Ich bin in einer kleinen Sinnkrise als Spielleiter. Daher habe ich angefangen mich mit Spieltheorie zu befassen. Besonders angetan hat es mir dabei das Werk von Roger Caillois „Die Spiele und die Menschen“.
Laut ihm kann man Spiele in vier Kategorien einteilen:
Agon (Wettkampf), Alea (Glück), Mimicry (Verstellung) und Ilinx (Rausch). Wie immer gibt es diese überwiegend in gemischten Formen.
Aufs Rollenspiel bezogen ist Agon die Vorbereitung, der Charakterbau, die Regelkenntnis und taktisches Spiel. Alea ist dann der Würfelwurf. Ich kann zwar mit Agon den Würfelwurf vorab beeinflussen (indem ich zum Beispiel einen Gegner in die Zange nehme und meine Chancen verbessere), am Ende entscheidet aber das Glück (als jemand der sehr schlecht würfelt, merke ich das meist recht deutlich). Aber dieser Moment in dem man aufs Glück angewiesen ist, übt einen großen Reiz aus. Mimicry letztlich ist das Verstellen, das spielen einer Rolle. Die drei beeinflussen sich alle gegenseitig.
Spiele ich zum Beispiel meinen Charakter dumm (weil der SC dumm ist), gebe ich dem Mimicry den Vorzug vor dem Agon (das wäre taktisch gutes Spiel). Mit taktisch gutem Spiel (Agon) beeinflusse ich meine Chancen beim Würfeln (Alea) usw.
Gleichzeitig definiert Caillois ein Spiel als: „System von Regeln, die definieren, was zum Spiel gehört und was nicht, das heißt das Erlaubte und das Verbotene. Diese Konventionen sind willkürlich, bindend und zugleich unwiderruflich. Sie dürfen unter keinen Umständen verletzt werden, andernfalls das Spiel auf der Stelle zu Ende und zerstört ist.“
Jetzt bin ich aber über diverse Stellen in Rollenspielen gestolpert, die dem Spielleiter explizit zugestehen die Regeln zu brechen oder zu umgehen. Im Earthdawn-Spielleiterhandbuch steht etwa:
„Die Regeln sollen dabei helfen, gute Geschichten zu erzählen – wenn die Regeln dem Geschichtenerzählen im Weg stehen, ignoriert sie.“ Und auf derselben Seite weiter: „Der Spielleiter ist der Einzige, der seine Würfelwürfe ignorieren darf, aber nur, wenn die Regel dem Spaß im Weg stehen.“
Oder ganz frisch heute gelesen in Little Wizards als Gesetz des Erzählers:
"Es gibt eine geheime vierte Regel – du kannst schummeln! Wenn nötig kannst du die Regeln verbiegen oder sogar brechen, um sicherzustellen, dass eine Geschichte nicht völlig aus den Fugen gerät. (…) In jeder dieser Situationen hast du das Recht, heimlich zu würfeln (und das Würfelergebnis zu sagen, was immer du willst) oder die Geschichte zu ändern, oder was auch immer, solange du es zum Wohle des ganzen Spiels tust."
Nun haben wir ein Paradoxon: Wir haben an Anweisungen in den Regeln, dass der Spielleiter die Regeln brechen darf – wenn die Regeln dem Spaß im Weg stehen. Breche ich die Regeln nicht und akzeptiere alle Würfe, breche ich die Regeln. Hierfür muss der Spielleiter das aber heimlich tun (Geheime Regel in Little Wizards, Regel im Spielleiterhandbuch im Spielerhandbuch). Das ergibt Sinn, denn sonst würde er sowohl Agon als auch Alea entwerten. Die Spieler würden merken, dass ihre Vorarbeit wie Charakterbau oder taktisch cleveres Spiel (Agon) ebenso wenig relevant sind wie es auch der Würfelwurf (Alea) letztlich ist. Denn nicht das Glück entscheidet, sondern der Spielleiter.
Und hier auf trifft wiederum die Definition von Caillois zum Falschspieler ziemlich genau:
„Der Falschspieler ist noch in der Welt des Spiels. Wenn er die Regeln umgeht, tut er immerhin noch so, als respektiere er sie. Er ist unehrlich, aber er heuchelt wenigstens. So bewahrt und behauptet er durch seine Haltung die Gültigkeit der von ihm verletzten Konventionen, denn er ist darauf angewiesen, dass wenigstens die anderen sich ihnen unterwerfen.“
Dreht er die Würfel also öffentlich, ist das dem Spaß nicht zuträglich, sofern wir keine Gruppe haben, die einzig an Mimicry interessiert ist. Da stellt sich mir aber dann die Frage, warum sie nicht gleich ohne Regeln spielen. Das Spiel an sich würde sich aber dann auflösen und in ein Rollenspiel frühkindlicher Prägung oder in eine reine Erzählung driften. Der Aspekt des Spiels wäre zerstört (siehe Zitat Caillois weiter oben). Es würde "entarten".
Ich habe vor einigen Jahren gemerkt, dass einer meiner Spielleiter Würfel gedreht hat. Damit war für mich die Spannung am Spiel zerstört. Dieser Moment des Würfelns, die Gefahr in der meine Charakter schwebt – das macht für mich einen wichtigen Teil des Rollenspiels aus. Ebenso möchte ich natürlich, dass in das Spiel durch schlaues Spiel beeinflussen kann. Ab dem Zeitpunkt bin ich dazu übergegangen als Spielleiter alles offen zu würfeln und die Regeln konsequent anzuwenden. Schnell hatte ich bei uns im Verein den Ruf ein „Charaktertöter“ zu sein und mehrere Runden gingen zu Bruch, sobald ein oder mehrere Charaktere in Gras gebissen haben. Obwohl ich den Spielstil vorher genau erklärt und ausgeführt habe und alle Spieler damit einverstanden waren. Reine Erzählspiele wollten sie nicht spielen.
Ganz offensichtlich hat das den Spielern aber auch keinen Spaß gemacht. Wäre es also als SL meine Aufgabe gewesen, die Charaktertode zu verhindern? Nach den Regeln von Earthdawn und Little Wizards schon (die stehen hier nur als Beispiele, ich habe in diversen Regelwerken gleiche oder ähnliche Passagen gefunden). Es gibt natürlich Gruppen von Erzählspielern die nur mit Mimikry/Erzählen auskommen oder wir haben die ARS-Spieler bei denen ein Charaktertod eben nicht den Spielspaß mindert.
Für die meisten anderen Spielrunden muss ich aber folgendes Ergebnis festhalten:
Die Spieler wollen nur einen scheinbaren Nervenkitzel. Es soll spannend sein und Glück soll auch eine Rolle spielen, aber bitte mit einem unsichtbaren Sicherheitsnetz, welches schlechte Ergebnisse und Pech abfedert. Der Spielleiter muss also als Falschspieler agieren.
Aber will ich das? Möchte ich meine Spieler hinters Licht führen (müssen)?
Unser Vereinsmotto heißt nicht umsonst: aleam inter seria exercemus - Wir nehmen das Würfeln ernst.