Autor Thema: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus  (Gelesen 6854 mal)

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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #50 am: 4.12.2020 | 19:57 »
Die beiden Advokaten und der Philosoph stolpern durch den nächtlichen Urwald. Die Umgebung ist fremdartig und furchteinflößend. Die einzige Waffe, die den drei Gefährten zur Verfügung steht, ist der Knüppel, den der erste Advokat aus der Taverne mitgenommen hat. Es ist eine klare Nacht und die Sterne schimmern hell, im Schatten der Urwaldriesen ist trotzdem nicht viel zu sehen. Dazu kommt, dass die Minotauren Hunger verspüren. Irgendwann behauptet der zweite Advokat: „Das hat keinen Sinn. Lasst mich versuchen, hier ein Lager zu errichten. Wenn ihr wollt, könnt ihr euch währenddessen nach etwas Essbarem umschauen.“ Der erste Advokat und der Philosoph nicken und begeben sich in der direkten Umgebung auf Nahrungssuche. Dann hört der Philosoph einen dumpfen Schlag, sieht sich um und erstarrt. Ein paar Schritte entfernt liegt der erste Advokat reglos auf dem Boden. Direkt neben ihm steht ein Monster, zweieinhalb mal so groß wie er, mit Fledermausflügeln und einem langen, scharfen Schwanz, der den ersten Advokaten zu Boden geschlagen hat. Einen Moment ist der Philosoph wie erstarrt. Dann aber ergreift das Monster den ersten Advokaten mit seinen Klauen und macht sich daran, mit ihm davonzufliegen. Der Philosoph kennt das Monster aus einigen Geschichten, die ihm in seiner Kindheit erzählt wurden. Er schüttelt seine Lähmung ab, ruft „Hilf uns, Advokat! Ein Wakwak!“ Dann rennt er auf den Gegner zu, wirft sich gegen ihn und versucht ihn zu rammen. Das Monster zeigt wenig Reaktion, es macht mit seinen Flügeln langsam flappende Geräusche, denen es seinen Namen zu verdanken hat, und beginnt abzuheben. Als der zweite Advokat vor Ort ist, sieht er die Keule des ersten Advokaten auf dem Boden liegen. Er ergreift sie, wirft sie dem davonfliegenden Wakwak hinterher und trifft immerhin dessen Klauen. Mit schmerzerfülltem Brüllen lässt das Monster den ersten Advokaten fallen, dieser rauscht etliche Meter durch Zweige und Blattwerk, bevor er hart auf dem Boden des Dschungels aufschlägt. Seine beiden Gefährten eilen auf ihn zu und stellen erleichtert fest, dass noch Leben in ihm steckt. Sein rechtes Bein ist allerdings in keiner guten Verfassung. Die drei Minotauren bleiben jetzt zusammen, Der zweite Advokat stellt mit dem Philosophen zusammen das Lager fertig, dann fertigt er mühsam aus einem langen Ast einen improvisierten Speer. Schließlich verbringen die drei Minotauren auf einer Moosfläche und in Blätter gehüllt eine unruhige Nacht.

Am nächsten Morgen geht es dem ersten Advokaten etwas besser. Er ist in der Lage zu laufen, hat aber noch Schmerzen. Die drei Gefährten machen sich auf den Weg durch den Dschungel und versuchen Wasser zu finden. Immer wieder bohrt der erste Advokat den Schaft seines Speeres in den Waldboden um auf Brauchbares oder Gefährliches aufmerksam zu werden. Für eine lange Zeit sehen die Minotauren aber nur grün, grün und nochmals grün. Längst haben sie jegliche Orientierung verloren und sich völlig verlaufen. Dann aber hält der zweite Advokat inne und ruft seine Mitstreiter herbei: „Schaut euch das an! Beinahe hätte ich mit dem Speer hier diese Schildkröte gestoßen.“ Aus dem Unterholz kriecht ein ungewöhnliches Tier: sein Leib und auch sein Panzer sind lückenlos golden. Das Tier schaut den zweiten Advokaten an und verschwindet dann wieder im Unterholz. Dabei allerdings schaut es sich mehrfach nach ihm um. „Vielleicht sollen wir ihm folgen!“, meint der Philosoph. Die Minotauren lassen es darauf ankommen und begeben sich auf eine sehr langsame Wanderung durch das Gehölz. Der erste Advokat ist aufgrund seiner schmerzenden Knochen nicht undankbar über das Tempo.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #51 am: 4.12.2020 | 20:00 »
Nach einem anstrengenden Vormitttag und einer späten Mittagspause kehrt der erste Soldat zum Schneckengarten zurück und will gerade wieder an die Arbeit, als er ein kleines Boot auf dem Vadhm bemerkt. Ein zweiter Blick offenbart, dass zwei Kinder Porfirio Empyreus´ die einzigen Insassen sind. Es handelt sich um den zwölfjährigen Roshaan, 2. Sohn des Hauses, und seinen kleinen dreijährigen Bruder Anil, 5. Sohn des Hauses. Dass die Zöglinge Porfirios ohne Begleiter eine Bootstour unternehmen ist ungewöhnlich. Offenbar sind sie dem Erzieher entwischt. Geradezu gefährlich ist aber der Zeitpunkt ihres Ausflugs. Es kann nämlich nicht mehr allzu lange bis zum Nachmittagsmonsun dauern. Der erste Soldat ruft den Knaben zu, sie sollen zurück kommen. Roshaan findet aber offensichtlich Gefallen daran, sich ein wenig eigensinnig zu verhalten. Etwas später beginnt es zu regnen und vom Boot aus trägt der Wind das leise Jammern Anils zum ersten Soldaten herüber, der nun tätig wird. Er lässt ein weiteres Boot zu Wasser und rudert auf die Kinder zu. Als er dort angekommen ist, bricht der Monsun los. Im Sturzregen gelingt es dem ersten Soldaten, Roshaan ein Schlepptau zuzuwerfen. Mühsam rudert er beide Boote zu dem Geschrei Anils durch den aufgewühlten Fluss und erreicht schließlich abgekämpft das rettende Ufer. Mit entnervtem Gesichtsausdruck liefert er die beiden Knaben beim erstaunt aussehenden Erzieher ab und kehrt zum Schneckengarten zurück.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #52 am: 4.12.2020 | 20:06 »
Nach dem Monsun entdecken die drei Minotauren im Dschungel im Schlepptau der Schildkröte einen kleinen Fluss, dessen Wasser durch das Blattgrün schimmert. Schon wollen sich die Minotauren begeistert ins kühle Nass stürzen, da fällt ihnen erst auf, wie still es ist. Die permanent erklingenden Tiergeräusche des Dschungels sind völlig verstummt, noch nicht einmal der Wind ist zu hören. Vorsichtig setzen sich die drei Gefährten ans Ufer und schauen in die Fluten.

Dann geschieht erneut etwas Sonderbares. Der zweite Advokat spricht mit einer seltsam veränderten Stimme. Als ihn seine Mitstreiter ansehen, scheinen seine Augen glasig zu sein. Es sieht aus, als habe er keine Kontrolle mehr über sich. Er sagt: „Ich will euch danken, meine Freunde, das Rinderopfer hat mich sehr gefreut. Lasst euch aber gesagt sein, dass beim nächsten Mal nicht unbedingt ein Minotaur dabei sein Leben lassen muss. Warum sollte es nicht ein Mitglied des Hauses Empyreus treffen? Wäre das nicht viel angemessener?“ Nach diesen Worten fällt der zweite Advokat in tiefes Schweigen. Seine Gefährten schauen sich an. Von einem Rinderopfer ist ihnen nichts bekannt. Wen haben sie sprechen hören? Alles ist sehr merkwürdig. Der Philosoph sieht sich nach der Schildkröte um, die soeben dabei ist, im Unterholz zu verschwinden. „Es sieht so aus, als habe sie ihren Dienst vollendet“, sagt der Philosoph. Der erste Advokat nickt. Danach braucht es noch eine ganze Weile, bis wieder Leben in den zweiten Advokaten gelangt. Irgendwann ist er aber wieder Herr über sich selbst. Seine Gefährten erzählen ihm von den Ereignissen, an die er keine Erinnerung zu haben scheint.

Dann aber ist endlich Zeit für ein Bad im Fluss. Sauber, ohne Durst und in gehobener Stimmung setzen die drei Minotauren ihren Weg fort. Der schöne Moment währt allerdings nicht allzu lang. Der zweite Advokat erinnert daran, dass sie sich nach einem Schlafplatz umsehen müssen. Statt einem geeigneten Ort für ein Nachtlager bemerken die Gefährten aber, dass sie beobachtet werden. Zunächst sind es nur ein paar beunruhigende Bewegungen im Grün des Dschungels, dann aber werden Gestalten sichtbar und schließlich erkennen die drei Minotauren, dass sie von einem guten Dutzend Männern umkreist sind. Die Fremden haben sich ihre Körper mit zerstoßenen Samenkörnern eingerieben und tragen eine aggressiv wirkende orangefarbene Körperbemalung. Ansonsten sind sie nahezu unbekleidet und wirken mit ihren primitiven Steinspeeren rückständig. Der erste Advokat grüßt die Fremden freundlich, die ihn aber eine ganze Weile nur schweigend beobachten. Schließlich tritt einer der Fremden vor und sagt: „Folgt uns. Wir laden euch ein unsere Gäste zu sein. Ihr bekommt zu essen und einen Ort, an dem ihr ausruhen könnt.“ Die drei Minotauren sind froh und schließen sich ihren neuen Bekannten an. Allerdings kommt keine Herzlichkeit auf. Die bemalten Männer sind auf ihrem Weg durch den Dschungel so schweigsam und distanziert, dass sich die Gefährten fragen, wie ernst es ihnen mit ihrer Gastfreundschaft ist.

Am frühen Abend erreichen sie im Gefolge der Männer ein aus Palisaden gezimmertes Fort im Dschungel. Hier führen etwa 50 Männer und Frauen eine primitive Existenz. Die drei Minotauren erhalten wie angekündigt etwas zu essen und erfahren, dass der Mann, der sie eingeladen hat, der Anführer ihrer Gastgeber ist und sich Mohan Gopi nennt. Von ihm erfahren sie, dass die Dschungelmenschen in einigen Tagen eine sogenannte Orchideenzeremonie durchführen wollen und hoffen, dass ihnen die Minotauren dabei Gesellschaft leisten. Der zweite Advokat antwortet etwas zurückhaltend. Was Mohan Gopi von sich gibt, kann Wahrheit oder Lüge sein, es ist schwer ihn einzuschätzen.

Nach dem Essen bekommen die Minotauren in einem der hölzernen Ecktürme des Forts einen Raum im Erdgeschoss zugewiesen. Außer drei Schlaflagern ist der Raum völlig unmöbliert. Die Tür zu dem Raum ist der einzige Weg nach draußen. Der Raum besitzt auch keine Fenster. Der Philosoph wirft einen Blick durch ein paar Lücken zwischen den Palisadenwänden und entdeckt zwei Wachen vor dem Turm. Sind sie Gäste oder Gefangene? Der zweite Advokat beschließt, mit dem Philosophen einen Rundgang durchs Lager zu machen. Der erste Advokat ruht sich etwas aus. Die Anstrengungen des Tages waren groß und seine Verletzungen schmerzen mit jeder Bewegung stärker. Im Hof des Forts bemerkt der Philosoph, dass sie von einer ihrer Wachen unauffällig verfolgt werden. Offensichtlich will man sie nicht aus den Augen lassen. Der zweite Advokat und der Philosoph betreten schließlich eine Werkstatt. Der dort arbeitende Mann stellt sich ihnen als Tarak vor. Hier kommt es zumindest zu einer kleinen Unterhaltung. Die Minotauren haben den Eindruck, dass sich die Menschen im Fort in ständiger Alarmbereitschaft befinden, weil sie stets damit rechnen müssen, auf irgendeine Weise in den Immerkrieg hineingezogen zu werden. Für die Akteure dieses undurchsichtigen Krieges hat Tarak nur Worte der Verachtung übrig. Am Ende gelingt es dem zweiten Advokaten, sich von Tarak eine Säge auszuleihen. Während der Philosoph die Wachen vor ihrem Turm in ein Gespräch verwickelt, schmuggelt der zweite Advokat die Säge in ihren Ruheraum. Für den Rest des Abends diskutieren die Gefährten ihr weiteres Vorgehen. Der zweite Advokat ist bereit, die Außenwand des Forts zu durchsägen und heimlich in der Nacht zu fliehen. Der erste Advokat und der Philosoph sind vom Erfolg dieses Versuchs nicht ganz überzeugt. Vielleicht könnte es auch von Interesse sein, sich diese Orchideenzeremonie einmal anzuschauen. Das letzte Wort ist in dieser Angelegenheit jedenfalls noch nicht gefallen.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #53 am: 4.12.2020 | 20:12 »
Bei Einbruch der Dunkelheit sieht der zweite Soldat, wie sich Ayatashatru, der älteste Sohn Porfirio Empyreus, mit einem Sack unter dem Arm aus dem Haus stiehlt. Vielleicht ist es Neugier, vielleicht auch Beschützerinstinkt, jedenfalls folgt er dem Knaben auf dessen Weg ins Zentrum Dégringolades. An einer dunklen Straßenecke sieht er, wie Ayatashatru in seinen Sack greift und sich seinen Minotaurenumhang überzieht. In der Dämmerung kann ihn ein unaufmerksamer Passant ohne weiteres für einen Minotauren halten. Noch ein paar Straßenecken weiter erreicht Ayatashatru einen Platz, wo er sich mit vier Gleichgesonnenen trifft. Einer von ihnen trägt ebenfalls einen Minotaurenumhang. Auf dem Platz steht eine alte Statue von einem weitgehend vergessenen Feldherrn des Immerkrieges. Zwei von Ayatashatrus Freunden haben Werkzeug mit. Der zweite Soldat kann beobachten, wie die jungen Männer Keile in einige Ritzen im Sockel der Statue hämmern. Etwas später bekommt der steinerne Führer ein Seil um den Hals gelegt. Es sieht alles danach aus, als wollten die Freunde die Statue umstürzen. Der zweite Soldat tritt auf den Platz und räuspert sich. Dann spricht er Ayatashatru an: „Junger Herr, ich bin Ihnen gefolgt, um Ihnen auszurichten, dass Ihr Vater Euch zu sehen wünscht.“ Einen Moment schweigt Ayatashatru. Dann zieht er sich den Minotaurenumhang über den Kopf. Es ist ihm anzusehen, dass ihm sein Aufzug etwas peinlich ist. Seinen Freunden sagt er: „Es ist der Masseur meines Vaters. Ich fürchte, ich muss gehen.“ Der zweite Soldat grüßt die Freunde seines Herren und zieht mit ihm ab. Auf dem Rückweg kann er dem enttäuschten Ayatashatru ein paar knappe Antworten entlocken.

„Junger Herr, warum wolltet ihr diese Statue zu Fall bringen?“

„Wir wollten ein Zeichen gegen den Immerkrieg setzen. Wir sind gegen diesen Krieg. Indem wir die Verehrung des alten Feldherrn beenden, zeigen wir, dass wir nicht einverstanden sind.“

„Wenn ihr bei solchen Aktionen erwischt werdet, könnte das euch und euren Vater in Schwierigkeiten bringen!“

„Wir haben keine Angst. Wer nur tut, was erlaubt ist, erregt kein Aufsehen! Wie lieben die Aufregung, die auch die Freiheitskämpfer bei ihren Taten empfinden.“

„Warum aber tragt ihr dabei diese Umhänge?“

„Als Minotaur verkleidet ist alles noch aufregender und gefährlicher!“

Der zweite Soldat schweigt, irgendwann entfährt ihm ein Seufzer. Dann sagt er: „Junger Herr, ich muss euch gestehen, dass ich eigenmächtig gehandelt habe. Euer Vater hat nicht nach euch gerufen. Ich denke aber, indem ich euch nach Hause bringe, habe ich in seinem Sinn gehandelt.“

Ayatashatru schweigt, denkt nach und zögert. Schließlich folgt er dem zweiten Soldaten aber doch und macht dabei ein trotziges Gesicht. Im Haus seines Vaters trennt er sich vom zweiten Soldaten ohne ein weiteres Wort.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #54 am: 4.12.2020 | 20:13 »
Im nächtlichen Mondschein sitzt der Anführer mit einer Tasse weißem Tee vor seiner Fischerhütte und betrachtet gedankenversunken den ewigen Fluss. Plötzlich erregen Bewegungen im Wasser seine Aufmerksamkeit und er erkennt, dass sich Flussdelphine in den Fluten tummeln. Dem Anführer scheint es, als nickten sie ihm zu und schauten sich nach weiterem Publikum um. Unwillkürlich blickt auch der Anführer am Ufer entlang und entdeckt, wie nebenan der älteste Sohn von Porfirio Empyreus mit gesenktem Kopf im seines Vaters Haus verschwindet. Er wird vom Masseur begleitet. Im Schneckengarten steht der Gärtner und führt irgendeine nächtliche Bobachtug durch. Der Anführer ruft ihm halblaut ein kurzes „Schat!“ zu, woraufhin die Flussdelphine einen Zuschauer mehr haben. Die beiden Minotauren beobachten verwundert, wie einer der Flussdelphine aus dem Wasser steigt und sich in eine leicht durchsichtig schimmernde menschliche Gestalt verwandelt, die ansonsten Archana, der ältesten Tochter von Porifrio Empyreus, ähnelt. Die Mädchengestalt setzt sich auf den Holzsteg des Gartenhäuschen, das zu dessen Villa gehört, greift hinter sich und zieht ein gleichermaßen durchschimmerndes Pergament hervor. Für die Minotauren scheint es so, als brüte Archana eine Weile über dem Schriftstück, als wollte sie es entziffern. Inzwischen ist auch der zweite Soldat wieder nach draußen gekommen und hat sich Anführer und dem ersten Soldaten gesellt. Das Schauspiel des verwandelten Flussdelphins scheint die übrigen Flussdelphine im Wasser königlich zu amüsieren. Sie stimmen ein helles Lachen an. Ein paar Minuten später erhebt sich die Mädchengestalt, kehrt zum Fluss zurück, verwandelt sich wieder zurück und schwimmt mit den übrigen davon.

Die Minotauren schauen sich an. Der erste Soldat sagt: „Wie seltsam! Warum verwandelt sich der Flussdelphin in Archana?“ „Und was hat er für ein Schriftstück studiert?“, fragt der zweite Soldat. Der Anführer schlägt vor im Gartenhaus nach dem Schriftstück zu suchen. Der erste Soldat sagt: „Der Flussdelphin war doch gar nicht im Gartenhaus.“ Der Anführer antwortet: „Er war auch nicht wirklich Archana. Für mich sah es so aus, als würde er das Schriftstück hinter seinem Rücken aus dem Gartenhaus hervorziehen. Weißt du, was für ein Pergament er gemeint haben könnte?“ Der erste Soldat schüttelt mit dem Kopf.

Das Gartenhaus ist zwar der Ort, an dem sich das Schlaflager des ersten Soldaten befindet, als sein eigenes Reich kann es aber nicht bezeichnet werden. Neben seinem Lager befinden sich etliche Werkzeuge und in vielen Schubladen finden sich Arbeitsmaterialien. Manchmal halten sich auch Mitglieder der Familie hier auf, wenn ihnen der Sinn nach ein wenig Abgeschiedenheit steht. Wenn Porfirio beispielsweise eine Gesellschaft gibt, dann aber irgendwann mit einem Bekannten oder Freund eine Schnecke verzehren möchte, zieht er sich gern hierher zurück. Der erste Soldat muss das Gartenhaus dann für eine Weile räumen.

Er kann nicht behaupten, einen Überblick über das chaotische Innere seines Hauses zu besitzen. „Dann lasst uns doch mal nachsehen!“, schlägt der Anführer vor. Sein Forscherinstinkt ist geweckt. Wenig später wühlen die drei Minotauren in Säcken, ziehen Schubladen auf und öffnen Kisten und Truhen. Eine ganze Weile später ruft der zweite Soldat: „Schaut mal hier!“ Er hat in einer Schachtel, die gut in einer Schublade verstaut war, eine Schriftrolle gefunden. Da das Pergament nicht versiegelt ist, rollt er es vorsichtig auf und liest etwas mühsam:

„Wald wird Garten, Garten wird Wald.
Nichts wächst auf Dauer.
Was tut er?
Warten.“

„Was soll das jetzt wieder?“, fragt der Anführer, aber die beiden Soldaten haben keine Antwort. Da fällt ihm Mujeeb Gashkari ein. „Der Orakelmann! Ich nehme an, der kann uns zu diesen mysteriösen Worten etwas sagen.“ Der erste Soldat zuckt mit den Schultern: „Schon möglich.“ Da spricht der zweite Soldat: „Wenn du uns über den Fluss ruderst, können wir morgen der „Seide“ einen kleinen Besuch abstatten. Ich habe gehört, Mujeeb habe in letzter Zeit öfter dort nach Kunden Ausschau gehalten.“ Zwar ist der erste Soldat nicht vollkommen überzeugt davon, dass diese Angelegenheit in seinen Aufgabenbereich gehört, schließlich einigen sich die drei Minotauren aber doch, sich früh am nächsten Morgen in der „Seide“ nach Mujeeb Gashkari zu erkundigen.
« Letzte Änderung: 4.12.2020 | 20:21 von Chiarina »
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #55 am: 4.12.2020 | 20:23 »
Am nächsten Morgen rudert der Anführer mit den beiden Soldaten über den Vadhm und klopft an die Eingangstür der "Seide". Die Tür öffnet sich und Ashtavede kommt zum Vorschein. Er sagt: „Ah, der Fischer! Und noch zwei Brüder, seid gegrüßt! Was führt euch zu dieser ungewöhnlichen Stunde zu diesem Haus?“ Der Anführer erkundigt sich nach Mujeeb. Ashtavede erzählt: „Nachdem sein Gehilfe den Ruf des Dschungels hörte, war er noch eine Weile hier, aber wir können ihn hier schließlich nicht durchfüttern. Gestern Morgen habe ich ihn vor die Tür setzen müssen. Ich glaube, er ist am Fluss entlang in Richtung der Fähre gegangen.“ Da das schon einen Tag her ist, müssen die Suchenden mit Schwierigkeiten rechnen, trotzdem wollen der Anführer und die beiden Soldaten auf dem Weg nach Mujeeb Ausschau halten. Bevor sie sich aber verabschieden können, bittet Ashtavede, den Anführer noch einen Moment zu warten. Er verschwindet im Inneren des Hauses, kommt dann zurück und sagt dem Anführer: „Unsere Befreiung der Flussdelphine aus dem Vorratskeller war nach meinem Geschmack. Das hier ist ein kleiner Dank dafür.“ Mit diesen Worten drückt er dem Anführer einen Glückskeks in die Hand und fügt hinzu: „Nicht gleich hier vor der Tür essen! Alles Gute, euch dreien!“
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #56 am: 4.12.2020 | 20:27 »
Einige hundert Meter weiter am Fluss entlang bricht der Anführer den Glückskeks auseinander. Auf dem Zettel in dessen Innerem finden sich ein paar Schriftzeichen. Mühsam entziffert er: „Wenn der Rauch aus dem Haus der Minotauren neben der Seide schwarz ist, findet in der darauffolgenden Nacht eine Chorprobe statt.“ Der Anführer vergewissert sich mehrfach, ob er richtig gelesen hat, kann sich aber auf den Satz im Moment zumindest noch keinen Reim machen und verstaut den Zettel in der Hosentasche.

Noch ein paar hundert Meter weiter dringt ein Ächzen und Stöhnen an die Ohren der Minotauren. Sie sehen unter einer Bank, die vor einem Haus am Fluss steht, Mujeeb liegen. Um ihn herum sind seine Habseligkeiten verteilt, er selbst sieht übel zerschrammt und malträtiert aus. Der zweite Soldat hilft ihm auf und setzt ihn auf die Bank. Dann fragen die Minotauren ihn, was passiert ist. Mujeeb erzählt, dass er irgendwelchen Strauchdieben in die Hände gefallen sei. Offensichtlich haben sie die Gelegenheit, jetzt wo sein Gehilfe in den Dschungel entlaufen sei, genutzt, um ihn auszurauben. Besonders viele Samenkörner habe er aber nicht mehr gehabt. Da seien die Räuber aggressiv geworden und haben ihn zusammengeschlagen. Mujeeb ist sich nicht ganz sicher, ob er noch alle wichtigen Orakelplättchen in seinem Schlund des Schicksals hat. Am Bedauerlichsten sei aber, dass die Diebe seine Büchse mit den Luftlöchern zu Boden geworfen haben. Dabei sei der Deckel aufgesprungen und alle seine Bienen seien entflogen.

Der Anführer sichert Mujeeb seine Unterstützung zu, dann ist es an seiner Reihe zu berichten. Er erzählt Mujeeb Gashkari von den Versen, die die Minotauren auf der Schriftrolle aus dem Gartenhaus gefunden haben. Mujeeb runzelt mit der Stirn und sagt: „Das klingt nach der alten Lyrik von Dégringolade. Es tut mir leid, ich habe als junger Mann während meiner Ausbildung davon gehört, das alles ist aber schon so lang her, dass ich mich an nichts mehr erinnern kann.“ Der zweite Soldat wirft ein: „Die alte Lyrik? Es gibt niemanden mehr, der das Geheimnis der alten Dichtung von Degringolade kennt – das waren zumindest die letzten Worte des Blatthornkäfers, den ich kürzlich in einem der Massagetiegel gefunden habe.“ Mujeeb Gashkari zuckt mit den Schultern: „Schon möglich. Ich habe danach nie wieder etwas darüber gehört.“ Der Anführer fragt den Orakelmann: „Gibt es jemanden, den wir fragen könnten? Deinen damaligen Lehrer? Wo fand denn dein Unterricht statt?“ Mujeeb antwortet: „Das war im Zentrum, in Kostalush. Ich glaube nicht, dass mein damaliger Lehrer noch lebt. Sein Haus würde ich aber eventuell wiederfinden.“ Der Anführer fragt: „Führst du uns hin?“ Mujeeb Gashkari antwortet: „Wenn ihr mir hinterher neue Bienen besorgt!“ Die Soldaten schauen sich fragend an. Das Vorhaben scheint relativ zeitaufwändig zu sein. Trotzdem erklären sich alle Anwesenden einverstanden damit, der Spur nachzugehen. Mujeeb führt die Minotauren am Fluss entlang in Richtung Zentrum.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #57 am: 4.12.2020 | 20:31 »
Im Haus der Bediensteten von Porfirio Empyreus sprechen die Kollegen des ersten und zweiten Soldaten über die vergangenen zwei Tage.

Die Dachwache mit den leuchtenden Augen: Habt ihr´s mitbekommen? Drei von den Brüdern haben drüben in der Seide den Dschungel rufen hören.

Porfirios Leibwächter mit der Doppelaxt: Ja. Sie waren hinterher in meiner Stammkneipe und haben dem armen Sahil die Kniescheiben zertrümmert. Der wird seinen Laden jetzt im Sitzen führen müssen.

Der alte Wachminotaur mit der Augenklappe: Angeblich haben sie in der Seide irgendwelche Flussdelphine gerettet.

Die Torwache mit den traurigen Augen: Das war doch der Fischer!

Die Wache mit den Walfischtätowierungen: Der Fischer? Glaube ich nicht, der ist heute Morgen mit dem Gärtner und dem Masseur auf und davon und bisher noch nicht zurück.

Der Erzieher: Ich bin gar nicht so unglücklich über die drei Brüder im Dschungel. Einer von ihnen soll dieser Bote sein, für den ich als Kontaktmann zu Saaroni herhalten sollte. Der war in letzter Zeit oft hier und dann konnte ich mich nicht mehr um die Kinder kümmern…

Porfirios Leibwächter mit der Doppelaxt: Als Roshaan mit Anil auf dem Fluss war, war aber kein Bote im Haus.

Der Erzieher: Ja, wenn du deine Nüstern in die Angelegenheiten anderer steckst, hast du natürlich gut reden!

Der alte Wachminotaur mit der Augenklappe: Habt ihr eigentlich heute Nacht die Flussdelphine im Vadhm bemerkt? Das ist doch kein Zufall! Andauernd geht es um Flussdelphine!

Die Dachwache mit den leuchtenden Augen: Der Fischer soll einen guten Draht zu ihnen haben.

Die Torwache mit den traurigen Augen: Und warum verschwindet er dann mit dem Gärtner und dem Masseur?

Die Wache mit den Walfischtätowierungen: Sie suchen den Orakelmann.

Porfirios Leibwächter mit der Doppelaxt: Den Orakelmann? Der soll doch heute übel zusammengeschlagen worden sein! Angeblich waren es Typen aus Takaundanyi.

Der alte Wachminotaur mit der Augenklappe: Takaundanyi? Das hört sich nach Ärger an. Ich hoffe nicht, dass der Gärtner und der Masseur da hineingeraten!

Der Erzieher: Das sehe ich auch so. Der Masseur hat schon genug Ärger. Ayatashatru hat sich heute bei mir über ihn beklagt. Er soll ihm nachts irgendwo heimlich aufgelauert sein.

Die Torwache mit den traurigen Augen: Wie bitte? Was ist denn in den gefahren? Normalerweise hält er doch gewissenhaft die Stille ein! Was hast du Ayatashatru geraten?

Der Erzieher: Ich habe ihm gesagt, er soll es seinem Vater erzählen. Das wollte er aber auch wieder nicht.

Porfirios Leibwächter mit der Doppelaxt: Kann ich nachvollziehen. Porfirio denkt nur an seine nächste Gesellschaft in zwei Tagen. Hoffentlich hat der Gärtner bis dahin wieder alles im Griff.

Die übrigen nicken sorgenvoll und schweigend.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #58 am: 15.12.2020 | 00:03 »
6

In ruhigem Fluss ertönt der Bericht
über die Taten alter Helden
während gleichzeitig geübte Finger
auf die dazu gehörigen Schriftzeichen deuten.

Es ist dasselbe Zeichen,
das für den Schmerz steht,
für die Verzweiflung,
für die verwehenden Fußspuren einer Armee auf der Flucht.

Wer in Sänften sitzt,
kann vom Feuer lesen,
ohne zu wissen
wie es brennt.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #59 am: 15.12.2020 | 00:03 »
Ich spiele eine Aufnahme mit Naturgeräuschen aus einem Dschungel ab.

Ein paar Minuten lang singen Vögel, schreien Affen, brüllen Raubtiere und rauscht der Wind.

Wir hören zu, aber die Bilder zu den Geräuschen entstehen nur langsam.

Ich beschließe, lieber in der Stadt anzufangen.

Unsere Vision beginnt.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #60 am: 15.12.2020 | 00:06 »
Der Anführer und die beiden Soldaten ziehen mit Mujeeb Gashkari am Fluss entlang durch das Viertel Kostalush, das Zentrum Dégringolades. Mit unsicherem Blick schaut der Orakelmann in die vom Fluss abgehenden Straßen und Gassen und murmelt hin und wieder: „Das kommt mir bekannt vor, aber ganz sicher bin ich nicht. Ich weiß noch, dass um die Fenster und Eingänge des Hauses blaue Bänder gemalt waren.“ Er sucht mit den Minotauren zusammen das Haus, in dem er vor vielen Jahren als junger Mann die Kunst der Orakeldeutung gelernt hat, in der Hoffnung dort etwas über die alte Lyrik Dégringolades zu erfahren, aber sein Geist ist vom vielen Bienengift zerrüttet und sein Erinnerungsvermögen schwach. Schließlich sagt er: „Wir sind sicherlich schon vorbei gegangen. Lasst uns mal mitten ins Viertel gehen!“ Die Minotauren folgen ihm. Wenig später gelangen sie an ein größeres Gutshaus, von dessen Grundstück aus drei junge Minotauren gerade einen vierrädrigen Karren auf den Weg ziehen. Ein vierter, etwas besser gekleideter Minotaur, folgt ihnen und scheint sich von ihnen verabschieden zu wollen. Dann aber bemerken die vier den Anführer, die beiden Soldaten und Mujeeb Gashkari und schauen sie mit neugierigen Augen an. Der zweite Soldat nutzt die Gelegenheit und fragt: „Hört mal, wir sind fremd hier. Ihr kennt nicht zufällig irgendwo hier in der Nähe ein Haus mit blauen Bändern, wo man Orakeldeutung lernen kann?“ Die vier jungen Minotauren zögern etwas, dann sagt der besser gekleidete: „Das Haus mit den blauen Bändern kennen wir, aber über Orakel lernt man dort wahrscheinlich nicht allzu viel. Es ist eine ganz normale Schule für die Sprösslinge der Menschen.“ „Könnt ihr sie uns vielleicht trotzdem zeigen?“, fragt der zweite Soldat. Die Minotauren nicken neugierig und führen die Gefährten ein paar Häuserblocks weiter, bis sie vor einem alten Gebäude stehen. Die blauen Bänder auf dem verwitterten Stein sind verblasst, die Farbe teilweise abgeblättert, aus den Mauerritzen wachsen die Ranken eines wuchernden Blauregens. Das Dach ist an einigen Stellen eingestürzt, immerhin aber sind die Löcher mit Planen abgedichtet. Die vier jugendlichen Minotauren schauen die Gefährten erwartungsvoll an. Mujeeb sagt: „Ja, ich denke, das ist das Gebäude. Es hat sich verändert – so wie ich mich auch.“ „Gut“, sagt der Anführer. Dann lasst uns mal nachsehen, ob wir dort etwas über diese seltsamen Verse herausfinden!“ Die jugendlichen Minotauren schauen gespannt zu, wie sich Mujeeb und seine Begleiter dem Eingang zur Schule nähern. An der Tür sind leise Stimmen zu hören. Der Anführer nimmt an, dass gerade eine Unterrichtsstunde gehalten wird. Trotzdem öffnet er die Tür und steht schon bald mit dem ersten Soldaten im Haus.

In dem Klassenraum sitzen ein Dutzend Knaben. Ihre Kleidung weist sie als Angehörige der begüterten Schichten aus. Vor ihnen steht ihr Lehrer in einem knielangen, bestickten Hemd. Die Knaben mustern die an der Tür stehenden Minotauren und den heruntergekommenen Mujeeb Gashkari leicht amüsiert. Ihr Lehrer schenkt den Besuchern einen kurzen Blick und fragt: „Ja?“. Der Anführer erklärt ihre Anwesenheit: „Herr, wir sind hier, weil wir ein paar mysteriöse Verse aufschnappen konnten, die wir gern verstehen würden. Ist das hier nicht ein Ort, an dem sich mehr über alte Lyrik erfahren lässt?“ Der Lehrer reagiert ungeduldig: „Bitte, das ist doch absurd! Warum geht ihr nicht wieder an eure Arbeit! Auch ich habe zu tun, verschwindet!“ Daraufhin wendet er sich wieder seinen Schülern zu und unterrichtet weiter, als sei nichts geschehen. Einen Moment lang hören die Minotauren ihm zu. „Was ich euch gelehrt habe, heißt Einen Backstein hinwerfen, um einen Jadestein zu erlangen. Habt ihr begriffen, was damit gemeint ist!“ Ein paar der Knaben nicken abwesend, sie sind immer noch in den Anblick der unverhofft erschienenen Besucher vertieft. „Ganapati!“, ruft der Lehrer leicht verärgert. „Zeig uns, dass du es verstanden hast!“ Einer der Knaben steht etwas verlegen auf und verbeugt sich leicht vor seinem Lehrer: „Ja, Meister Zonara.“ Dann überlegt er einen Moment. Schließlich spricht Ganapati zum Anführer: „Du willst etwas über Gedichte wissen? Im Keller unserer Schule gibt es dazu ein paar Schriften. Eines dieser Schriftstücke darfst du dir für einen Tag ausleihen. Allerdings musst du vorher aus der Nurah-Kaverne im Dschungel das Genist einer Weißnestschwalbe losgeschnitten und herbeigebracht haben.“ Alle Knaben lachen und auch Meister Zonara zeigt sich amüsiert. Der zweite Soldat raunt dem Anführer von hinten zu: „In den Dschungel? Das scheint mir doch etwas übertrieben!“ Die Minotauren verbeugen sich und ziehen sich auf die Straße zurück. Während sie sich entfernen hören sie, wie Meister Zonara zu Ganapati sagt: „Einige Jadesteine sind so groß, dass du sie nicht sofort bekommen kannst. Hast du das begriffen?“

Auf der Straße werden Mujeeb, der Anführer und die beiden Soldaten schnell von den vier jugendlichen Minotauren befragt, die wissen wollen, wie es ihnen ergangen ist. Die vier werfen dem Anführer bewundernde Blicke zu. Offensichtlich betrachten sie es als Wagnis, wenn ein Minotaur mitten in eine Unterrichtsstunde der Menschen hineinplatzt. Die Gefährten kommen mit den jugendlichen Minotauren ins Gespräch und erfahren ein paar interessante Dinge. Die drei Minotauren mit dem Karren sind für eine wohlhabende Sippe als Holzsammler tätig. Sie sind tagtäglich mit dem Karren eine geraume Zeit zu einem Wäldchen unterwegs, fällen Bäume, sammeln Holz, und bringen es am Abend wieder zu den Häusern der Sippe zurück. In ihrer Schilderung klingt ihre Arbeit nach einer üblen Schinderei. Der vierte junge Minotaur wird von ihnen als „Sänger“ bezeichnet. Tatsächlich hat er eine wohlklingende Stimme. Er erzählt, dass er zur Unterhaltung seiner Herren oft singen und tanzen muss. Er singt gern, das Tanzen würde er sich aber am liebsten sparen. „Dennoch komme ich wohl kaum darum herum“, sagt er und schlägt dabei mit etwas bedauerndem Blick zwei Fingerzymbeln aneinander. „Die Herrschaften lieben den Tanz.“

Im Anschluss daran erzählen auch die Soldaten und der Anführer ein wenig über sich. Die jungen Minotauren sind ganz erstaunt darüber, dass der Anführer sein eigener Herr ist und ein zwar armes, aber mehr oder weniger selbstbestimmtes Leben als Fischer führt. Erneut werfen sie ihm ein paar bewundernde Blicke zu. Dann fragt der Anführer die jungen Minotauren nach der Nurah-Kaverne und den Weißnestschwalben aus. Was er erfährt klingt nicht allzu verlockend. Tief im Dschungel scheint sich irgendeine gewaltige Höhle zu befinden, in der die Weißnestschwalben ihre Nester bauen. Diese Nester bestehen ausschließlich aus dem gehärteten Speichel der Vögel und gelten unter einigen Wohlhabenden von Dégringolade als Delikatesse. Man löst sie üblicherweise in einer Flüssigkeit auf und kocht eine Suppe daraus. Der Weg zu dieser Höhle soll allerdings weit und gefährlich sein. Die Vogelnester sollen sich unter der Höhlendecke befinden. Um sie zu erreichen ist dem Hörensagen zu Folge eine waghalsige Kletterpartie nötig. Der Anführer seufzt und sagt: „Bei allem, was Recht ist. Ich werde mich nicht auf ein derart verrücktes Unternehmen einlassen, nur um irgendein Schriftstück aus dem Keller dieser Schule anschauen zu dürfen!“ Der erste Soldat meint daraufhin: „Vielleicht gibt es ja noch eine andere Möglichkeit“, worauf verschiedene Ideen vom Einbruch bis zu Überredungsversuchen Ganapatis diskutiert werden. Eine Weile lang stehen die vier jugendlichen Minotauren den Gefährten noch mit Rat und Tat zur Seite, dann aber verabschieden sich die Holzsammler, die für ihre Arbeit schon spät dran sind. Die drei beschwören aber zum Abschied den Sänger, ihnen genauestens Bericht zu erstatten, was sich während ihrer Abwesenheit ereignet hat. Der Sänger verspricht es.

Dann fragt der Anführer den Sänger: „Kannst du uns hier eine ruhige Stelle am Fluss zeigen?“ Der junge Minotaur überlegt kurz und bejaht dann. Nach seinen Absichten befragt antwortet der Anführer nur kurz: „Ich will sehen, ob ich nicht einen Jadestein an die Angel bekomme!“ Die vier Gefährten trotten hinter dem Sänger her zum Vadhm, dem ewigen Fluss. Dort angekommen macht der Anführer seine Angel fertig, entdeckt dabei aber ein kleines Feld am Ufer, auf dem der Wasserspinat gerade in voller Blüte steht. Er wächst hier so üppig, dass seine lilafarbenen Blütenblätter fast zu leuchten scheinen. Der Anführer ist zu Experimenten aufgelegt, befestigt eine der Blüten an seinem Haken, wirft die Angel aus und wartet. Leicht enttäuscht verabschiedet sich der Sänger: „Es ist spät geworden, ich muss nach Hause und noch ein wenig trainieren. Ich wünsche euch nur das Beste und hoffe euch bald wiederzusehen.“ Die Gefährten erwidern seinen Gruß. Für eine Weile ist nichts zu hören außer dem Säuseln des ewigen Flusses.

Gegen Abend geht ein Ruck durch die Angelschnur. Der Anführer hat etwas am Haken und es scheint gewaltige Ausmaße zu haben! Die beiden Soldaten eilen ihm zur Hilfe und bemühen sich, die Beute an Land zu ziehen. Eine Weile lang stemmen sie sich erfolglos in den Schlamm am Flussufer. Dann aber scheint der Fisch sich entschlossen zu haben, zum Angriff überzugehen. Die drei Minotauren stolpern rückwärts, fallen zu Boden und müssen fassungslos mit ansehen, wie ein knapp zwei Meter großer Riesenwels aus dem Wasser auf sie zu springt. Der Fisch fällt direkt auf den Anführer, beißt zu und fügt ihm eine empfindliche Armverletzung zu. Die Soldaten werfen sich auf das Tier, prügeln darauf ein und können es schließlich töten.

Mit offenem Mund starrt Mujeeb das Tier an und der Anführer sagt mit schmerzverzerrter Stimme: „Unser Jadestein!“ Daraufhin bringen die Minotauren den Fisch zu dem Haus, in dem der Sänger arbeitet. Sie bitten ihn, den Fisch eine Nacht lang aufzubewahren, da sie ihn am nächsten Tag in der Schule als Jadestein ausgeben wollen. Der Sänger schaut abwechselnd vom Fisch zum Anführer hin und her und stammelt: „Flussgesegneter! Ich werde alles tun was du sagst!“ Daraufhin treten die Minotauren mit Mujeeb den langen Rückweg an. Die beiden Soldaten können es sich nicht leisten, noch länger ihrer Arbeit im Haus von Porfirio Empyreus fernzubleiben.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #61 am: 15.12.2020 | 00:07 »
Der Philosoph und die beiden Advokaten befinden sich währenddessen im Fort der Dschungelbewohner. Während der erste Advokat sich aufgrund seiner Beinverletzung immer noch still auf seinem Lager zu regenerieren versucht und der Philosoph die beiden Männer vor dem Eingang zu ihrem Raum durch munteres Plaudern ablenkt, zerteilt der zweite Advokat mit der erbeuteten Säge ein paar Palisaden und erzeugt so ein Loch in der Außenwand des Forts. In der Nacht warten die Minotauren bis es still geworden ist, dann verschwinden sie still und heimlich.

Der erste Advokat schiebt mit der Säge in der Hand im Dschungel ein paar Lianen zur Seite, als ihm das Werkzeug plötzlich aus der Hand gerissen und in die Luft geschleudert wird. Mit Schrecken erkennt er, dass er eine Seilfalle ausgelöst hat, die auch leicht ihn selbst in die Luft hätte schleudern können. Beunruhigt sehen sich die Flüchtlinge um und entdecken noch zwei ähnliche Fallen. Es scheint pures Glück gewesen zu sein, dass sie bisher an diesen Seilfallen vorbei gegangen sind. Sehr langsam und vorsichtig setzen sie ihren Weg fort. Der zweite Advokat meint: „Lasst uns in die Stadt zurückkehren. Mir reicht es hier im Dschungel!“ Seine beiden Gefährten nicken.

Bei Tagesanbruch treffen die drei Minotauren einen alten Bekannten. Am Wegesrand sitzt die goldene Schildkröte und schaut sie unverwandt an. Der Philosoph versucht es mit einer Unterhaltung, aber auch diesmal schweigt das Tier. Dafür deutet es aber mit seinem Kopf in eine Richtung. Da die Minotauren sowieso jegliche Orientierung verloren haben, beschließen sie in dieser Richtung weiter zu laufen. Die Schildkröte begleitet sie diesmal nicht.

Am späten Vormittag erreichen die Minotauren den Rand des Dschungels und sehen nicht weit entfernt eine gewaltige Stadt. „Dégringolade!“, sagt der zweite Advokat. „Wir sind wieder zuhause. Nach unserem Abschied sollte ich mir aber vielleicht eine andere Arbeit suchen. Ich nehme an, dass ich in der Seide nicht mehr allzu gern gesehen bin.“ Die beiden anderen Minotauren nicken. Der zweite Advokat legt seinen beiden Reisegefährten seine Arme auf die Schultern und sagt: „Wir sind glücklich zurück! Als Ausdruck meiner Freude will ich euch Namen geben. Du, Philosoph, sollst von nun an Lokapriya, „von allen geliebt“, heißen und du, Advokat, dich nenne ich Saibhang, der „Unsterbliche“. Mögen euch eure Namen eine glückliche Zukunft einbringen!“ Dankbar senken der Philosoph und der erste Advokat ihre Köpfe und gehen auf ein nahes Stadttor zu. Am Tor müssen sie sich ein paar unangenehme Fragen gefallen lassen. Weil sie aus dem Wald kommen, wollen die Wachen wissen, ob sie den Ruf des Dschungels gehört hätten. Lokapriya richtet aber ein paar freundliche, wenig aussagekräftigen Worte an sie und schon bald können sie passieren. Eine der Torwachen empfiehlt ihnen der Beinverletzung Saibhangs wegen den Heiler Oshokan aufzusuchen. Der Mann wohne am kleinen Platz ein paar Häuserblocks voraus.

Die drei Minotauren erfahren, dass sie sich im Viertel Lhleshrys befinden. Keiner von ihnen war jemals hier. Der Philosoph Lokapriya wundert sich darüber, dass hier an vielen Häusern, Fenstern, sogar an einigen Bäumen Amulette hängen. Die Bewohner machen einen relativ offenen und freundlichen Eindruck. Schon bald erreichen die drei Minotauren das Haus des Heilers Oshokan. Lokapriya greift in seinen Beutel, zahlt ein paar Samenkörner und der Heiler beginnt mit seiner Behandlung. Am späten Nachmittag fragt der zweite Advokat Oshokan, ob er eine gute Herberge für drei Minotauren kenne. Oshokan meint, sie sollten ins Viertel Chabua gehen. Dort gebe es eine Taverne namens Meerblick, die auch Minotauren Zimmer vermietet. Die drei Minotauren machen sich auf den Weg.

Kurz nach Sonnenuntergang erreichen sie Chabua, finden nach einiger Zeit auch die besagte Taverne. Für die Übernachtung und eine warme Mahlzeit gibt der Philosoph Lokapriya seine letzten Samenkörner aus. Die drei Minotauren sind jetzt mittellos und machen Pläne, wie es weitergehen könnte. Nach einigen Überlegungen beschließen sie, am nächsten Morgen dem Turm der Helden und dessen Wärter Gerdatosa einen Besuch abzustatten. Vielleicht ist das ein Ort, an dem der erste Advokaten Saibhang eine Weile unterkommen kann. Lokapriya will währenddessen mit dem zweiten Advokaten nach Rhomoon zur Seide weiterziehen, wo er der Dame Halifa noch eine Botschaft zu überbringen hat. Der zweite Advokat versucht auf diesem Weg seinen Schutzbefohlenen Mujeeb Gashkari wiederzufinden.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #62 am: 15.12.2020 | 00:10 »
Am Morgen des nächsten Tages setzen sich der Anführer und die beiden Soldaten in das Boot des Fischers und fahren auf dem Vadhm hinab bis zu der Stelle in Kostalush, an der sie den Riesenwels gefangen haben. Sie ziehen das Boot an Land und begeben sich zu dem Haus, in dem die vier jugendlichen Minotauren arbeiten. Zu ihrer Überraschung werden sie nicht nur erwartet, es wurden bereits Vorbereitungen getroffen. Der Riesenwels liegt auf einer alten Holztür, drapiert mit bunten Bändern und Kräutern, der Sänger hat ein attraktives Kostüm angezogen, die drei Holzsammler schicken sich an, die Tür mit dem Riesenwels in der Art einer Zeremonie zum Schulhaus zu tragen. So kommt es, dass der Unterricht von Meister Zonara auch an diesem Tag unterbrochen wird. Mit offenen Mündern starren Lehrer und Schüler die Prozession an. Der Sänger lässt ein Festlied erklingen und klimpert mit den Fingerzymbeln, die Holzsammler setzen würdevoll die Holztür auf dem Boden des Klassenzimmers ab und stehen anschließend zu beiden Seiten Spalier. Es ist der Moment, in dem der Anführer tief in seiner Brust ein ihm bisher unbekanntes Gefühl bemerkt: er ist stolz auf diese vier jungen Brüder, die den verweichlichten Söhnen der Menschen hier zeigen, dass auch sie zu eindrucksvollen Auftritten in der Lage sind.

Als sich die Aufregung gelegt hat, fragt Meister Zonara seinen Schüler: „Bist du zufrieden mit deinem Jadestein, Gonapati?“ Als Gonapati nickt fährt Meister Zonara fort: „Dann schuldest du ihnen jetzt einen Backstein! Geh mit den Rindern in die Schriftensammlung und unterstütze sie bei ihren Bemühungen. Du aber, Unnat, holst die beiden alten Weiber von nebenan, sie sollen ein Festessen zubereiten. Und du, Ajit, läufst zum Tierpräparator Yugurthen, er möge den Kopf des Fisches zur Zierde unseres Unterrichtsraumes auf einem Holzbrett befestigen und über den Eingang hängen. Bewegt euch!“

Während der kleinen Feier in der Schule von Meister Zonara durchstöbern der Anführer, die beiden Soldaten und Mujeeb mit Gonapati den Keller des Gebäudes. Die vier jungen Minotauren haben ein paar Brosamen abbekommen und sich damit auf die Straße zurückgezogen. Im Keller finden sich zur Enttäuschung der Minotauren keine Schriftstücke, die die alte Lyrik von Dégringolade erklären. Immerhin findet Gonapati aber ein paar Verse, die denen aus der Gartenhütte des Porfirio Empyreus erstaunlich ähneln. Er liest:

"Wie ein Blatt gib sich der Falter
und fliegt doch davon!
Wie handeln?
Sei du."

„Wieder vier Verse!“, sagt der erste Soldat. „Am Anfang eine Erklärung, dann eine Frage, schließlich ein kurzer Schlussvers.“ Der zweite Soldat meint: „Es sind irgendwelche Ratschläge. Die Verse aus dem Gartenhaus rufen zur Geduld auf, diese hier wollen, dass du ehrlich zu dir selbst stehst.“ „Ja“, meint der Anführer. „Das ist interessant, aber was wir nun damit anstellen sollen, ist mir noch nicht ganz klar.“ Mujeeb sagt: „Darüber wissen wir noch zu wenig. Denkt dran: die ersten Verse rufen zur Geduld auf!“ Seufzend bittet der Anführer Gonapati die Verse für ihn zu kopieren. Gonapati tut es, der Anführer steckt das Schriftstück ein, dann verabschieden sich die Gefährten von Meister Zonara und seinen Schülern.

Auf der Straße erwarten sie vier jubelnde junge Minotauren. Als sie begreifen, dass der Zeitpunkt des Abschieds gekommen ist, verstummen sie aber und blicken traurig zu Boden. Der Sänger sagt: „Das war großartig, Flussgesegneter! Wenn du uns sagst, wo sich dein Heim befindet, haben wir vielleicht die Gelegenheit dir irgendwann einmal einen Gegenbesuch abzustatten. In jedem Fall werden wir dich und deine Freunde nie vergessen und für immer in unseren Herzen bewahren! Lebt wohl, Freunde! Lebe wohl, Flussgesegneter!“ Der Anführer beschreibt den vier jungen Minotauren, wo seine Fischerhütte steht, dann macht er sich mit den beiden Soldaten an die harte Arbeit, das Fischerboot wieder den Fluss hinaufzuziehen. Mujeeb Gashkari trottet neben ihnen her. Er hat beschlossen ein oder zwei Nächte beim Anführer zu übernachten.
« Letzte Änderung: 15.12.2020 | 01:06 von Chiarina »
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #63 am: 15.12.2020 | 00:11 »
Am selben Tag brechen der Philosoph Lokapriya, der erste Advokat Saibhang und der zweite Advokat von der Taverne Meerblick in Chabua aus in Richtung Turm der Helden auf. Gegen Mittag erreichen sie ihr Ziel. Lokapriya grüßt Gerdatosa, den Wächter des Turms, der ihn überrascht anschaut. Lokapriyas Haltung erscheint ihm vornehmer als zuvor, irgendeine Wandlung scheint der Minotaur durchlaufen zu haben. Dennoch ist Gerdatosa ein wenig enttäuscht. Er hatte gehofft, Lokapriya könne ihm von Halifas Antwort auf seine letzte Botschaft berichten. Nun muss er erfahren, dass Halifa diese Botschaft noch gar nicht erhalten hat! Lokapriya verspricht ihm, seinen Weg zur Seide mit dem zweiten Advokaten sofort fortzusetzen. Er bitte Gerdatosa nur um einen Ort, an dem Saibhang Unterschlupf finden könne. Gerdatosa zeigt sich bereit, den Minotauren eine Weile im Werkzeugschuppen unterzubringen. Lokapriya dankt dem Turmwächter und setzt seinen Weg mit dem zweiten Advokaten fort.

Am frühen Abend erreichen die beiden Minotauren die Seide und klopfen an die Tür. Ihnen öffnet eine Bordellwache, mit der sie bisher noch keinen näheren Kontakt hatten. Der Philosoph Lokapriya sagt: „Ich bin der Bote und habe der Dame im Zimmer hinten links einen Brief zu überbringen.“ Der Minotaur an der Eingangstür antwortet: „Weiß sie, dass du kommst? Du musst entschuldigen, ich war bisher als Dachwache eingesetzt und kenne mich mit dem Kommen und Gehen im Haus nicht gut aus.“ Lokapriya sagt: „Sie erwartet mich sicherlich. Sag´ aber mal: Wo ist eigentlich Ashtavede?“ Der Minotaur am Eingang antwortet: „Er ist schon einen ganzen Tag nicht mehr gesehen worden. Niemand weiß, wo er steckt. Es heißt, er sei bei irgendwelchen verbrecherischen Umtrieben erwischt worden und habe untertauchen müssen!“ Lokapriya erschrickt, sagt aber nichts. Dann geht er mit dem zweiten Advokaten zum Zimmer Halifas. Ein paar Meter davor müssen die beiden Minotauren beobachten, wie ein aufgebrachter Kanta Planudes aus Halifas Zimmer herausstürmt und mit glühendem Blick dem Ausgang zusteuert. Lokapriya und der zweite Advokat eilen ins Zimmer Halifas.

Halifa ist sichtlich am Ende und wirft den beiden Minotauren einen hilflosen Blick zu. „Was ist los?“, fragt der Philosoph Lokapriya. Halifa erzählt: „Kanta Planudes musste erleben, dass ihn Masumi nebenan nicht mehr empfängt. Da hat er stattdessen mich erwählt und aus Rache hier in meinem Raum eine große Szene gemacht, die Masumi natürlich mit anhören musste. Sonst gelingt es mir in solchen Fällen oft, die Wogen zu glätten und die Freier mit einem guten Gefühl zu entlassen. Gegen Kanta Planudes Hass war ich allerdings machtlos. Für heute habe ich genug, ich kann nicht mehr.“ Lokapriya versucht Halifa zu trösten und ihr Mut zu machen, aber es gelingt ihm nicht ganz. Daher kommt er auf Gerdatosas Botschaft zu sprechen: „Vielleicht gibt es eine Möglichkeit dein Leben zu ändern! Der Wächter vom Turm der Helden bietet dir ein Turmzimmer an, ist das nichts?“ Halifa überlegt und fragt: „Was war das noch für eine Geschichte mit den Turmbewohnern und den Geistern?“ Lokapriya sagt: „Der Turmwächter behauptet, die Geister der Verstorbenen würden sich die Turmbewohner genau anschauen. Diejenigen, die sie für würdig genug erachten, machten sie nach ihrem Tod zu einem der ihren und verliehen ihnen damit in gewisser Weise eine Art Unsterblichkeit. Ich glaube, die Vorstellung, ihr könntet Unsterblichkeit erlangen, hat dem Turmwächter sehr gefallen.“ Halifa runzelt mit der Stirn und sagt: „Die Geister würden mich nie auswählen! Was habe ich schon für eine Würde!“ Lokapriya sagt: „Vielleicht fiele es euch leichter, Würde zu gewinnen, wenn ihr an diesem Ort hier nicht mehr arbeiten müsstet!“ Halifa sagt daraufhin: „Ich muss darüber nachdenken. Das geht nicht so von einem Tag auf den anderen… aber wer weiß? Vielleicht mache ich mich demnächst auf den Weg nach Lehekesh. Du hast aus einem bitteren Abend einen freundlichen gemacht, Rind! Ich will dir dafür etwas schenken.“ Mit diesen Worten drückt Halifa Lokapriya drei Räucherstäbchen in die Hand. Sie erklärt: „Sie riechen nach Jasmin. Das ist ein guter Duft. Er stimmt die Anwesenden liebevoll. Wenn du sie abends verbrennst sorgen sie außerdem dafür, dass die Ahnen über deinen Schlaf wachen.“ Lokapriya wehrt ab: „Das kann ich unmöglich annehmen, werte Dame!“ Halifa aber ist sich sicher: „Du hast sie dir verdient!“ Der zweite Advokat räuspert sich und fragt: „Werte Dame, ist es wahr, was man sich über Ashtavede erzählt? Er ist untergetaucht?“ Halifas Gesicht nimmt wieder besorgte Züge an. Sie sagt: „Ja, er ist verschwunden, genau wie diese andere Wache. Niemand weiß, was in ihn gefahren ist und ob er irgendwann zurückkommt. Vorläufig hat Haygaram Ooryphas eine seiner Wachen zu seinem Stellvertreter am Eingang ernannt.“ „Welche Wache ist denn noch verschwunden?“, will der zweite Advokat wissen. „Dieser Minotaur, der erst seit kurzem hier arbeitete. Zuerst hieß es, er habe Chaman-Gul, dem Koch, eine Hand abgeschlagen. Dann aber behauptete ein Freier, er habe beobachtet, wie Ashtavede mit dem Fischer, der immer die Nachtfische bringt, aus dem Vorratskeller Flussdelphine geholt und wieder zurück in den Fluss geworfen hat. Da haben sich ein paar Leute gefragt, ob es da eine Verbindung gegeben haben könnte: Chaman-Gul, der verbrecherisch Flussdelphine im Vorratskeller einlagert und diese Wache, die vielleicht genau darüber mit ihm in Streit geraten sein könnte und ihm gezeigt hat, wie es derartigen Verbrechern ergeht! Mitten in dieser ganzen Erregung ist dann auch noch Haygaram Ooryphas aufgetaucht, der vielleicht etwas zu schnell behauptete, diese Wache habe den Koch zur Rechenschaft gezogen, eine Schande, dass er daraufhin getürmt sei!“ „Soso“, antwortet daraufhin Lokapriya. „Ich glaube, ich habe eine weitere Botschaft zu überbringen!“
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #64 am: 15.12.2020 | 00:12 »
Vor der Seide verabschiedet sich der zweite Advokat vom Philosophen Lokapriya. Während Lokapriya noch in derselben Nacht den Rückweg zum Turm der Helden antreten will, um dem ersten Advokaten Saibhang zu erzählen, dass sich die öffentliche Meinung über seine Taten in der Seide ganz unerwartet entwickelt hat, will der zweite Advokat versuchen, die letzte Fähre über den Fluss zu bekommen. Er hat für diese Nacht kein Dach über dem Kopf und wird versuchen beim Fischer zu übernachten.

An der Fischerhütte angelangt muss er feststellen, dass darin bereits beengte Zustände herrschen. Dann aber erkennt er, dass es Mujeeb ist, der da neben dem Fischer liegt und laut schnarcht. Vor lauter Freude rüttelt er ihn wach: „Mujeeb! Was für eine Freude dich hier wiederzutreffen! Was ist mit dir geschehen? Du hast eine Menge Schrammen im Gesicht! Na, jetzt bin ich jedenfalls wieder für dich da! Ich habe dir einiges zu erzählen!“
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #65 am: 15.12.2020 | 00:12 »
Beim ersten Morgengrauen erreicht der Philosoph Lokapriya den Turm der Helden und schleicht sich stöhnend in den daneben befindlichen Werkzeugschuppen. Er ist am vergangenen Tag insgesamt fast 14 Stunden straff marschiert. Seine Füße brennen, er ist am Ende seiner Kraft und lässt sich einfach zu Boden fallen. Der erste Advokat Saibhang erwacht und fragt: „Wer ist da? Lokapriya?“ Lokapriya stößt mit letzter Kraft hervor: „Geh´ zurück zur Seide! Du bist ein Held.“ Dann fällt er in einen tiefen Schlaf.
« Letzte Änderung: 15.12.2020 | 06:02 von Chiarina »
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #66 am: 15.12.2020 | 00:15 »
In einem Haus für Bedienstete in Kostalush kommen einige Minotauren zum Abendessen zusammen und erzählen sich von den Ereignissen des Tages.

Die Wache mit den eingefallenen Augen: Ihr habt euch wie Menschen verhalten? Wie soll ich das verstehen?

Der erste Holzsammler: Der Flussgesegnete hat einen riesigen Fisch gefangen, der war vier Meter lang!

Der zweite Holzsammler: Viereinhalb Meter lang!

Der Sänger: Fünf Meter lang!

Die Wache mit dem Brandzeichen auf der Stirn: Schön, fünf Meter also, und dann?

Der Sänger: Dann haben wir den Fisch in einer Prozession zur Schule von Meister Zonara getragen… aber mit allem, was dazu gehört! Fast so üppig wie zum Fest, wenn die kleinen Schildkröten schlüpfen!

Die Wache mit den eingefallenen Augen: Singen, tanzen, bunte Kleider?

Der erste Holzsammler: Oh ja! Und wir waren die Parade!

Die Wache mit dem Brandzeichen auf der Stirn: Na, das kann ja nicht allzu eindrucksvoll gewesen sein!

Der zweite Holzsammler: Dann erzähle etwas Aufregenderes, du alter Nörgler!

Die Wache mit dem Brandzeichen auf der Stirn: Ich war heute in Lehekesh. Irgendein Minotaur ist wie aus dem Nichts aufgetaucht, hat einen Unterschlupf am Turm der Helden gefunden und will sich jetzt zum Kämpfer ausbilden lassen. Das Rind muss nicht ganz dicht sein. Man sagt, es habe ein lahmes Bein!

Der erste Holzsammler: Warum will es dann Kämpfer werden?

Die Wache mit den eingefallenen Augen: Das versteht ihr nicht. Der Bruder will verhindern, dass es nochmal passiert.

Der zweite Holzsammler: War es so eine Art Held?

Die Wache mit dem Brandzeichen auf der Stirn: Das kann gut sein. Er war mit zwei anderen Brüdern quer durch die ganze Stadt unterwegs. Es heißt, sie seien an mehreren Orten gleichzeitig gewesen!

Der Sänger: Der Flussgesegnete war auch viel unterwegs!

Die Wache mit dem Brandzeichen auf der Stirn: Ein Begleiter des Lahmen soll auch ein Bote gewesen sein. Solche Leute kommen ohnehin viel herum. Der dritte aber gehörte zu der schweigsamen Sorte. Scheinbar hat er irgendetwas Tragisches erlebt. Er scheint auf der Suche nach einem verlorengegangenen Freund zu sein. Insgesamt haben die drei wohl einen recht heruntergekommenen Eindruck gemacht.

Der erste Holzsammler: So, als kämen sie aus dem Dschungel, was?

Die Wache mit dem Brandzeichen auf der Stirn: So ähnlich.

Der zweite Holzsammler: Haben sie die Stille gebrochen? Das wäre doch mal etwas!

Die Wache mit den eingefallenen Augen: Das kommt immer mal wieder vor.

Die Wache mit dem Brandzeichen auf der Stirn: Ja, aber es gibt keiner zu.

Eine Weile essen alle schweigend.

Die Wache mit den eingefallenen Augen: Und euer Fischer? Was hat er mit dem Riesenfisch gemacht?

Der Sänger: Er hat ihn gegen einen Text getauscht.

Die Wache mit dem Brandzeichen auf der Stirn: Wie bitte?

Der erste Holzsammler: Eigentlich war es gar kein Text, es war ein Backstein.

Die Wache mit den eingefallenen Augen: Das macht die Sache auch nicht besser! Die Geschichte von eurem Flussgesegneten scheint reichlich kurz zu sein.

Der zweite Holzsammler: Was der einmal angelt, kann er auch noch ein zweites Mal angeln!

Die Wache mit dem Brandzeichen auf der Stirn: Da braucht er aber eine Menge Glück!

Die Wache mit den eingefallenen Augen: Nicht nur, er braucht auch Können!

Der Sänger: Nein, er muss einfach nur der Flussgesegnete sein!
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #67 am: 10.01.2021 | 20:59 »
7

Sanft fallen Blätter ins stille Nass.
Die Zukunft ist gesäumt von einigen Bäumen,
ist ein rechteckiges Becken,
in das sich ein Wasserfall ergießt.
Steinerne Tiger und Bewaffnete schützen den Ort.
Blicke der Betrachter
brennen Schwimmern
ein Mal auf die Stirn.
Sanft fallen Blätter ins stille Nass.

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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #68 am: 10.01.2021 | 21:02 »
Ich setze meinen Mitspielern Ernst Jandls Gedicht „Indianisch“ vor und fordere sie auf, die Verse mit mir zu rezitieren.

ox ox ox
ox ox ox
ox ox ox
ox ox ox
ox ya ox
ox ox ox
ya ox ya
ox ox ya
ya ox ox
ox ya ox
ya ya ox
ox ya ya
ya ya ya
ya ox ya
ya ya ya
ya ya ya
ya ya ya
ya ya ya

Aufgrund der unterschiedlichen Übertragungsgeschwindigkeiten unserer Internetverbindung ist synchrones Sprechen nicht möglich.

Wir klingen wie eine Rinderherde…
…wie eine Minotaurenherde
…wie ein paar Ja-sagende Ochsen.

Unsere Vision beginnt.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #69 am: 10.01.2021 | 21:03 »
Am nächsten Morgen macht Mujeeb in der Fischerhütte des Anführers seine Ansprüche geltend: „Ich habe euch nach Kostalush zu meiner alten Schule geführt, jetzt helft ihr mir dabei, Bienen einzufangen! So war es abgemacht.“ Der Anführer und der zweite Advokat nicken. Als sie die Hütte verlassen befinden sich die beiden Soldaten höchstens 20 Schritt entfernt bei einem kleinen Gespräch im Schneckengarten. Der Anführer ruft ihnen zu: „Der Orakelmann ist ausgeraubt worden und wir besorgen ihm jetzt neue Bienen. Habt ihr Lust mitzukommen?“ Der zweite Soldat nickt und sagt: „Lust schon, aber wir müssen mal sehen, ob wir freibekommen. Porfirio hat für den Abend eine Gesellschaft eingeladen.“ Die beiden Soldaten gehen los und bitten den Hausherrn um etwas Freizeit. Porfirio entlässt sie, verlangt aber, dass sie nach dem Nachmittagsmonsun wieder zuhause sind, um sich bei den Vorbereitungen für den Abend nützlich zu machen. Als die Soldaten Porfirio seinen Dank aussprechen und zum Anführer, dem zweiten Advokaten und Mujeeb Gashkari wollen, werden sie noch von Porfirios Gattin Saaroni abgefangen. Sie sagt: „Ich habe gehört, ihr seid freigestellt. Dann geht doch bei der Seide vorbei und informiert den Musiker Anâzhar Shahin, dass in unserem Haus heute Abend eine Gesellschaft stattfindet. Ich würde mich freuen, zu diesem Anlass die Künste des Mannes bewundern zu können.“ Die beiden Soldaten nicken und versprechen, dass sie sich darum kümmern werden. Wenig später fahren sie im Fischerboot des Anführers mit den beiden anderen Minotauren und dem Orakelmann über den ewigen Fluss.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #70 am: 10.01.2021 | 21:04 »
Eine Weile später erreichen die Minotauren und Mujeeb Gashkori den Bambuswald von Umashangar Psellus am Rande von Rhomoon. Sofort erkennt der zweite Advokat, dass sich hier etwas verändert hat. Am Rand der Pflanzung ist ein Schuppen erbaut worden, vor dem einige großen Behälter stehen. Männer und Minotauren laufen mit Gießkannen hin und her, scheinen aus den Behältern eine Flüssigkeit zu entnehmen und die Pflanzen damit zu düngen. In der Luft hängt ein strenger Geruch. „He, Pratiksatra!“, ruft der zweite Advokat dem auf dem Gelände arbeitenden Vorarbeiter zu. Der Mann nähert sich den Besuchern und grüßt freundlich. „Was macht ihr denn da?“, will der zweite Advokat wissen. Pratiksatra erzählt, dass Umashangar Psellus entschieden hat, seinen Bambuswald mit dem Urin von Urwigcas zu düngen. Drei dieser gigantischen Insekten stünden daher jetzt dort in dem Schuppen. „Diese Biester sind doch gefährliche Waffen, die im Immerkrieg als brutale Reittiere zum Einsatz kommen!“, ruft der zweite Advokat. „Kommt ihr denn mit denen zurecht?“ Pratiksatra erzählt, dass es bisher keine größeren Zwischenfälle gegeben habe. Besonders viel Erfahrung mit den Tieren hat hier aber niemand, und ein wenig unter Anspannung stehe er deshalb durchaus. Immerhin aber soll der Urin der Urwigcas schädliche Insekten vertreiben. Der zweite Advokat wird etwas unruhig und meint: „Ich habe zum Bienensammeln heute ein paar Freunde mitgebracht. Ihr habt doch nichts dagegen?“ Pratiksatra schüttelt wohlwollend mit dem Kopf und behauptet, solange Mujeeb für ihn hin und wieder den Schlund des Schicksals befrage, könne der zweite Advokat gern im Bambuswald sein Glück versuchen. Der zweite Advokat dankt ihm, dann steigen die Minotauren über den Zaun und streifen in Zweiergruppen mit je einer Blechbüchse, in denen die gefangenen Bienen aufbewahrt werden, durch das Gelände. Mujeeb Gashkari bleibt etwas desorientiert am Rand der Pflanzung zurück und schaut seinem Assistenten milde lächelnd hinterher. Nach einer Weile kommen die vier Minotauren mit enttäuschten Gesichtern zurück. Der zweite Advokat schaut sich die Beute an: „Drei Bienen! Das ist eindeutig zu wenig, damit kommen wir nicht weit. Ich hatte auch den Eindruck, das Nest ist verlassen. Vermutlich mögen die Bienen diesen ekelhaften Geruch nicht – ich kann es ihnen nicht verdenken – und sind umgezogen!“

Es folgt eine kleine Diskussion. Der zweite Advokat würde gern weitläufig das Gebiet durchstreifen und Ausschau nach einem Ort halten, an dem sich die Bienen jetzt befinden. Die beiden Soldaten drängen aber auf einen baldigen Heimweg. Sie müssen nach dem Monsun zurück im Hause Porfirio Empyreus´ sein und sollen sogar vorher noch Anâzhar Shahin in der Seide zu dessen Abendgesellschaft einladen. Die Gruppe einigt sich schließlich auf einen kurzen Gang durch das umliegende Gelände, danach wollen sich zumindest die Soldaten auf den Rückweg machen.

Mujeeb Gashkari und der zweite Advokat haben Glück. Ein paar hundert Schritt vom Bambuswald entfernt steht ein altes, unbewohntes und halbzerfallenes Haus. Der zweite Advokat erkennt sofort, dass dort ein paar Bienen unterwegs sind und als die Gruppe genauer nachschaut, sehen sie, wie das Völkchen bereits an einem Fenstersturz mit dem Bau eines neuen Nestes begonnen hat. Geschickt schwenkt der zweite Advokat mit seiner Blechbüchse im schwirrenden Schwarm herum, blickt kurz mit zufriedener Miene in den Behälter und verschließt ihn dann schnell. „Das dürfte für eine Weile reichen. Wir können zurück!“, sagt er. Der Anführer ruft aber plötzlich: „Schaut euch das an. Ich habe hier etwas entdeckt!“ Seine Gefährten wenden sich ihm zu und erblicken im Gras einen Steinblock, der wahrscheinlich ursprünglich als Sturz der inzwischen verschütteten Haustür diente. In den Stein ist ein altes Epigramm graviert, das der Anführer seinen Gefährten halblaut vor sich hersagt:

Seht die Delphine im Fluss, deren heitere Sinne beglücken!
Wie auch die Kunst sind sie Traum, flüchtig und heimisch im Jenseits.


Keiner der Anwesenden kann sich auf diese Worte einen Reim machen. Daher begeben sie sich schon bald auf den Rückweg.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #71 am: 10.01.2021 | 21:05 »
Zurück am ewigen Fluss nähern sich die Bienenfänger zunächst der Seide. Noch bevor sie das Etablissement erreichen zischt ihnen aber hinter einer Hecke jemand zu. Die Minotauren schauen sich um und erblicken den ersten Advokaten Saibhang, der ihnen gegenüber im Flüsterton eine Bitte äußert: „Ihr wollt zur Seide, nicht wahr? Seid so gut, und erkundigt euch doch in meinem Interesse nach der Stimmung im Haus. Ich überlege, ob ich in das Haus zurückkehre, bin mir aufgrund meiner Auseinandersetzung mit dem Koch Chaman-Gul aber nicht sicher, ob ich dort derzeit gern gesehen bin. Vielleicht bekommt ihr heraus, mit was für Reaktionen zu rechnen ist, wenn ich jetzt dort auftauchen würde.“ Der zweite Advokat nickt ihm zu und verspricht, sich danach zu erkundigen.

Auf sein Klopfen öffnet zunächst der neue Minotaur, der vorläufig die Aufgaben des ehemaligen Bordelliers Ashtavede übernommen hat. Ohne große Umstände spricht der zweite Advokat den Minotauren auf die vergangenen Ereignisse und den ersten Advokaten Saibhang an. Der Minotaur am Eingang runzelt mit der Stirn und sagt: „Wenn der Bruder zurückkommt, wird es hier sicherlich etwas unruhig. Es gibt einige Bewohner und Gäste, die wohlwollend über seine Taten denken. Sie glauben, dass er durch seinen Angriff auf den Koch die Flussdelphine befreien wollte. Es gibt aber auch andere, die meinen mit dem Abhacken der Hand des Kochs sei er zu weit gegangen. Der Besitzer der Seide, Haigaram Ooryphas, hat sich mehr oder weniger gezwungenermaßen auf die Seite des weggelaufenen Minotauren gestellt. Was er wirklich über die Angelegenheit denkt, ist nicht so leicht zu erkennen. Wenn der Bruder zurückkommt, sollte er vielleicht ein wenig Aufmerksamkeit erregen. Je mehr Leute davon erfahren, dass der Koch im Keller Flussdelphine grausam tötete, desto mehr werden sich auf seine Seite stellen. Dann wird auch Haygaram Ooryphas ihn nicht mehr so ohne weitere als Verbrecher behandeln können.“ Der zweite Advokat nickt.

Dann bittet der zweite Soldat um Einlass, weil er mit dem Musiker Anâzhar Shahin ein Gespräch führen will. Der Minotaur am Eingang hat nichts dagegen und erklärt den Besuchern, dass der Mann im Dienstbotengebäude wohne und sich gegenwärtig wahrscheinlich auch dort aufhalte. Die vier Minotauren und Mujeeb Gashkari bedanken sich und laufen auf das kleine Haus rechts neben der Seide zu. Im Inneren durchschreiten sie zunächst das Foyer und gelangen dann in den Innenhof, wo ein weiterer Minotaur gerade einige Ballen feuchtes Stroh in einer Ecke deponiert. Der zweite Soldat fragt ihn nach dem Zimmer des Musikers Anâzhar Shahin und bekommt den Weg gewiesen. Als die fünf Besucher darauf zu gehen, sind bereits die Klänge eines Zupfinstrumentes zu hören.

Auf das Klopfen des zweiten Soldaten bittet Anâzhar Shahin die vier Minotauren und Mujeeb einzutreten. Die Soldaten erzählen ihm, dass ihre Herrin Saaroni Empyreus ihn für den Abend gern engagiert hätte, um auf einer Gesellschaft sein Können unter Beweis zu stellen. Der Musiker ist erfreut und sagt zu, worauf die vier Minotauren die Seide verlassen.

Vor dem Gebäude treffen sie erneut mit dem Saibhang, dem ersten Advokaten zusammen. Der zweite Advokat berichtet ihm, was er vom Minotauren am Eingang erfahren hat. Nachdenklich nickt Saibhang und bedankt sich für die Auskunft. Da bemerkt der Anführer, dass zu den Füßen Saibhangs ein auseinandergebrochener Glückskeks im Dreck liegt. Saibhang bemerkt den Blick des Anführers und versucht mit seinen Füßen unauffällig die Kekshälften mit ein wenig Erde zu bedecken. Der Anführer fragt ihn: „Hattest du keinen Hunger?“ Saibhang antwortet: „Nein, ich wollte nur den Ratschlag lesen.“ „Und was stand dort?“, fragt der Anführer weiter. Als Saibhang sich mit der Antwort etwas ziert, erzählt ihm der Anführer, dass er erst kürzlich auch einen Glückskeks mit einer seltsamen Nachricht bekommen hat. Daraufhin wird Saibhang etwas gesprächiger. Er erzählt, auf dem Weg vom Turm der Helden zur Seide sei ihm der untergetauchte Ashtavede begegnet und habe ihm den Glückskeks zugesteckt. Der Zettel in seinem Inneren sei eine Einladung zu einer seltsamen Versammlung gewesen. „Ja“, sagt der Anführer, „Wenn der Rauch aus dem Haus der Minotauren neben der Seide schwarz ist, findet in der darauffolgenden Nacht eine Chorprobe statt.“ Saibhang nickt und fragt: „Hast du den Glückskeks auch von Ashtavede bekommen?“ Der Anführer bestätigt das. Dann sagt der zweite Soldat: „Schwarzer Rauch? Was für ein Rauch entsteht, wenn jemand feuchtes Stroh verbrennt?“ Der erste Soldat, der zweite Advokat und der Anführer denken an den Innenhof im Dienstbotenhaus der Seide. Dann fragt der Anführer Saibhang: „Wirst du hingehen, wenn es soweit ist?“ Saibhang sagt: „Ich denke schon.“ „Vielleicht sehen wir uns dann ja wieder“, sagt der Anführer zum Abschied. Dann fährt er mit Mujeeb und den drei anderen Minotauren zurück über den Vadhm zu seiner Fischerhütte.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #72 am: 10.01.2021 | 21:07 »
Lokapriya, der Philosoph, ist am selben Vormittag vom Turm der Helden aus zum Quell des Vertrauens aufgebrochen. Nachdem seine Kundin Gouliza aus der Gewalt der beiden Schurken, die sie als Geliebte eines Minotauren angeprangert und durch die Straße getrieben hatten, gerettet wurde, haben ihn deren Sorgen um ihren Liebhaber nachdenklich gemacht. Als Lokapriya dann Gouliza bei Nagur Mulukutla im „Friedlichen Mungo“ abgeliefert hatte, nahm er sich vor, den Minotauren bei der ersten Gelegenheit zu besuchen, ihn über das Schicksal seiner Geliebten zu informieren und vor ähnlichen Schurken zu warnen. Nun schien eine Gelegenheit dafür gekommen zu sein. Von Gouloza weiß Lokapriya, dass der Minotaur Wächter am Quell des Vertrauens ist. Leider liegt dieser Ort in Pannashoo, einem Randgebiet Dégringolades. Für den Weg dorthin braucht Lokapriya den gesamten Vormittag.

Mittags kommt der Quell des Vertrauens in Sicht. Er besteht aus einem von einigen Bäumen gesäumten, rechteckigen Wasserbecken, das an einem steilen Hang liegt und in das sich ein kleiner Wasserfall ergießt. Zum Becken führen ein paar Marmorstufen hinab, die von zwei steinernen Tigern gesäumt sind. Im Wasser schwimmen ein paar Blätter. Neben dem Becken befindet sich ein kleines Wachhäuschen. Abgesehen vom leisen Rauschen des Wasserfalls ist es still.

Lokapriya, der Philosoph, wendet sich dem Wachhäuschen zu und klopft, aber statt einer Antwort hört er nur ein gequältes Geräusch. Er öffnet die Tür und sieht in der einfachen Wachstube einen Minotauren auf dem Boden liegen. Sein Hinterkopf ist blutverkrustet und an seinem Oberarm sind zwei seltsame Beulen zu sehen. Lokapriya untersucht den Minotauren genauer. Die Beulen im Oberarm sind Stierzecken, eineinhalb daumendicke Insekten, die auch Minotauren gefährlich werden können. Sie haben sich bereits tief in den Oberarm des Minotauren hineingefressen. Lokapriya versucht mit dem Minotauren zu sprechen und erfährt von ihm unter Stöhnen und Ächzen, dass er von ein paar Menschen überfallen worden ist. Er habe mit einem weiteren Minotauren hier Wachdienst gehabt, der aber fliehen konnte. Die Männer hätten mehrfach laut „MinotauRAUS!“ gerufen, und mit Zwillen Stierzecken verschossen. Ein Stoß von einem der Männer habe ihn gegen die Wand geschleudert. Er sei hart dagegen geschlagen und dann bewusstlos zu Boden gesunken. Lokapriya verspricht dem Minotauren Hilfe zu holen und lässt sich den Weg zum nächsten Heiler beschreiben. Der verletzte Minotaur deutet auf einen Schildkrötenpanzer, in dem sich zwei Samenkörner befinden: „Nimm sie mit!“, stößt er mühsam hervor. „Es ist der Lohn für den Arzt.“ Lokapriya nimmt die Samenkörner an sich und eilt davon.

Etwas später erreicht der Philosoph den Heiler Mousheg. Dessen Behandlungszimmer sieht ärmlich und etwas schäbig aus, aber es ist keine Zeit für die Suche nach einem besseren Arzt. Lokapriya informiert Mousheg über das Vorgefallene, dieser packt ein paar Behandlungsgeräte und Medizin zusammen, lässt sich ein Samenkorn Anzahlung aushändigen, dann folgt er Lokapriya zurück zum Quell des Vertrauens. Vor Ort muss Lokapriya mit ansehen, wie Mousheg wenig vertrauenswürdig aussehende Messer auspackt und beginnt, dem laut stöhnenden Verletzten die Stierzecken aus dem Arm zu schneiden. Besonders zartfühlend geht der Mann nicht gerade vor, denkt Lokapriya mitfühlend. Er beschließt daraufhin, mit einem der Räucherstäbchen Halifas für eine angenehme Atmosphäre zu sorgen. Wie sagte Halifa noch? Der Jasminduft stimme die Anwesenden liebevoll und sorge dafür, dass die Ahnen über den Schlaf wachen. Schaden kann es nicht, denkt Lokapriya, und entzündet eines der Stäbchen.

Während Mousheg sich noch an dem Verletzten zu schaffen macht und eine Menge Blut fließt, steigt der Rauch des Räucherstäbchens auf, verteilt sich und bildet an der Decke durchsichtige Schlangen, die sich in den Ecken winden. Eine der Schlangen scheint greifbarer zu sein. Sie besitzt eine Haube wie eine Kobra, dann wieder scheint sie Schnurrbarthaare zu entwickeln, kurz darauf scheint von ihren Schuppen ein düsteres Licht auszugehen und manchmal sieht es so aus, als wüchsen ihr sogar Beine. Während sie mit ihrer haarigen Zunge die Spinnweben in den Ecken aufleckt, wirft sie Lokapriya ein kurzes Grinsen zu. Mousheg merkt, dass sich in dem Raum irgendetwas ereignet, aber die Behandlung des Minotauren fordert so sehr seine Konzentration, dass er nicht allzu viel von dem Tier aus Rauch mitbekommt. Lokapriya beobachtet zweifelnd die Schlange, die auch ein paar kurze Geräusche von sich gibt. „Als würde sie sich lustig machen“, denkt er verdrossen.

Irgendwann ist der Rauch verflogen. Mousheg packt seine Sachen zusammen, informiert Lokapriya darüber, dass der Minotaur Ruhe und Erholung braucht und geht dann. Lokapriya ist von seinen Fähigkeiten nicht gerade beeindruckt und weist ihn deshalb lieber nicht darauf hin, dass er sich eigentlich noch ein Samenkorn mehr verdient hat. Er legt das Samenkorn zurück in den Schildkrötenpanzer und versucht dem Minotauren mit den bescheidenen Möglichkeiten des Wachhauses ein Lager zu bereiten. Der Verwundete beginnt zu fiebern und wirft sich eine Weile auf seinem Lager hin und her, am Abend aber scheint er das Schlimmste überstanden zu haben und ist sogar wieder ansprechbar. Lokapriya fragt ihn, wo er zuhause sei. Der Minotaur erzählt ihm mit schwacher Stimme, dass er ein Bett bei einem Vermittler von Arbeitern stehen hat. Der Mann hat einige Minotauren in seinen Diensten, die er an seine Kunden ausleiht. Die Wachtätigkeit am Quell des Vertrauens sei eine Arbeit, die immer mal wieder gefragt ist.

Lokapriya, der Philosoph, stemmt seinen Bruder in die Höhe, stützt ihn und schleppt ihn zu dem Arbeitsvermittler. Der Verwundete braucht ein vernünftiges Bett. Auf dem Weg dorthin berichtet der Minotaur heiser: „Du kannst mich dorthin bringen, aber wer bewacht dann das Wasser? Wenn herauskommt, dass ich dazu nicht in der Lage war, werde ich sicherlich entlassen!“ Lokapriya beruhigt den Minotauren und erzählt ihm, er werde die Wache übernehmen. Der verletzte Minotaur sagt: „Ich danke dir, Bruder! In der Wachstube ist ein Kescher, mit dem du die Blätter aus dem Becken fischen kannst… wer in dem Wasser badet, wäscht sich seine Unfähigkeit anderen zu vertrauen ab. Die Badenden gehen üblicherweise zu Fuß bis zum Wasserfall. Dann erfahren sie, was es bedeutet, jemandem zu vertrauen. Das Gefühl ist gefährlich und sittenwidrig. Daher darf niemand zum Bad in dem Becken gezwungen werden! Du musst darauf achten, wenn du dort Wache hältst!“ Lokapriya verspricht es. Dann erzählt er dem Minotauren vom Schicksal Goulizas. Der Verwundete regt sich so sehr auf, dass seine Wunde am Arm neu zu bluten beginnt. Erregt verrät er Lokapriya, dass er kurz vor seiner Ohnmacht noch hören konnte, wie seine Gegner nach dem Überfall auf die Wachstube davon gesprochen haben, nach Takaundanyi zurückzukehren. Lokapriya schaut ihn an und versucht ihn zu beruhigen. Er weiß, dass der Minotaur an Rache denkt und damit gegen die Stille verstößt. Im Moment dürfte er aber zu keinen drastischen Maßnahmen in der Lage sein. Etwas später erreichen die beiden Minotauren endlich den Arbeitsvermittler und den Gemeinschaftsschlafsaal, in dem die Arbeiter übernachten. Der verletzte Minotaur legt sich in eines der Betten und fällt sofort in einen tiefen Schlaf. Lokapriya kehrt zum Quell des Vertrauens zurück und wirft dem Wasserfall einen langen, neugierigen Blick zu. Es ist inzwischen Abend geworden und er beschließt, vor der Dunkelheit mit dem Kescher noch die Blätter aus dem Wasser zu fischen.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #73 am: 10.01.2021 | 21:07 »
Im Haus von Porfirio Empyreus laufen die Vorbereitungen für die Abendgesellschaft auf Hochtouren. Auch die Bienenfänger sind inzwischen wieder zurückgekehrt. Der erste Soldat hat bei der Inspektion des Schneckengartens beruhigt festgestellt, dass dem gemeinschaftlichen Rausch am Abend nichts entgegensteht: zwischen den Pflanzen lassen sich einige der Tierchen entdecken. Nach dem Nachmittagsmonsun kommt auch der Hausherr selbst vorbei um sich ein Bild zu machen. Er schaut versonnen in die kleinen Bewässerungskanäle und ruft dann den ersten Soldaten herbei: „Rind, schau her! Was ist das?“ Empirio zeigt auf ein kleines Fluginsekt, das zwischen den Pflanzen hin und her schwirrt. Der erste Soldat kennt den Anblick gut: „Herr, das ist eine Eintagsfliege!“ „Ah! Eine Eintagsfliege! Sie lebt nur einen Tag, nicht wahr?“, sagt Empirio nachdenklich. Er scheint sich in einer philosophischen Stimmung zu befinden und spricht noch eine ganze Weile weiter halblaut vor sich hin: „Ein kurzes Leben, und doch erfüllt es seinen Zweck! Dieses Wesen hier wird möglicherweise sein gesamtes Leben hier in meinem Schneckengarten zubringen! Ach, es weiß nichts von den Pflichten und Lasten des Alltags! Kaum hat es die Schnecken gesehen, da ist es auch schon hinüber! Vielleicht ist es ein gutes Zeichen für die Abendgesellschaft, ein paar Eintagsfliegen im Garten zu haben! Wer weiß?“ Und mit einem milden Lächeln begibt sich Porfirio wieder ins Haus. Der erste Soldat blickt ihm verwundert hinterher.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #74 am: 10.01.2021 | 21:08 »
Wenig später schaut ein Minotaur beim zweiten Soldaten vorbei: „Der Herr will dich sprechen! Beeile dich!“ Der zweite Soldat verlässt den Massageraum und eilt ins Privatgemach seines Herrn. Porfirio erzählt ihm, dass er über seinen Gesundheitszustand nachgedacht und beschlossen habe einen Arzt zu konsultieren. Der zweite Minotaur beglückwünscht seinen Herrn zu dieser Entscheidung. Dann fragt er: „Herr, was wird geschehen, wenn der Arzt euch rät, euren Schneckenkonsum aufzugeben?“ Porfirio sieht ihn erschrocken an: „Meinst du wirklich, dass es so schlimm kommt? Das kann ich mir kaum vorstellen!“ Der zweite Soldat wiegelt ab und fragt Porfirio dann, wann er den Arzt holen soll. „Nun“, sagt sein Herr, „heute Abend möchte ich jedenfalls noch einmal unbeschwert feiern. Vielleicht in einer Woche?“ Der zweite Soldat redet seinem Herrn gut zu und sagt ihm, dass er den Mann auch morgen schon holen könnte. Schließlich lässt sich Porfirio breitschlagen: „Also gut. Du gehst zu Ilin Bardanes. Der Arzt wohnt in Khostalush, in der Nähe des zentralen Platzes, hinter dem Haus von Arethas Empyreus. Sag´ ihm, er soll sich morgen mal meine Brust anschauen.“ Der Minotaur nickt. Die Abendgesellschaft wird er verpassen. Er ist nicht unglücklich darüber. Schon bald macht er sich auf den Weg und grüßt den Musiker Anâzhar Shahin, der soeben im Haus seines Herrn eintrifft.
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