sind“, meint Saibhang.

„Und ich will sehen, ob nicht jemand ein paar Botschaften überbringen lassen muss“, sagt Lokapriya.

Eine Weile schauen sich die Minotauren an und rühren sich nicht.

„Was meinst du, Lokapriya“, meint der Anführer schließlich. „War alles umsonst?“

„Wir werden sehen“, meint Lokapriya. „Es war auf jeden Fall einen Versuch wert.“

Die sechs Minotauren grinsen sich an, erheben die Hände zum Gruß und ziehen ihrer Wege.
« Letzte Änderung: 12.09.2021 | 21:56 von Chiarina »
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