Ich habe das neue Album von Big Thief (Two Hands) erstanden und höre es gerade zum zweiten Mal.
Die Band hat einen Stil, der sich eindeutig verorten lässt (Folkrock mit prägnanter Frauenstimme - mal ätherisch zerbrechlich, mal ein bisschen weinerlich. Tendenziell sind die Songs nicht allzu fest in ein Formskelett gepresst, sondern lassen Raum für Erkundungen, mäandern vor sich hin, wirken ein bisschen versponnen).
Immer wieder gibt es aber auch Songs, die aus dem Rahmen fallen und ich denke, Big Thief ist eine Band, bei der man nie genau wissen kann, was als nächstes geschieht.
Das schönste Beispiel auf dem neuen Album heißt "Not".
Der Text ist schnell erklärt. Er beginnt mit den Worten "It´s not...", dann folgt eine Aufzählung von konkreten und abstrakten Dingen, auf die sich die Aussage beziehen lässt (Anfang: "It´s not the energy reeling / nor the lines in your face / nor the clouds on the ceiling / nor the clouds in space..."). So geht das den ganzen Song über. Der Text bleibt dabei völlig offen.
So ein kontinuierliches "es ist nicht" lässt natürlich mit jedem Vers die Frage stärker werden, was "es" denn dann - verdammt nochmal - stattdessen eigentlich ist. Das bekommen wir aber nicht erzählt (Schluss: "...not the room, not beginning / not the crowd, not winning / not the planet, not spinning."). Gibt es das "stattdessen" überhaupt? Oder ist "alles nichts"?
Offen bleibt auch die Haltung: Ist das etwas Bedauerliches, dass es das alles nicht ist? Sehnt sich die Sängerin nach dem "stattdessen"? Oder fürchtet sie es? Ist es Nihilismus, der aus ihr spricht? Wir wissen es nicht.
Bei solchen offenen Texten ist es natürlich sehr spannend, was uns die Musik dazu erzählt.
Der Song beschränkt sich auf 3 Akkorde, die ein Gleichgewicht zwischen Dur und Moll halten (C-Dur und G-Dur sprechen für Dur, im Zentrum steht aber e-Moll), der Rockbeat ist prägnant, prägnanter jedenfalls als bei vielen anderen Songs der Band, ein relativ einfacher Backbeat. Es gibt eine Art Refrain, der keine wirklich neuen Aussagen und auch keine anderen Akkorde bringt, aber in kürzeren Phrasen die bisherige Gestaltung von Text und Musik verdichtet und intensiviert.
Bei ca. 2:20 geschieht zum ersten Mal etwas Außergewöhnliches. Zu den Worten "Not what you really wanted / nor the mess in your purse / nor the bed that is haunted / with a blanket of thirst" setzt die Begleitung aus und die Sängerin singt ihre Verse allein zu den Drums. Die Technik ist altbekannt, aber gibt es ein Bezug zum Text? Hier geht es um Dinge, die nach Entbehrung klingen: es ist kein Geld da, und im Bett läuft leider auch nichts. Genau in dem Moment läuft auch die Musik nicht.
Wenn der Rest der Band wieder einsetzt klingt die Sängerin zum ersten und einzigen Mal in diesem Song wirklich zornig und brüllt "It´s not the hunger revealing...", als wolle sie sich selbst schelten und ihre zuvor geäußerte Klage zurückweisen. Dann aber singt sie weiter wie zuvor.
Nach dem zweiten, etwas verlängerten Refrain (bei ca. 3:20) beginnt ein langes Gitarrensolo. Die Gitarre spielt hier mal auf relativ herkömmliche Art und Weise mit der Band zusammen, mal erklingen Töne, die aus der Tonart fallen oder auch stärker Geräuschhaftes ("out" sagen die Jazzer). Kurz vor 5:00 verdichtet sich das Solo und wird krachig und lärmend. Es ist kein FreakOut, denn die Band begleitet relativ zurückhaltend. Nach diesem Ausbruch reiht sich die Gitarre ganz allmählich wieder in das Bandkollektiv ein. Die Emotionen gehen zurück und führen bei 5:43 zu einem einzigen leicht übersteuerten Feedbackton, mit dem das Stück endet.
Ich erkenne zweimal dieselbe Geste:
Die Sängerin, die kontinuierlich davon berichtet, was nicht ist und sich an einer Stelle herausstellt, allein über unerfüllte Wünsche klagt, zornig wird und dann aber weiter macht wie bisher und zurückfällt in das alltägliche, banale Gefühl der Unvollkommenheit.
Die Gitarre, die kontinuierlich Klänge produziert, wie sie für Sologitarren üblich sind, und sich an einer Stelle herausstellt, ihre Begleiter in den Wind schießt, zornig wird und dann aber weiter macht wie bisher und domestiziert zurückfällt in standardisierte Phrasen und wenig aussagekräftige Licks.
Ein Song über unseren Kampf, unser Aufbegehren gegen die betäubende Macht der Routine... und unser Scheitern. So sehe ich das heute morgen, am 1. November 2019.
Big Thief: Not