Autor Thema: Robins Manifest: Warum ich spiele, wie ich spiele  (Gelesen 1372 mal)

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Offline Bitpicker

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Manifeste schreiben scheint Spaß zu machen, also versuche ich es auch mal; und ich verspreche, im weiteren Verlauf die Forge nicht nur nicht zu dissen, sondern nicht mal mehr zu erwähnen.

Zunächst einmal ist es vermutlich wichtig anzuführen, dass ich mittlerweile ausschließlich Spielleiter bin; diese Aufgabe beim Rollenspiel gibt mir wesentlich mehr als die des Spielers. Meine Spieler hingegen, mit denen ich durchweg sehr lange befreundet bin, die zum großen Teil das Rollenspiel durch mich kennengelernt haben und zum kleineren Teil nie mit jemand anderem gespielt haben, haben keine leiterischen Ambitionen (mit einer Ausnahme, ein Spieler leitet gelegentlich D&D-Runden, was mir nie passieren würde). Wir ergänzen uns da prima.

Ich sehe uns als Gruppe als eine Art Autoren, die zugleich aber auch Leser sind. Als SL sehe ich das Setting mit allen NSCs als meinen Spielercharakter an, den ich allerdings neutral zu führen versuche, bin also nicht selbst emotional gegen meine Spieler involviert, auch wenn es einige NSCs sind. Damit fällt mir natürlich der größere gestalterische Teil des Kuchens zu. Für mich ist das Rollenspiel eine Art schriftstellerisches Medium, das weniger statisch als andere literarische Medien ist, weil ich Co-Autoren habe, die mir ausgerechnet die Hauptprotagonisten aus der Hand nehmen. Wir erschaffen gemeinsam eine Art literarisches Werk, das allerdings durchaus weniger durch sprachliche und dramaturgische Ausgestaltung besticht als durch seinen Erlebnischarakter. Es wirkt nur vernünftig auf die Beteiligten, in der Nacherzählung verliert es an Eindruck - das sehe ich immer wieder, wenn ich Zusammenfassungen im Diary poste. Allerdings sind wir nicht genau so immersiv wie Mann ohne Zähne es in seinem Manifest beschreibt, dafür haben wir in der Regel beim Spielen auch zu wenig Zeit.

Was wir beim Rollenspiel also tun, ist das Konsumieren einer Handlung, wie wir es auch tun, wenn wir einen Film sehen oder ein Buch lesen, nur mit dem Unterschied, dass wir die Bilder in unseren Köpfen selbst mitgestalten. Weil wir auf typische Dramaturgie  und Genre-Konventionen wie 'das Gute siegt immer' oder 'je abgefahrener das Manöver, desto wahrscheinlicher der Erfolg' verzichten, erreichen wir ein für uns plausibles Erlebnisgefühl, ein echtes 'Was wäre, wenn ich wirklich dieser Charakter wäre'. Ich denke, dass das etwa die Motivation meiner Spieler beschreibt (zuzüglich dem Wunsch, mit Freunden Zeit zu verbringen).

Meine eigene Motivation geht noch etwas weiter: zu Schulzeiten habe ich häufig Kurzgeschichten geschrieben, hatte aber nie das Durchhaltevermögen, etwas Längeres zu erschaffen, weil ich spätestens in dem Moment, wo ich mir selbst das Ende erzählt habe, das Interesse verliere. Beim Rollenspiel kann ich die Ideen verwursten, die es nie zu einem Buch bringen werden, und kenne das Ende selbst nicht, bis es so weit ist. Darüber hinaus liebe ich die Recherche des Settings, sowohl die fiktionalen als auch die realen Elemente z.B. der World of Darkness usw. Ich liebe es, neue Dinge zu lernen, brauche dazu aber einen praktischen Vorwand, und ein Kampagnensetting ist für mich eine prima Ausrede, mich z.B. in die Geschichte und Mythologie Mesopotamiens einzuarbeiten. Ich liebe historisch korrekte Details, auch wenn 95% dessen, was ich an Informationen sammle, es nie ins eigentliche Spiel schafft.

Ein großer Teil des Spaßes liegt für mich persönlich also vor dem eigentlichen Spiel. Das ist ein Bereich, in den mir meine Spieler überhaupt nicht folgen, da sie es vorziehen, nicht einmal über die Settings Bescheid zu wissen, soweit sie als RPG-Publikationen existieren. Das ist für mich aber auch ok, eher ein Feature als ein Bug. Wir mögen besonders Horror-Spiele, und Spieler, die den Hintergrund eines Horror-RPGs kennen, nehmen sich eine Menge guter Möglichkeiten zum Gruseln.

Regelseitig habe ich relativ früh bemerkt, dass zu viele Points of Contact unser Spiel nachhaltig stören. XP-Vergabe für jedes Ereignis, jedes Beutestück, jeden besiegten Gegner ist zu viel Buchhalterei, also weg damit. Regeln, die man nachschlagen muss, Regeln, die bei der Charaktererschaffung künstliche Grenzen setzen (Klassen, Stufen, Punktepools, Zufallswürfe)  eigentlich alle Regeln, die nicht auf irgend eine Weise mit der Auflösung vonHandlungen der SCs zu tun hatten, waren in erster Linie lästig, also wurden sie gekippt. Ich habe schließlich auf der Basis von CoC mein eigenes System geschrieben, das wir fast ausschließlich für alle Settings verwenden. Die zentralen Mechanismen der Settings (z.B. Blutpunkte, Disziplinen bei Vampire, Mentale Balance bei Kult, natürlich die jeweiligen Magiesysteme, wenn es welche gibt...) werden von mir vorab an mein W100-System angepasst. Es geht mir dabei nicht darum, das mathematisch gleiche Ergebnis zu erzielen, sondern lediglich darum, ein funktionales und plausibles Modell dessen zu erhalten, was den Kern des jeweiligen Features im Setting ausmacht. Ich vertrete also ebenfalls die These, dass das System keinerlei Bedeutung für das Spiel hat, solange es sich dem Spielfluss nicht in den Weg stellt. Der Spielstil meiner Gruppe hatte sich früher durch das dem jeweiligen Spiel zugehörige Regelsystem nie verändert, es hat nur mehr oder weniger unangenehme Reibungspunkte mit dem System gegeben. Wir haben an das System primär den Anspruch, dass es als neutraler Co-Autor, quasi als dritte gestalterische Kraft neben SL und Spielern, mittels eines statistischen und leicht durchschaubaren Zufallssystems Entscheidungen an Punkten trifft, wo dem Charakter mehrere mögliche Ergebnisse widerfahren können (Erfolg / Fehlschlag etc.). Das wollen wir nicht einfach festlegen, und wir wollen keine möglichen Ausgänge ausklammern. Das System muss für uns plausibel sein und zu einem halbwegs realistischen Erlebnis führen. Es darf das Spiel nicht an sich reißen und darf nicht zu deutlich in Erscheinung treten. Es muss die Möglichkeit zum Verlieren und Versagen existieren, denn nur dann ist der Sieg nicht schal, ist das Spiel auch eine Herausforderung.

So, ich denke, das umreißt es in etwa.

Robin
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Offline Arbo

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Re: Robins Manifest: Warum ich spiele, wie ich spiele
« Antwort #1 am: 8.05.2006 | 13:27 »
@ Bitpicker:

Erstmal: Schöner Beitrag. Wenn ich hier und da das Wort "literarisch" streichen würde, kommt es ganz gut dem nahe, wie ich i.d.R. spiele bzw. spielleite.

Zitat
Weil wir auf typische Dramaturgie und Genre-Konventionen wie 'das Gute siegt immer' oder 'je abgefahrener das Manöver, desto wahrscheinlicher der Erfolg' verzichten, erreichen wir ein für uns plausibles Erlebnisgefühl, ein echtes 'Was wäre, wenn ich wirklich dieser Charakter wäre'.

So ist das auch bei mir. Wobei ich mich nicht auf das "was wäre wenn" versteifen möchte. Denn das Verlassen der 0815-Konventionen bzw. -Dramaturgien ermöglicht es ganz allgemein, besondere Überraschungen parat zu haben - das Verlassen gibt also bestimmte "Schranken" frei. Das muss nicht immer (sofort) plausibel sein. Interessant sind solche "untypischen" Handlungen aber trotzdem.

Zitat
Ich liebe es, neue Dinge zu lernen, brauche dazu aber einen praktischen Vorwand, und ein Kampagnensetting ist für mich eine prima Ausrede, mich z.B. in die Geschichte und Mythologie Mesopotamiens einzuarbeiten. Ich liebe historisch korrekte Details, auch wenn 95% dessen, was ich an Informationen sammle, es nie ins eigentliche Spiel schafft.

Ich vermute aber mal, dass dies trotzdem auf das Spiel an sich abfärbt. Es ist m.E. schon ein Unterschied, ob sich mal eben so ein Hintergrund genommen wird oder ob jemand recherchiert und so - mehr oder weniger- Details in sich "aufsaugt". Bei mir äußert sich das bspw. in der Namensgebung. Für meine ESCHAR-Abenteuer habe ich bspw. bestimmte Namen bzw. "Namensfolgen" verwendet und mir Mühe gegeben, Begrüßungen und Gespräche blumig und lang zu gestalten (Also kein einfaches "Hallo!", sondern schon etwas mehr ;) ). Anfangs war das meinen Spielern etwas "wirr", aber auf der anderen Seite hat sich genau darin auch die Farbe des Settings manifestieren können. Nach einer Weile hatten die sich daran gewöhnt und das Spiel war meiner Meinung nach wirklich schön.

Zitat
Das ist ein Bereich, in den mir meine Spieler überhaupt nicht folgen, da sie es vorziehen, nicht einmal über die Settings Bescheid zu wissen, soweit sie als RPG-Publikationen existieren.

Frage: Wäre das anders, wenn sie sich auch für dieses Thema/Setting interessieren würden?

-gruß,
Arbo
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Re: Robins Manifest: Warum ich spiele, wie ich spiele
« Antwort #2 am: 8.05.2006 | 14:03 »
Sie interessieren sich durchaus dafür, schreien aber 'halt, stop, halt's Maul!', wenn ich drohe, etwas auszuplaudern, was sie nicht in-game erfahren haben. Wir haben z.B. schon recht oft Kult gespielt, aber sie wissen nur ganz vage, worum es dabei eigentlich geht, was für eine 'Wahrheit' hinter dem Setting steckt. Dennoch lieben sie Kult, eben weil z.B. Raum- und Zeitverschiebungen möglich sind und äußerst abstruse Dinge passieren können. Sie möchten nur das erfahren, was ihre Charaktere auch wissen.

Bzgl. der Recherche: sicher färbt vieles davon auf das Spiel ab. Möglicherweise wird z.B. der Pelagianismus (häretische christliche Lehre bzgl. der Sündhaftigkeit des Menschen) es irgendwie in eine Szene meines aktuellen Werwolf-Rollenspiels schaffen, von dem ich vorher nicht einmal gewusst habe, dass es ihn gegeben hat, aber er war in Britannien zur Zeit des römischen Abzugs sehr aktuell. Selbst jetzt lese ich noch Sachbücher zum historischen Background, obwohl die Kampagne schon läuft, was immer wieder neue Ideen aufwirft, mir aber auch mehr Sicherheit in der Präsentation gibt. Sachliche Fehler gibt es trotzdem zuhauf, aber ich will das Ganze ja nicht veröffentlichen... ;)

Robin
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