Hírngar
in Storhaven
Die Zeit in Grimhaven war ein Wechselbad der Gefühle gewesen. Die Bürde, die Hírngar übernommen hatte, lastete auf ihn, nicht, weil er noch nie ein Leben genommen hatte. Bei weitem nicht, er war als Söldner der Jarnkett viel zu oft in Scharmützel verwickelt gewesen, öfter, als ihm lieb war. Es waren die Gebräuche der Wildländer, die dafür sorgten, dass diese Frau darum gebeten hatte, ihr Leben zu geben. Stoisch, ohne einen Hauch des Zögerns. Hírngar hatte in diesem Moment verstanden, dass er das Leben als etwas kostbares sah, sein Leben, Miris Leben, das Leben seiner Gefährten. Aber auch das Leben dieser Frau. Es hatte keine Not gegeben, dass diese Frau sterben sollte. Jeder, der etwas anderes denkt, ist ein Barbar!
Und doch hatte er sich innerlich gestählt, wollte ihr einen sauberen Tod schenken - sie hatte ihn verdient.
Die Tage danach vergingen wie im Flug, ein angenehmes Ein und Aus aus Gesprächen mit seinen Gefährten, Benimmübungen, Lächeln und Verbundenheit, Ausflügen mit Oktar. Hírngar traute sich endlich, öffnete sich, berichtete von seinem Lied und seiner Geschichte. Er erzählte von Miris Vers, wobei er das, was er und die Tochter Oktar Grimmes gesprochen hatten, stark verkürzte. Es war sein Gespräch mit Miri gewesen und er konnte sich viel dessen, was sie sagte, noch genau erinnern, sich ihr Lächeln vorstellen. Er wollte dies nicht teilen, aber er wollte etwas von sich teilen, Aeryn und Gylfi zeigen, dass er ihr Gefärhrte und Wegbegleiter sein wollte. Er zeigte ihnen den Armreif, sang ihnen das Lied vor und berichtete alles, was er wusste. Wie froh er war, als Gylfi schließlich fündig wurde und ein weiteres Fragment zu Tage brachte. Ich werde es Miri in Wretgard singen und dann kann sie sicherlich etwas aus diesen Versen machen! Wretgard wurde zu einem neuen Ziel, der Wunsch, loszuziehen, immer stärker. Doch das Wetter und der Winter entschieden anders. Geht es ihr gut in Wretgard? Kann sie sich mit Huld arrangieren, ihrem Leben?
Das, was Aeryn über die Reise in Erfahrung gebracht hatte, stieß ihn in einen Wirbelsturm der Gefühle. Der angedeutete Weg und seine Gefahren erzeugten Szenen des SChreckens in Hirngars Kopf, Banditen, die die Wagen überfielen, gebrochene Wagenachsen und eine frierende Miri im Schnee, die fror und hilfesuchend blickte. Ein Blick, wie auf dem Bankett. Ein Blick, wie auf ihrer Hochzeit. Als ihr neues Leben begann, dass sie hasste. Hirngar malte sich aus, wie er ihr zur Seite stünde, wie er ihre Zuneigung gewinnen würde, sie in die Arme nehmen würde und vor allem Unbill schützen könnte. So wie beim Bankett. 'Mein Retter in der Not' hatte sie mich genannt... Die gemeinsamen Stunden mit Otkar in diesen Stunden waren eine erfreuliche Ablenkung, es geschah so viel in den Tagen ihres Aufenthalts, dass die trüben Gedanken und Schreckensszenarien verdrängt wurden.
Als Hírngar schließlich den anderen hinterherschriet und auf das Geräusch der Peitsche zulief, spürte er eine Unruhe. Barbaren, sie sind nichts weiter als Barbaren. Hírngar hatte das Geräusch der Peitsche. Doch all das verschwand augenblicklich, als er das Gesicht Oktar Grimmes sah. Hírngar spürte einen Knoten, der sich in seiner Magengegend zusammenzog, das unausweichliche Gefühl, das den ganzen Körper zusammenzog, die Muskeln spannte. Miri! Was sagt der Alte?? Die Haare an seinen Armen stellten sich auf, er spürte die Kälte durch die Schweißtropfen, die sich auf seiner Haut bildeten. Panik. Angst. Miri! Das Peitschen und Wimmern des Boten wurde zu einem dumpfen Hintergrundgeräusch, Hírngar störte sich nicht mehr daran. Wut flammte auf. Auf Otkar, der seine Tochter weggegeben hatte. Auf den Boten Sote, den Unglücksraben. Tränen des Zorns und der Hilflosigkeit stiegen in Hírngars äugen, er ballte die Fäuste und sein ganzer Köper begann vor Anspannung zu zittern.
"Miri?" war alles, was er krächzen konnte.