Ich möchte zunächst einen klassischen regelmechanischen Aspekt und seine Wirkung auf das Spielverhalten und Spielerlebnis analysieren. Anschließend sollen zwei Beispiele zeigen, wie es anders aussehen kann.
Klassischer Fall: Die Ressourcen des Charakters sind direkt im oder am Charakter festgemacht. Das sind seine Skills und seine Ausrüstung. Das hebt ihn über den "Durchschnittsbürger".
Die Folgen: Charaktere sind losgelöst von der Spielwelt. Alles dreht sich um den Charakter selbst. Seine Entwicklung, seine Ziele, immer geht es um den Charakter direkt. Ein Punkt mehr im Kampfskill bringt ihn regelmechanisch voran. Eine eroberte Burg dagegen nicht. Die Burg hat keinen regelmechanischen Wert, sie ist nur Kulisse. Die ganzen Bewohner der Burg, ihre Arbeitskraft, alle materiellen Ressourcen in der Burg haben regelmechanisch keinen Wert. Wir haben mal in ad&d eine Burg von Unheil befreit und sie geschenkt bekommen. Damit konnten wir einfach nichts anfangen. Wir ließen sie stehen und machten weiter wie bisher, als umherziehende Abenteurer. Die Regelmechaniken sehen den Einsatz von Umweltressourcen einfach nicht in ausreichendem Maße vor. Das degradiert die Spielwelt zur Kulisse. Selbst wenn der SL bereit ist, eine Integration der Gruppe in die Spielwelt zu ermöglichen, funktioniert das einfach nicht, so wie in unserem Fall. Es fehlen die Mechaniken, um eine Burg zu einer spielbaren Ressource zu machen. Die Burg ist jetzt nur ein Beispiel.
Schnitt. Alternativen.
Stellt euch folgendes Regelsystem vor. Kernelement sind Bedürfnisse, die in Regelkreisen abgebildet werden (mit Sollwert und Istwert). Beispiel sei das Geltungsbedürfnis. Angeblich streben wir Menschen ja danach, von anderen geschätzt zu werden. Wir basteln uns eine fünfstufige Skala von "geringes Geltungsbedürfnis" bis "hohes Geltungsbedürfnis". Irgendwo auf dieser Skala hat jeder Char seinen individuellen Sollwert. Ein Char mit Sollwert 1 braucht sehr wenig soziale Wertschätzung, einer mit Sollwert 5 sehr viel. Machen wir daraus konkrete Anforderungen: Mit Sollwert 1 braucht man einmal pro Tag Lob von einer anderen Person, mit Sollwert 5 braucht man 5 mal am Tag Lob bzw. Lob von fünf Personen.
Die Situation im Spiel stellt den Istwert dar. Konkret für dieses Beispiel also jede Form von erhaltener Wertschätzung. Weicht der Istwert vom Sollwert ab, geht es dem Charakter schlecht. Sein Bedürfnis ist nicht befriedigt oder überbefriedigt. Sagen wir, es gibt pro Punkt Abweichung vom Sollwert einen Stresspunkt (der sich negativ auf sämtliche Proben auswirkt). Unser anspruchsloser Einzelgänger mit Sollwert 1 ist mit sich selbst im Reinen, wenn er einmal am Tag etwas gut macht und dafür gelobt wird. Hat er den Tag vermplempert und niemand hat ihm Zuspruch gegeben, erhält der Char einen Stresspunkt. Hat er seine Sache zu gut gemacht und wird plötzlich von drei Leuten über den Klee gelobt, ist er ob so viel Aufmerksamkeit ebenfalls gestresst. Jeder Charakter ist also dauernd bestrebt, die Situation so zu gestalten, dass der Istwert dem Sollwert entspricht.
Lassen wir mal außen vor, ob diese Mechanik in der Form schon spielreif ist. Gehen wir davon aus, dass sie funktioniert und überlegen uns, welche Auswirkungen das auf das Spielverhalten und das Spielerlebnis hat.
Hier wird plötzlich Charakterdarstellung gefordert! Unabhängig davon, in welchem Abenteuer sich die Gruppe gerade befindet, versucht unser stiller Einzelgänger immer im Hintergrund zu bleiben. Der geltungsbedürftige Partner mit maximalem Sollwert drängt sich dagegen permanent in den Vordergrund und verlangt nach positiver Aufmerksamkeit. Stellen wir uns vor, die Gruppe ist auf einer langen Reise durch den Wald. Wochenlang bekommt sie niemanden zu Gesicht. Mit klassischem System sind jetzt Würfe auf Überleben oder sowas fällig. Wenn die Gruppe die Sache ausspielen will, wird die Jagd nach Tieren näher beschrieben. Spur finden, Spur folgen, Orientierung nicht verlieren, Erfolgreich auf das Reh schießen. Mit der alternativen, bedürfniszentrierten Regelmechanik wird die Jagd selbst zur Nebensache. Zentral ist hier, dass der geltungsbedürftige Char irgendwie sein hohes Bedürfnis befriedigen muss! Er läuft also frühmorgens zur Jagd raus und erhält von den anderen Lob. Er bietet sich als Koch an und wird dafür gelobt. Er übernimmt bereitwillig die erste Wache usw. Der Fokus ist plötzlich ein anderer. Der Spieler dieses Charakters muss sich überlegen, wie er seinen Kameraden imponieren kann. Das wird zum Spielinhalt. Und ganz unabhängig von Überlebensskills werden bestimmte Charaktere lange Reisen hassen. Aber nicht einfach, weil es Fluff in der Charakterbeschreibung ist, sondern weil die Regelmechanik eine Reise zu einer echt stressigen Angelegenheit macht.
Zweites Alternativbeispiel.
Von der klassischen Regelmechanik ausgehend, verschieben wir die Ressourcen vom Charakter auf die Umwelt. Freunde, Familie, Besitz, Untergebene, der eigene Rang, Beziehungen usw. werden regelmechanisch abgebildet. Eine gute Partnerschaft gibt +2 auf Erholung vom Stress. Persönliche Bekanntschaft mit dem Chef gibt +2 auf einen Streit mit gleichgestellten Kollegen. Verwandtschaft mit dem Chef gibt gleich +4 Bonus im firmeninternen Streit. Wichtige Beziehungen werden gezählt. Je mehr davon, desto höher die Chance, im Bedarfsfall einen Unterstützer zu finden. Du willst einen Feind umbringen? Mach einen Check auf Beziehungen. Pro 5 Beziehungen gibt es einen Bonus von +1 darauf, dass du diskret einen Auftragsmörder findest. Du kannst natürlich auch selbst zur Waffe greifen. Aber je geringer dein Skill als Killer ist, desto höher die Chance, dass du als Mörder enttarnt wirst. Typischerweise haben die Helden die Rolle von Killern inne. In einem solchen Regelsystem wäre das aber überhaupt nicht attraktiv! Der Killer ist hier mechanisch bedingt nicht attraktiv. Der klassische Rollenspielheld zieht durch die Welt und killt immer stärkere Gegner, weil er dadurch immer bessere Skills und Ausrüstung bekommt. Der mechanische Belohnungsmechanismus erzwingt das Verhalten im Spiel. Wenn die Belohnungen aber vom Charakter auf die Umwelt verschoben werden, wird plötzlich Netzwerkpflege wichtig. Die Bekanntschaft mit einem weiteren Baron aus der Umgebung ist direkt belohnend. Das Schlachten eines Skeletts ist es nicht mehr. Die Spieler würden sich zwangsläufig um andere Dinge kümmern.
So weit meine frischen Gedanken zum Thema. Was meint ihr?