Kaum zu glauben, dass dieser als Antwort auf den Thread
http://tanelorn.net/index.php/topic,70975.0.htmlgedachte Post tatsächlich als Thema im Theoriebereich landet. Vielleicht ist das anmaßend.
Naja, zuerst mal die Formalitäten:
Technik: Spielmechanische Möglichkeit des Charaktertodes
Zu finden zum Beispiel in: fast jedem Rollenspiel, in einigen mechanisch leichter, in anderen mechanisch schwieriger zu erreichen
Ziel dieser Technik: Konsequenzenabbildung, Spannungserzeugung
Meine Ausgangsthese ist provokativ:
Bei der Verwendung der Möglichkeit des Charaktertods bzw. TPKs entsteht keine Spannung.Nun zur Argumentation: Es gibt, finde ich, hauptsächlich zwei Argumente von Befürwortern des spielmechanisch vorgerufenen Charaktertodes, TPK oder Partial PK für den Tod der Charakter bei verlorenen Kämpfen:
1. Es ist konsequent, denn Kämpfe sind auch in der Realität tödlich und das soll das Spiel transportieren.Das stimmt schon, sind sie... ich möchte nicht in einem Krieg kämpfen müssen, weil ich zuviel Angst um mein Leben hätte. Andererseits: Bestimmte Krankheiten sind ebenso tödlich, aber wann erkranken SCs schonmal an ihnen und sterben dann. Bestimmte Schlangen oder Spinnen sind tödlich, aber wann werden SCs schon mal von ihnen gebissen. Ein gebohnerter Boden oder ein Treppenhaus ist tödlich, aber wann kommt ein SC schonmal um, wenn er sich da flach legt. Nahrungs- und Alkoholvergiftung ist tödlich. Autofahren ist tödlich. Flugzeugfliegen auch. Okay, bei all dem dürfte die Wahrscheinlichkeit, zu sterben, geringer sein als in einem Kampf (Ist sie das? Hat das jemand nachgeprüft?)... trotzdem, vorhanden ist sie immer. Trotzdem kenne ich kaum jemanden, der Krankheiten konsequent auswürfelt oder Bergsteigen oder Flugzeugreisen. Wäre auch übertrieben, oder? Immerhin müssten die Spieler dann ja
ständig aufpassen, dass ihre Charaktere nicht draufgehen. Also haben gewissermaßen Kämpfe das
Privileg, tödlich zu sein. Das Kämpfe aber nicht tödlich
dargestellt werden müssen, zeigt uns die Unterhaltungsindustrie: Ein Held überlebt einen Film in der Regel bis zum Schluss. Eine Heldengruppe geht in einer Serie auch nicht auf einmal drauf, sondern in kleinen Portionen. Bösewichter sterben hingegen viel inflationärer. Na gut, es gibt sicherlich Ausnahmen, aber die sind eher experimenteller Natur.
Das hat dramaturgische Gründe. Wenn dem Zuschauer die Bezugsperson genommen wird, der Protagonist, dann kann er der Geschichte nicht mehr folgen, oder nur sehr schwer. Selbst wenn es danach weitergeht, vielleicht mit Neubesetzung: Viele Leute werden ausgestiegen sein, weil ihnen ihre Bezugspersonen zur erzählten Welt fehlen. Das kann man trotzig nennen oder konsequent. Bei Computerspielen ist es auf den ersten Blick umgekehrt, aber auch nur scheinbar: Der Avatar des Spielers kann potentiell sterben... und dann lädt der Spieler einfach wieder. Dieses Sicherheitsnetz ist wahrscheinlich sogar wichtig um den Spielspaß zu gewährleisten. Aber tödliche Kämpfe erhöhen trotzdem die Spannung in diesen Spielen... womit wir bei Punkt 2 sind.
2. Tödliche Kämpfe mit der Option des TPK machen das Spiel viel spannender, weil etwas auf dem Spiel steht.Machen sie das wirklich? Nochmal zurück zum Videospiel. Mein Charakter kann sterben. Und das erhöht die Spannung. Warum? Jedenfalls
nicht, weil der Tod so konsequent und realistisch ist, denn in Kämpfen stirbt man. Das macht die Sache glaubwürdiger, aber nicht spannender. Wir empfinden möglichen Tod nur dann als spannend, wenn die Abwendung dieses Todes unser spielerisches Geschick fordert: Es steht fürs Spiel selbst etwas auf dem Spiel: Bonusgegenstände, das Glücken der Mission, das Ankommen auf der anderen Seite dieses Abgrunds, die Fortsetzung der Story. Und wir haben es in der Hand! Wir werden gefordert! Aber ist das Spannung: Vielleicht, aber nicht auf der Ebene einer narrativen Spannung, was Hitchcock ja
Suspense nennt. Es kann Anspannung (im positiven Sinne) oder Druck (im negativen Sinne) aufkommen, wenn etwas auf dem Spiel steht. Das große
ABER ist stets dabei: Wenn wir es nicht schaffen, können wir laden und es erneut probieren. Die Spannung nimmt nach dem 7. Mal Spielen vielleicht etwas ab und wird immer mehr zu Druck, aber letztlich ist die Unsicherheit, ob wir es schaffen oder nicht ein ständiger Begleiter. Und das Sicherheitsnetz sorgt dafür, dass wir auch ein gutes Gefühl dabei haben können, wenn wir scheitern. Wer mir nicht glaubt: Wie sehr nervt es in älteren Spielen kurz vor dem Ende zu sterben und dann den
ganzen Level nochmal von vorne spielen zu müssen? Massiv, natürlich! Ein ausgefeiltes Sicherheitsnetz ist uns für unseren Spielspaß wichtig.
Bei narrativen Medien ist es anders herum. Hier fügen wir uns breitwillig in unsere Rolle, nichts tun zu
können. Es kann unser Rezeptionsvergnügen einschränken, wenn die Handlung Entwicklungen nimmt, die uns nicht gefallen. Wir haben eben keinen Einfluss darauf. Und Hand aufs Herz: Wer hat nicht schon mal gesagt "Die Serie ist scheiße!", wenn die eigene Lieblingsfigur mitten in der Staffel ins Gras beißt? Wenn das passiert, soll er wenigstens cool sterben... und dennoch, Dramaturgie hin oder her: Es wäre schon cool gewesen, wenn Boromir bis zum Ende dabei gewesen wäre. Fan Fictions beweisen, dass da Bedürfnisse nach sowas in den Rezipienten geweckt werden.
Übertragen wir das auf's Rollenspiel: In einer Situation, in der mein Charakter oder die gesamte Gruppe unwiederbringlich vernichtet werden kann, gibt es folgende Unterschiede zur Videospiel- und Narrativ-Situation:
1.
Es gibt kein Sicherheitsnetz...2.
Wir haben eine gewisse Kontrolle über die Handlung...Das Problem daran: Wir haben nur
eine Chance! Kein Laden, keine Extraleben. Hui, das ist ja mal spannend! Es steht wirklich was auf dem Spiel und mein spielerisches Geschick wird aufs Äußerste gefordert!
Falsch gedacht, würde ich sagen, denn: Wir nehmen beim Rollenspiel* entweder die Videospiel-Rezeptionshaltung an oder die Narrativ-Rezeptionshaltung ein, denke ich. Wir können Rollenspiel als Narrativ (Fall 1) begreifen oder als (verkapptes Video)-Spiel (Fall 2)**.
Für Fall 1 gilt...Der Tod eines Charakters folgt dramaturgischen Gesichtspunkten. Wenn er stirbt soll es wenigstens cool sein. Und was cool ist und was nicht, das ist am Spieltisch immer situationsbezogene Verhandlungssache. Situationsbezogen deshalb, weil man sich im Vorfeld zwar auf Tropen einigen kann, aber nicht auf das, was in einer bestimmten Situation als cool empfunden wird oder nicht. Man empfindet das in der Situation einfach. Da gibt es keine allgemeinen Regeln, die man vorher festlegen kann.
Außerdem: Gehen wir mal davon aus, mein eigener Charakter ist mein
Lieblingscharakter***, meine Identifikationsfigur mit der Spielwelt, ich identifiziere mich mit ihm, ich möchte ihn weiterhin auf dem Schirm der erspielten Welt sehen. Sterben dieses Charakters beraubt mich dieser Identifikationsfigur, da mir die Möglichkeit mit den mechanischen Möglichkeiten dieses Charakters auf die Spielwelt Einfluss zu nehmen genommen wird. Je nachdem, was
in der Spielwelt und in der Handlung auf Messers Schneide steht, kann uns das sehr viel angehen, weil die Identifikation mit dem Charakter uns dazu bringt, dass uns seine Ziele auch wichtig werden. Auch auf übergeordneterer Ebene, wenn es uns mehr um die
Geschichte als Ganzes geht, in der der Charakter nur ein Element ist, ist das Ableben des Charakters nicht wünschenswert, wenn wir nicht über ein Sicherheitsnetz verfügen, das uns weiter Einfluss auf die Spielwelt zugesteht - durch narrative Rechte, etc. Wäre das nicht da, dann würden wir einfach nicht mehr mitspielen, so einfach ist das. Das Spiel wäre rum für uns. Das kann klappen, aber eben am Besten bei One-Shots. Da wird der Charaktertod leicht verwunden, weil die Narration selbst auch nicht mehr lange weitergeht.
Für Fall 2 gilt...Wir sehen den Charakter als unseren Avatar an. Er ist das Werkzeug, mit dem wir mit der Spielwelt interagieren. Wir betrachten das Spiel herausforderungsorientiert. Mein spielerisches Geschick bestimmt über Gedeih und Verderb des Charakters. In einer tödlichen Situation empfinde ich An(spannung), weil ich auf die Probe gestellt werde. Ich kann scheitern. Und wenn ich das tue, dann ist der Charakter hin. Kein Sicherheitsnetz, kein Laden. Wenn ich wirklich in Form bin, dann kann ich da was rausholen, wenn nicht, dann ist alles schnell verloren, ohne das ich eine echte Chance hatte. Die Würfelmechaniken können das Ganze sogar zu einem relativen Glücksspiel machen. Das muss nicht schlimm sein: Wenn ich das Ganze aus der Spielperspektive betrachte, dann kann mich das nicht weiter stören - ich spiele ja nur ein Spiel.
Jetzt zu meiner Behauptung:
Weder in Fall 1 noch in Fall 2 wird durch die Möglichkeit des Sterbens echte Spannung im Sinne des hitchcockschen Suspense erzeugt!Weshalb?
In Fall 1 entsteht keine Spannung, sondern
Sorge im unangenehmen Sinne und auch
Druck. Wenn ich diesen Charakter verliere, beraube ich mich (bzw. der SL beraubt mich) meiner Möglichkeit, Einfluss auf die Spielwelt zu nehmen und ich verliere meine Lieblingsfigur. Das dürfte keiner gerne haben, wenn er diesen Rückzug aus der Spielweltmitgestaltung nicht ohnehin anstrebt oder die Narration ohnehin endet. Oder eben, wenn es nicht seine Lieblingsfigur ist, wenn er sie nicht einmal leiden kann, aber dann wäre ihm das Ableben ja egal und deswegen sind sämtliche Voraussetzungen, Spannung zu erleben, ohnehin dahin. Es muss uns kümmern, damit wir Spannung empfinden können. Aber wenn es heißt: Der Charakter kann immer und jederzeit sterben, führt das nicht zu Spannung, sondern eben
Sorge: Was, wenn mein Charakter jetzt stirbt, ich könnte nicht mehr mitspielen. Ich werde aus dem Spiel entfernt und werde nicht mehr die Möglichkeit haben, aus der Perspektive dieses Charakters auf bedeutsame Weise die Spielwelt mitzugestalten. Und wenn der Tod dann noch nicht mal cool ist (aus der
eigenen Perspektive, Coolness ist keine Verhandlungssache), dann scheint mir das Ganze reichlich sinnlos, oder? Selbst wenn ich die Möglichkeit habe, alles dafür zu tun, dass der Charakter das übersteht, habe ich es nicht komplett in der Hand (Würfel, etc.). Ich
sorge mich also um den Charakter, aber positiv spannend ist das nicht.
In Fall 2 entsteht keine Spannung, sondern
Herausforderung. Ich betrachte den Charakter nicht als etwas, was wichtig genug wäre, dass es mich sorgt. Ich habe nicht genug
emotional investment in ihn - er ist primär eine Spielfigur, durch die ich mein eigenes spielerisches Geschick kanalisiere. Wenn es mich nicht stört, dass er stirbt, dann ist er mir egal. Das mag hart klingen, aber ich versuche nicht hier irgendwie zu werten. Aber Fakt ist, dass mir ein Charaktertod, der mir emotional egal ist, wohl auch auf den Charakter selbst übertragen werden kann. Ein Charaktertod, der mir emotional egal ist, ist im Sinne der Dramaturgie vielleicht kein besonders guter Charaktertod, aus Spielperspektive gibt es keine guten und schlechten Tode, sondern nur Sieg oder Niederlage, Daumen hoch oder Daumen runter. Ohne Sicherheitsnetz ist die
Herausforderung aber natürlich auch ein stückweit unberechenbarer, weil Zufallswürfe und Tagesform variabel sind, und das Lernen aus Fehlern für diese Spielsituation nicht stattfinden kann. Also: Einfach gesprochen ergibt sich hier keine Spannung im Sinne von
Suspense, der auf dem Vorhersehbarkeit basiert, sondern nur im Sinne von
Surprise, also Überraschung, was passiert. Und streng genommen wollen wir in einer herausforderungsorientierten Spielsituation ja nicht überrascht werden, sondern gefordert. Und zwar so gefordert, dass für uns Sieg und Niederlage einsichtig ist - in Videospielen nutzen wir genau diesen Vorgang, um aus unseren Fehlern zu lernen und Hindernisse dann nach dem 7. Mal doch noch erfolgreich zu meistern. So oder so: Ein Charaktertod ist ein
verlorenes Spiel.
Wer in dieser Einschätzung nicht bei mir ist, wird sich vielleicht damit abfinden können, dass
Sorge bzw.
Herausforderung in solchen Situationen die (An)Spannung überschatten und ihr einen gewissen Geschmack geben.
Die Crux ist diese: Wenn herausforderungsorientierte Spieler argumentieren, tödliche Kämpfe machen Rollenspiel spannender, so müssen sie anerkennen, dass sie es auf der Ebene des
Spiels spannender machen, nicht auf der Ebene der
Rolle. Oder anders, auf der Ebene der (kooperativen) Narration, da das Ausscheiden einer Spielfigur den Spieler seiner Gestaltungsmöglichkeiten unter gleichen Voraussetzungen beraubt. Und wenn narrationsorientierte Spieler argumentieren, dass der Charakterverlust immer frustrierend ist, dann müssen sie bedenken, dass es stark auf das
emotional investment des einzelnen Spielers ankommt.
Was bedeutet das für
Charaktertod als Technik? Ich halte es für schwierig von Vornherein aus Konsequenzgründen Charaktertod
Ja oder Nein? in der Spielrunde festzuhalten, da die Entscheidung für einen (befriedigenden) Charaktertod immer nur situativ getroffen werden kann. In beiden Fällen halte ich den Charaktertod als Regelabsolutum oder SL-gesteuerte Notwendigkeit immer für ein schlechtes Mittel zur Erzeugung von Spannung. Im herausforderungsorientierten Spielmodus würde mir das Fehlen eines Sicherheitsnetzes nicht gefallen, da ich nicht in der Lage wäre, meine Entscheidungen zu korrigieren, aus ihnen zu lernen und so meine Spielfähigkeiten zu verfeinern (es sei denn, ich spiele ein Spiel über einen wirklich, wirklich langen Zeitraum und gerate unter selben Voraussetzungen in . Im narrationsorientierten Spielmodus würde mir der Mangel an Kontrolle und das hier eher negativ belegte Gefühl der
Sorge sauer aufstoßen.
Konsequenz ist nicht Spannung. Und einen Charaktertod zu
akzeptieren aufgrund eines Gruppenvertrags ist etwas anderes, als ihn zu
begrüßen. Ich gehe sogar so weit, zu behaupten, dass niemand einen Charaktertod begrüßt, wenn er nicht die volle Kontrolle über ihn hat. In beiden Fällen steht jedenfalls der
Leistungsdruck - jetzt vollkommen ohne Wertung gesagt. Aber der
Spannungsbonus dürfte gering sein oder vollkommen als von der erzählten Spielwelt losgelöst betrachtet werden.
Puh, der Gedanke war klarer, als ich zu schreiben begonnen habe - ich habe mich etwas verrannt. Im Zweifelsfall soll der Beitrag zwei Dinge zu begründen suchen:
1. Mögliche Charaktertode im Gruppenvertrag festzuhalten ist problematisch, weil Charaktertode erst situativ wirklich von Bedeutung sind2. Mögliche Charaktertode erhöhen nur gering die Spannung, dafür die Herausforderung und die Sorge - und damit verbunden ggf. auch die FrustrationEine intelligente Lösung für das Dilemma bieten übrigens teilweise moderne Systeme aus dem Alternativ- oder Indiebereich. Ich möchte hier FATE erwähnen, was über Konsequenzen dem Spieler die narrative Kontrolle gibt, wie weit ein Konflikt und damit auch ein Kampf überhaupt eskalieren kann. Auch sind Charaktertode nicht die einzige Möglichkeit, harte Konsequenzen für scheiternde Charaktere abzubilden - den narrativen Spieler wird die Aussicht auf den Verlust einer Stadt oder eines Angehörigen des Charakters sicher (und ohne
Sorge) emotional treffen - und der herausforderungsorientierte Spieler kommt bei der Aussicht auf ein verlorenes Auge oder eine abgetrennte Hand mit entsprechenden wertetechnischen Modifikationen ins Schwitzen.
Soweit dazu. Jetzt könnt ihr diesen Beitrag zerreißen!
*Möglicherweise sind auch Mischungen zwischen den beiden Ansätzen möglich. Ich glaube ja, dass das situativ ist, weil sich diese Haltung innerhalb einer Spielsitzung fließend ändern kann.
**Ja, klingt nach GNS. Den Sim-Ansatz würde ich aber auch auf Fall 2 beziehen, nur dass hier nicht Herausforderung, sondern Konsequenz der treibende Faktor ist. Für das emotional investment gilt dasselbe.
***Es ist denkbar, dass ein Spieler seinen eigenen SC weniger mag als einen anderen SC oder gar einen NSC. Das ist glaube ich hauptsächlich dann der Fall, wenn man den eigenen Charakter aus Spielperspektive betrachtet und als Avatar in der Spielwelt und nicht als Identifikationsfigur begreift. Dass ein NSC für einen Spieler der Protagonist der Geschichte ist, dürfte trotzdem eher selten sein.