Autor Thema: [Deadlands] Savage West Solo Play  (Gelesen 33909 mal)

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Re: [Deadlands] Savage West Solo Play
« Antwort #250 am: 31.03.2025 | 18:29 »
Die weite Ödnis im Umland von Gomorra kann sich jederzeit in einen Hexenkessel verwandeln, und daher will ich mal meine selbstgeschriebene Tabelle Auf den Trails zu dem Fußweg befragen.
Das Kartenlegen ergibt sowohl Unwegsamkeiten, als auch extremes Wetter. Joycelyn hat eine Hofkarte, also wird für sie obendrein eine Begegnung ermittelt.
Die Wild Cards klettern also, angeführt von Tioga Joe und Hope In Winter, über Kieshänge und zwischen schroffen, rötlichen Felsen hindurch. Dafür schaffen sie mehrheitlich ihre Vigor-Würfe, das reicht, um eine zusätzliche Begegnung zu vermeiden. Der Januarwind wird unterwegs immer schärfer, und es beginnt zu schneien. Erneut würfeln alle Vigor, um einer Cold Hazard zu widerstehen. Alle außer Miss Kentrall schaffen es, die feine Dame hat nur Vigor W4 und schlottert ganz erbärmlich unter ihrem Wintermantel. Sie bekommt dafür ein Level Fatigue.
„Schauen Sie nur, Marcus!“, sagt Byrd fürsorglich, „Unsere Miss Kentrall wird uns gleich zu einem Eiszapfen. Geben Sie ihr doch flugs mal ein Schlückchen von Ihrem medizinischen Alkohol! Das wärmt!“
„Aber Mister Byrd!“, rügt der Chirurg, „Medizinischer Alkohol ist nicht zum Verzehr bestimmt!“
Mallory fügt hinzu, „Pfui, lassen Sie gut sein! Der Herr verhüte, dass ich mir jetzt auch noch die Sünde des Trinkens zuschulden kommen ließe!“
Luca zuckt mit den Schultern, „Na gut, auch gut. Hey Marcus, aber ich nehme ein Schlückchen!“
Der Erfinder schüttelt den Kopf, fast ein bisschen ungläubig über das, was er da hört.

Ich ziehe eine weitere Karte, um die Art der Begegnung für Joycelyn zu bestimmen. Die Tabelle sagt, ein möglicher Alliierter läuft dem Aufgebot über den Weg. Da bediene ich mich flugs erneut bei den vielen, vielen Charakteren aus dem Doomtown-Trading Card Game, nehmen wir mal den mexikanischen Söldner ‚Gordo’ Andrade her:

„Oh! Señorita Lancaster! Señorita, hola! Hier drüben!“, ruft eine aufgeregte Stimme, und sofort peitscht ein Pistolenschuss über die felsige Einöde! Alle fahren zusammen und werfen sich in Deckung, und Byrd zieht blitzschnell seine eigenen Schießeisen, John einen seiner Wurfspeere!
No no no, nicht doch!“, stellt die Stimme hastig hinterher, „Das war doch nur, um Aufmerksamkeit zu kriegen, Compadres! Waffen runter, eh? Ich mache auch, eh?“
Zwischen den Felsen steht ein dicklicher Mexikaner mit einem Sombrero und einem Walross-Schnauzer, und einem Fellmantel unter seinem ollen Poncho. Im Schneegestöber war er kaum zu sehen. Er steckt demonstrativ beide seiner Pistolen in die Holster zurück.



'Gordo' Andrade, einer von Gomorras Revolverhelden ohne feste Gruppenzugehörigkeit


„Sie haben uns ordentlich erschreckt, Mister! Was hatten Sie denn damit …“, setzt Marcus an.
„Señorita guapa!“, sagt der Mexikaner, und klettert behende zwischen den Brocken hinab, und kommt näher, „Was für eine Überraschung, eh? Was machen Sie denn hier draußen, Verehrte?“
„Meinen Sie mich?“, fragt Joycelyn verwirrt, und rückt ihren kleinen Hut zurecht.
Sí! Me llamo ‚Gordo’ Andrade, bekannt wie kundiger Hund, eh, ich bin großer Verehrer!“, und er strahlt Joycelyn an.
„Ich erinnere mich an Ihr Gesicht, aus dem Publikum“, sagt die Sängerin.
„Und ganzes Gomorra Valley erinnert sich an meine gefürchteten pistolas“, ergänzt Gordo großspurig, „Die Linke ebenso schnell wie die Rechte!“
„Was machst Du hier draußen, Fremder?“, knurrt John misstrauisch, „Weißt Du nicht, dass man hier in der Gegend den Scouts der Sioux über den Weg laufen kann? Weißt Du denn nicht, dass es dann nicht klug ist, das Blei des Weißen Mannes sprechen zu lassen?“
„War doch nur, um Signal zu geben, eh? War sozusagen Salute! Freue mich ausnehmend, solch eine guapa hier draußen anzutreffen! Bin eigentlich wegen was anderem hier, eh.“
„Und weswegen“, knurrt John bedrohlich, aber er kann sich schon denken, was den Söldner hierher führt.
„Die Sweetrock will sicher gerne wissen, ob das stimmt, was Shouting Tom heute früh von sich gegeben hat! Ich finde raus, und verkaufe den Geldsäcken die informaciones!“
„Wohl kaum“, entgegnet John, und sein Blick ist so finster, und sein Ton so bedrohlich (und sein Intimidation-Ergebnis so hoch), dass Gordo unwillkürlich einen Schritt zurückweicht, furchtsam.
„Na na, aber John!“, rügt Joycelyn, „Dieser Gentleman will uns sicherlich nur sein Geleit anbieten! Er berichtet doch nicht hinterher der Sweetrock, was hier vorgefallen ist!“, und sie lächelt ihren Verehrer zuckersüß an.
Ich gewinne ein schnelles Quick Encounter, und die Wild Cards machen Gordo klar, dass er hier in eine echt brisante Sache hinein gestolpert ist, und dass er echt verlässlich die Fresse darüber halten muss, ganz besonders gegenüber den Schergen von Howard Findley, oder den Regierungsschnüfflern. Gordo gelobt also Stillschweigen, sogar bei seiner Frau Mutter und den Gebeinen seiner Frau Großmutter, und stellt seine Ballermänner in den Dienst des Schutzes der Miss Lancaster. Damit ist er vorerst unser Ally, sogar ohne Sold. Hier sind schon mal Spielwerte für ihn:

🌵 ‚Gordo‘ Andrade
Advances: 4
Attributes: Agility d8, Smarts d4, Spirit d6, Strength d6, Vigor d8
Skills: Athletics d8, Common Knowledge d4, Fighting d6, Intimidation d6, Notice d6, Persuasion d6, Shooting d10, Stealth d6, Survival d4, Taunt d4
Pace: 6; Parry: 5; Toughness: 6
Hindrances: Overconfident, Stubborn, Quirk (Talks a lot in Spanish as if everybody would understand it)
Edges: Ambidextrous, Two-Gun Kid
Gear: Two bowie knives, two Colt Peacemakers, ammo bandoliers, hatchet, Winchester rifle, water canteen

(Als Miniatur taugt für ihn Pablito aus dem Grundspiel von Zombicide: Undead or Alive.)


Schließlich erreicht das Aufgebot das Versteck. Erneut warten einige der Wild Cards lieber im Abseits, Marcus und unser neuer Verbündeter Gordo. Die stehen Schmiere, zumal ja außer dem Mexikaner durchaus auch noch andere Neugierige aus der Stadt ihren Weg hierher finden könnten.

John, Joycelyn, Luca, und die beiden Scouts gehen tiefer in die kleine Klamm, gefolgt von einer nervösen Mallory, und entdecken dann den Schein des Lagerfeuers: Die Wildnis-Experten der Eingeborenen haben in einer kleinen Felsenhöhle eine Feuerstelle errichtet, die von außen nicht zu sehen ist, und deren Rauch durch einen Spalt in der Decke abziehen kann. Im Eingang sitzt der junge Krieger Benjamin Nightsinger, und schaut ihnen stumm entgegen. Er trägt traditionelle Lederkleidung, aber er ist kein Anhänger der Alte-Wege-Bewegung. Neben ihm lehnt eine alte Springfield-Büchse an der Höhlenwand, und um seinen Hals hängt ein großer, hölzerner Anhänger, der mit etwas Phantasie sogar ein christliches Kruzifix sein könnte.
Von tiefer aus dem Inneren der Höhle schaut das blasse Gesicht der Astronautin auf. Sie ist in indianische Decken gehüllt, und ihre Haare sind etwas länger geworden, seit man sie zum letzten Mal gesehen hat.



Die 'Weltraum-Dame'


Die vier Eingeborenen reden eine Weile unter sich. Es scheint ihnen etwas schwer zu fallen, denn nicht alle sprechen die Algonkin-Sprache gleich gut, sie mischt sich hier sogar mit vereinzelten Brocken von Englisch.
Schließlich winkt John die Bleichgesichter heran.
„Hallo Darling!“, ruft Joycelyn vorsichtig ins Innere der Höhle, aber es kommt keine Antwort von der Soldatin.
„Was hat sie denn letztlich so von sich erzählt?“, fragt die Sängerin die Ureinwohner.
„Weiterhin spricht sie die meiste Zeit in Rätseln“, antwortet Benjamin Nightsinger, „Ihre Reise zwischen den Sternen hat sie in den Wahnsinn getrieben.“
Hope In Winter ergänzt, „Schon letztes Jahr haben Joseph Eyes-Like-Rain, Wise Cloud, und ein paar andere unserer größten Medizinleute versucht, ihren Verstand zurückzubringen. Hatten nur wenig Erfolg. Die Geister werden sie zurück geleiten müssen zu den Sternen — wenn sie denn überhaupt wollen, dass Bleichgesichter, die noch am Leben sind, dort oben verweilen. Das wissen wir nicht.“
Benjamin Nightsinger nickt, „Und die Geister und die Manitous sind in großer Aufruhr wegen dem Reckoning des Medizinmannes Raven vor 13 Jahren. Vielleicht ist das der Grund für das Erscheinen der Sternen-Squaw bei uns. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass sie immer noch nicht zurückkehren kann. Die Geister der Ewigen Jagdgründe sind uneins, und oftmals im Kampf miteinander. So jedenfalls sagen es unsere weisesten Leute, im ganzen Land.“
„Ihr werdet die Gute vermutlich verlegen müssen, nachdem die Sweetrock-Kackstiefel jetzt Wind von diesem Versteck gekriegt haben“, sagt Joycelyn, „Dürfen wir mal mit ihr reden?“
Benjamin Nightsinger nickt, und die Wild Cards gehen vorsichtig in die Höhle, und setzen sich zu der Gefangenen. Hier am Feuer ist es angenehm warm.
„Howdy“, sagt Byrd, und tippt lächelnd an seinen ollen Hut, „Sie gestatten doch?“
Die Ex-Soldatin guckt die vier unverwandt an, sonst nichts.
„Wir wollten mal fragen, wie’s Ihnen so geht, Ma‘am!“, redet Byrd weiter, „Lang’ nicht gesehen, wie? ... Joah, die guten, alten Sioux haben uns seit dem Herbst klargemacht, dass Sie, Ma‘am, deren Angelegenheit sind! Nicht nur, weil man Sie verstecken muss, sondern auch, weil alle Leute, die von den Sternen kommen, das Fachgebiet der Schamanen sind! Egal ob rot, weiß, oder womöglich kariert im Gesicht!“
„Ich weiß“, sagt die Angesprochene. Sonst nichts.
„... Wie fühlen Sie sich?“, fragt schließlich Joycelyn.
„Wie soll‘s mir schon gehen hier draußen?“, fragt die Soldatin etwas dumpf, „Ich bin in Händen der Widerständler, da stecken die Anouks dahinter. Man lässt mich seit Monaten nicht mir der EXFOR sprechen! Und ich bin die ganze Zeit on-planet, das ist nicht mein Ding, ich bin am besten an Zero-G gewöhnt.“
„Was, äh, wie bitte, und an was bitte gewöhnt?“, fragt Byrd amüsiert.
Zero-G, Du Heini! Schwerelosigkeit. Scheiß-Hinterweltler-Wüste. Verdammtes Banshee“, ihre Stimme klingt fast, als würde sie im Schlaf sprechen.
„Aber die Indianer haben Ihnen doch schon gesagt, dass Sie nicht auf einem Stern namens Banshee sind“, versucht Joycelyn behutsam einzulenken, „Sie sind auf der Erde! Vermutlich würden Sie sagen, dass dies die Vergangenheit für Sie ist!“
„Diese Widerständler-Hackfressen sind alles Esoteriker! Das machen die, weil die Anouks auch so ticken … Alles BS.“
„Wenn sie BS sagt, meint sie die Scheiße von Bullen“, erklärt John.
Joycelyn schaut ihn fragend an, „Aber hast Du nicht gesagt, Eure Medizinleute hätten schon Erfolge gehabt beim Versuch, ihr zu vermitteln, in welcher Lage sie wirklich ist?“
John erwidert, „Ja, und manchmal lebt sie auch im Hier und Jetzt. Und zu anderen Zeiten ist es wie jetzt gerade. Da denkt sie, sie hat ihre eigene Zeit nie verlassen. Manche Menschen bestehen aus verschiedenen Seelen, in einem einzigen Körper.“
Neugierig richtet Luca das Wort wieder an die Fremde, „Ich hab‘ letztes Jahr meine geliebte Taschenuhr leider verschenken müssen, wissen Sie … können Sie mir grade mal sagen, welches Jahr gerade ist?“
Sie zögert eine Weile, in dumpfes Schweigen gehüllt, dann sagt sie schleppend, „2094. … Da hier auf Banshee Winter ist, vielleicht mittlerweile 2095, nach terranischer Zeitrechnung. Sie lassen mich ja nicht mit der EXFOR sprechen, also kann ich’s nicht genau wissen.“
Mallory Kentrall hat nervös ihre Karten zu mischen begonnen in ihren vor Kälte tauben Fingern. Sie verwendet erfolgreich ihre Kartentechnik Empathy, und hört sogleich das Wispern der unsichtbaren Toten, welche ihr zutragen, was oberflächlich im Gemüt der Soldatin vorgeht.
„Ich verstehe, dass Sie verwirrt und verzweifelt sind, Miss“, sagt das Medium, „Aber denken Sie, wir könnten mit dem Teil von Ihnen sprechen, der akzeptiert hat, dass Sie im Jahr 1877 sind? Es wäre leichter für uns, zu entscheiden, wie wir weiter mit Ihnen verfahren können. Wir müssen Sie verlegen, in ein anderes Versteck. Wir könnten Sie ein neues Leben beginnen lassen, wenn Sie sich bereit dazu fühlen. Dafür müssten Sie aber bereit sein, einiges hinter sich zu lassen. Insbesondere jene Organisation, die Sie EXFOR nennen.“
„Ich habe den anderen Widerständlern schon deutlich gemacht, dass ich Ihnen nichts preis gebe, außer meiner Dienstnummer …“, raunt die Soldatin.
Das Wispern trägt an Mallorys Ohr, dass sich Erinnerungen wie ein Schleier über das Gemüt des Gegenübers legen, um ihre existenzielle Angst mit Gleichmut zu betäuben.
„Würden Sie denn ein anderes Leben vorziehen, Miss?“, fragt die Hucksterin weiter, „Ich weiß, was in Ihnen vorgeht. Wenn wir Sie hier draußen in der Wildnis lassen, ergibt sich vielleicht irgendwann die Chance, dass Sie nach Hause zurück versetzt werden könnten. Aber wenn Sie bereit wären, sich auf diese neue Wirklichkeit einzulassen, könnte der Herrgott es geben, dass Sie wieder normal leben können, als ein Mensch dieser Zeit. Dann wären Sie sicher vor den Machtgruppen hier in Kalifornien … und vor der Regierung!“
Da würfelt Mallory mal Persuasion, ihre Empathy-Kraft gibt ihr dadür einen +1-Bonus. Sie erzielt jedoch trotzdem keinen Erfolg gegen den Spirit-W6 der Befragten.
Die sagt eine Zahlenfolge vor sich hin wie gebetsmühlenartig, das scheint die erwähnte EXFOR-Dienstnummer zu sein.
„So enden diese Gespräche oft“, sagt John leise, „Wann immer sie gerade denkt, noch in der Zeit ihres Sternen-Schiffs zu sein.“
Joycelyn sagt besorgt zu ihm, „Also müssen wir alleine entscheiden, ob wir sie von hier wegbringen. Wieder über den Kopf der Ärmsten hinweg.“
„Mein Vater Joseph Eyes-Like-Rain sagt, ihr Geist müsse gereinigt werden. Von der Kälte ihres Todesschlafs zwischen den Sternen, und von der Angst vor den blauen Spinnen mit den Mäulern wie Raubfische. Von dem Schrecken, obendrein in einer Zeit zu sein, die ihr fremd ist. Es gibt große Medizinmänner in den Sioux Nations, die ein solches Ritual der Reinigung zu tun vermögen. Dies wäre jedoch eine weite Reise. Und die Squaw müsste diese Reise wirklich machen wollen.“
„Auf die Gefahr hin, dass sie das Loch in der Landschaft im Gomorra Valley verpassen würde, wenn es je wieder auftauchen sollte“, sagt Byrd.
Joycelyn sieht ihn an, und sagt kopfschüttelnd, „Das ist Monate her, Luca. Vielleicht geschieht das einmal alle hundert Jahre, oder alle tausend Jahre. Wer weiß! Es gibt jedenfalls keinen Weg dorthin zurück.“

Mallory lauscht weiter auf die wispernden, unsichtbaren Stimmen, die nur sie vernehmen kann aufgrund ihrer Hex-Formel. Wenn die Soldatin dieses Gespräch zwischen den anderen also gerade mithört, was geht dabei in ihr vor?

Wir fragen die Orakelwürfel dazu, und diese bestätigen die Vermutung, dass sie ein anderes Leben führen wollen würde, aber das Ergebnis ist äußerst knapp.

„Ich vermute, tief im Inneren wäre sie bereit dazu, hier auf der Erde zu leben“, raunt Miss Kentrall, „Auch wenn das bedeuten würde, alles hinter sich zu lassen, was vorher war.“

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Re: [Deadlands] Savage West Solo Play
« Antwort #251 am: 10.07.2025 | 15:56 »
„… Dann wäre ja nur noch die Frage, wie wir die Weltraum-Dame hier weg kriegen“, sagt Mister Byrd vergnügt, „Hey, das hochverehrte Collegium der Interdäumlings-Physik, wie heißt das noch gleich richtig?, na egal, die haben da jedenfalls möglicherweise Mittel und Wege! Im Dezember haben die Herrschaften mir und Geraldine ganz ausgezeichnet geholfen. Näher gesagt, unser belgischer Windbeutel, Fineas von Landingham!“
„Sioux Union will keine Hilfe von den Wasichu-Gelehrten! Sind auch ganz bestimmt nicht verehrt, wenn man den Roten Mann fragt“, murrt John. Sein Ton ist unmissverständlich: Zwischen diesen beiden Machtgruppen wird es keine Kooperation geben, auch nicht in diesem besonderen Falle.
Mallory gibt zu bedenken, „Aber zu Pferde zurück zur City o‘ Lost Angels, oder Sacramento, oder Shan Fan, das ist ein langer, beschwerlicher Ritt! Noch dazu durch gesetzlose Grenzlande!“
John würdigt sie keines Blickes, und beharrt nur, „Ich habe gesprochen.“

Damit wäre das Auftakt-Ereignis des Abenteuers eigentlich abgehandelt. Was sagte uns gleich unser Abenteuereinstieg? Die Law Dogs blasen zum Angriff gegen den korrupten Bezirksrichter Gabriel!

… Aber vorerst werfen wir einen Blick herüber in das neue Schulhaus:

Geraldine Montmorency derweil sitzt dort an ihrem ersten Schultag seit ihrem Eintreffen in Amerika auf ihrer Schulbank. Fieberhaft konzentriert sie sich auf das, was der Lehrer sagt. Es ist kein richtiger Schullehrer, dieser Mister Delarney, er hat schon eingangs entschuldigend gesagt, er sei eigentlich ein Buchhalter bei der Sweetrock Mining Company. Er und andere würden nur den Vertretungsunterricht übernehmen, bis ein richtiger Lehrer nach Gomorra kommen würde.
„… Wann lernen wir schießen?“, war das erste, das daraufhin gefragt worden war, natürlich von Ernie Carmichael, dieser unverbesserlichen, kleinen Bratze! Groß geguckt hat er, als Mister Delarney entgegnet hat, „Schießen, das lernt man nicht an einer Dorfschule, dafür musst Du zur Unions-Armee.“
Dann wurde zehn Minuten lang diskutiert, was denn sei, wenn man aber Südstaatler-Eltern hätte, denn auch hier in den Schulbänken mischen sich natürlich die Sprösslinge von Familien von beiden Seiten der Mason-Dixon-Line. Jungen aus dem Süden gingen ja nicht zur Unions-Armee, sondern zur Konföderation, tönte einer, aber das wollte Mister Delarney irgendwie nicht gelten lassen; der ist selber Nordstaatler, und es wäre ein schwarzer Tag, wenn er irgendjemandem empfehlen würde, irgendetwas zu tun, das die Konföderierten stärken würde. Am Schluss blieb die Frage ungeklärt, und man wendete sich dem Geschichtsunterricht zu.

Geraldine, die Kanadierin, rutscht ungemütlich auf ihrer Bank hin und her, sie sieht die Pausen-Kloppereien schon kommen, die sich an dieser Thematik entzünden werden! Und sie wird wahrscheinlich wieder diejenige sein müssen, die den Streit schlichtet, wie auch im Waisenhaus, immerhin ist sie eine der größten, zwar ebenso mager wie die anderen Waisenhaus-Gören, aber dafür hochgewachsen und einigermaßen drahtig. Sie nimmt sich vor, künftig hier an der Schule gleichzeitig für Recht und Ordnung zu sorgen, und unauffällig zu bleiben. Ihr übergeordnetes Ziel ist schließlich, Klassenbeste zu werden.
„Gleichzeitig für Recht und Ordnung sorgen, aber unauffällig, Katie Maurice!“, wiederholt sie mit einem scharfen Flüstern für das Mädchen zu ihrer rechten, damit auch sie es sich merken kann.
„Was gibt es da zu schwatzen?“, fragt in dem Moment Mister Delarney, und fährt zur Klasse herum, „Duda! Mont … Morsel …!“
„Ich heiße aber Montmorency!“, sagt Geraldine empört. Einerseits fühlt sie heiß die Schamestöte im Gesicht, weil sie ertappt worden ist dabei, unerlaubt zu sprechen — und dann auch noch, weil sie doch ihrerseits Katie Maurice disziplinieren wollte! Andererseits hat Mister Delarney schon wieder ihren Nachnamen falsch ausgesprochen, jetzt zum dritten Mal in Folge! Geraldine hat genau mitgezählt. Und ihr guter, wohlklingender Name, das ist gewissermaßen alles, was sie in der großen, weiten Welt noch hat. Abgesehen von der Freundschaft von Mister Byrd.
„Was hattest Du mitzuteilen, Montmorency?“, schnappt der Klassenlehrer.
„Ich ermahnte gerade meine Banknachbarin, dass wir … sittsam zu sein hätten, und dennoch unsere Zungen hüten, Herr Lehrer!“, entfährt es Geraldine, unpassend laut ist ihre Stimme, in ihrer Aufruhr. Ihre Wangen fühlen sich unverändert heiß an.
Mehrere der kleineren Kinder beginnen zu lachen.
„Ruhe! Ein Rat, den ich auch Dir geben könnte!“, schimpft Delarney, „Und was hat das mit George Washington zu tun?“
Geraldine zögert kurz, dann sagt sie, immer noch zu laut, „Er … war auch ein Wächter der Tugendhaftigkeit, Sir!“
„Ja, ja. Ruhe jetzt! Zurück zur Unabhängigkeitserklärung …!“, kommandiert der Sweetrock-Mann, und wendet sich wieder der Tafel zu.
Geraldine wirft Katie Maurice schnell einen beschwörenden Blick zu, der Bände spricht: Wenn sie jetzt etwas kommentieren oder gar kichern sollte, dann ist sie aber dran …!


Luca Byrd, Joycelyn Lancaster, und John Bloody Knife kommen wieder auf den windigen Town Square von Gomorra, gefolgt von Mallory Kentrall und Marcus Perriwinkle, die immer noch leise darüber sprechen, was draußen in der Einöde los war. Der Mexikaner Gordo Andrade mit seinem Sombrero folgt ihnen immer noch, er will ja die verehrte Miss Lancaster eskortieren.

Hier auf dem Town Square ist mal wieder Streit ausgebrochen, man hört das Geschrei schon von Weitem!
„… Diese Stadt, MacNeil, die wird einen wirklichen Richter bekommen! Um das klipp und klar zu sagen, damit auch Sie das begreifen: Wenn Sie glauben, ich führe noch weitere Gefangene vor Ihren Sauhund Gabriel, dann haben Sie sich geschnitten!“
„In Ihrem Kittchen, Coleman, da wartet ein halbes Dutzend Feinde der Sweetrock auf ihr Urteil! Die Hälfte davon Galgenvögel der Blackjacks!“, erklingt die ehrfurchtsgebietende Reibeisenstimme des Hünen Jim MacNeil.
„Und da bleiben die auch, bis sie Schimmel ansetzen, wenn ich das will! Vor Bezirksrichter Gabriel treten die nicht. Wissen Sie warum, MacNeil? Soll ich Ihnen sagen, warum?“, schreit Sheriff Coleman.
„Ich bin ganz Ohr!“, knurrt der Bärtige lauernd.
„Weil ich das Gesetz bin in Gomorra. Ich, kapieren Sie, nicht Ihr Howard Findley. In meiner Stadt wird es keine fragwürdigen Prozesse im Schnelldurchlauf mehr geben, wie Richter Gabriel sie so gerne macht. In einer Woche haben wir hier einen wirklichen Richter. Sie können sich jetzt verpissen, Jim MacNeil!“, verkündet Coleman hasserfüllt, „Sie können Gabriel sagen, er darf wieder abreisen, und Sie können ihre Plattform da mit ihren sieben Galgen direkt wieder abbauen! Wenn demnächst hier Todesstrafen verhängt werden, dann nur, weil die Schuld bewiesen ist, und dafür brauchen wir auch nicht Ihre beschissenen Galgen, die Kerle knüpfe ich eigenhändig auf, wenn ich muss, am guten alten Erhängungs-Baum am Stadtrand! Und jetzt gehen Sie mir aus den Augen!“

Am einen Rand des Town Square stehen Sheriff J.P. Coleman, und seine Deputies Charlie Flatbush, Jesse Fremont, Nate Hunter, und John Templeton. Ihnen gegenüber stehen Sweetrock-Sicherheitschef Jim MacNeil mit seinem finsteren Blick, Vorarbeiter Mick Caples, einige der bärtigen Gewehrschützen, und mehrere der dickleibigen Anzugträger und Aktenschmierer mit den säuerlichen Gesichtern.

„Schaut mal Leute“, sagt Luca halblaut zu seinen Compadres, „Die haben die Plattform wieder aufgebaut! Sieben Galgen in einer Reihe, sieht aus, als würde die Sweetrock sich wieder einem ganzen Batzen ihrer Feinde auf einmal entledigen wollen, was?“
„Sieht aus, als würden sie diesmal nicht so einfach damit durchkommen“, sagt Joycelyn tonlos.
„Und ob das Gestell diesmal geprüft ist?“, grinst Luca, „Ich wurde schon wieder nicht gefragt, dabei wissen die Mannen seit dem Sommer, dass ich zertifizierter Galgen-Prüfling bin, oder wie heißt das noch gleich!“
„Der Bezirksrichter muss mal wieder in der Stadt sein“, sagt Mallory angewidert, und sie versteckt ihr Gesicht hinter ihrem Spitzenfächer.
„Meine arme May B. würde sich jetzt furchtbar erzürnen über das alles!“, sagt Joycelyn.
„Sheriff Coleman erzürnt sich schon genug“, sagt Byrd, „Der erzürnt sich ja für May B. gleich mit!“
„Kein Wunder, wenn man bedenkt, wie das mit der Gerechtigkeit hier letztes Mal ausgegangen ist, als wir es mit Richter Gabriel zu tun hatten“, grollt Joycelyn.
Marcus raunt, „Und die Sweetrock Mining Company untergräbt natürlich die Autorität des Sheriff Department, wenn sie dergestalt agieren. Indem sie weiterhin den Bezirksrichter anfordern, und die eigentlichen Gesetzeshüter quasi lediglich einsetzen wollen, als wären sie die Gefängniswärter unter ihrem Kommando, nichts weiter.“
„Kommt, wir schlendern mal zu Sheriff Coleman rüber, und fragen, ob man dem helfen kann!“, sagt Byrd enthusiastisch.
„Nicht!“, sagt Joycelyn, „Der hat doch gerade schlechte Laune!“
„Ja — na und?“
„Das ist der falsche Moment!“, zischt die Sängerin.
„Das ist der goldrichtige Moment! Dann können wir ihm seine Laune nicht noch mehr verschlechtern!“, freut sich Mister Byrd, und geht weiter, „Howdy, Sheriff!“, sagt er, die Hand grüßend erhoben.

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Re: [Deadlands] Savage West Solo Play
« Antwort #252 am: Gestern um 20:45 »
Sheriff Coleman misst Luca Byrd und seine Freunde noch mit einem argwöhnischen Blick ab, während er sich bereits abwendet. Er hat offensichtlich keine Lust, hier auf dem Town Square von diesem Kasper Luca Byrd vollgequatscht zu werden. Aber prinzipiell ist er einer Unterredung mit den Wild Cards auch nicht abgeneigt — nur eben nicht öffentlich. (Das hat schließlich unser Abenteuereinstieg so ergeben!) Also gibt er seinen Deputies einen unauffälligen Wink, die sollen Byrd und dessen Truppe gleich mal mitnehmen.

Während also Fremont, Templeton, und Hunter die Wild Cards stumm flankieren, schreitet J.P. Coleman grimmig die Main Street hinauf, als hätte er mit den anderen eigentlich nichts zu schaffen. Als sei er ganz auf seine Verachtung für die Sweetrock konzentriert! Und so wie er im Losgehen in den Schneematsch spuckt, merkt man ihm auch an, dass diese Verachtung ganz und gar nicht vorgespielt ist.


„… Ich zahl‘ Euch ein paar Dollars aus meiner Kriegskasse, Leute“, sagt Coleman halblaut, als sie im Sherriff‘s Office angekommen sind, und die Deputies die Tür fest zugeworfen haben. Hier drin ist es ziemlich arschkalt, auch das Office ist schließlich bisher nicht viel mehr als eine Bretterbude, wie so viele Gebäude in Gomorra. Der Sheriff nimmt einen, aus einer unetikettierten Pulle, gegen die Kälte, und gegen die Wut, die er im Bauch hat.
„Aha, Dollars!“, sagt Luca mit diebisch blitzenden Augen, „Da werden meine Lauschlappen ja sogleich etwas spitzer! Und derartiges hatten wir unsererseits auch gerade im Sinne, als wir—“
„Schnauze“, würgt Coleman ihn ab, „ich rede. Also, Bezirksrichter Steven Gabriel ist wieder im Gomorra Valley. Ich habe keine Geduld mehr für den. Die dumme Sau richtet hier nur Schaden an mit seiner sogenannten Rechtssprechung, und Howard Findley reibt sich die Hände. Das, was diese Galgenvögel hier abziehen, das ist nur bessere Lynchjustiz. Aber das ist ab sofort vorbei. Ich mache jetzt verdammt nochmal meinen Punkt. Bald kommt Henry Warwick hier angereist, und dann hat unsere Stadt endlich eine eigene Gerichtsbarkeit!“
„Hört, hört“, nickt Marcus Perriwinkle anerkennend.
„Keinen von den Saftsäcken, die derzeit in meinem Kittchen dahinvegetieren, lasse ich einem Steven Gabriel vorführen!“, knurrt Coleman mit furchtbarer Entschlossenheit, „Die sollen allesamt faire Prozesse kriegen. Dass sie Dreckskerle und Backpfeifengesichter sind, hin oder her. Auf eine oder zwei Wochen mehr bei Wasser und Brot kommt‘s für die jetzt auch nicht mehr an.“
„Kommt der Richter denn wirklich, dieser Mister Warwick?“, will Joycelin wissen, „Ist das auch wirklich verlässlich?“
„Sie halten den Schnabel, Goldkehlchen, wie unser Revolverheld hier auch“, wiegelt der Sheriff ab, „Ich bin noch nicht fertig. Und ich hab‘ heute Scheiß-Laune. Also, Sie kommen mir grade ganz recht! Sogar Ihr rothäutiger Spießgeselle Bloody Knife. Ich will, dass Sie Steven Gabriel und die Sweetrock-Bastarde in ordentliche Scherereien verwickeln. Ich will, dass der Bezirksrichter so zu schaffen hat mit Ihnen, dass der nicht dazu kommt, seine Zelte aufzuschlagen und seine erbärmlichen Schnelldurchlauf-Gerichtsverfahren hier zu veranstalten.“
„Der hat aber dicke Freunde bei der Sweetrock“, lächelt Byrd, „und die wiederum haben dicke Schießprügel!“
„Interessiert mich einen Dreck, wie Sie‘s anstellen, Leute!“, kommentiert Coleman, „Will ich überhaupt nicht wissen, weder jetzt noch später, oder überhaupt jemals. Wenn‘s da zu Meinungsverschiedenheiten kommt, und wenn da blaue Bohnen fliegen … und der Hurensohn Gabriel zufällig dabei draufgeht, dann bin ich keiner, der da eine Träne um den weint!“
„Aber Sir“, protestiert Perriwinkle schwach, „wollen Sie andeuten, wir sollten …“
„Gar nichts will ich andeuten!“, knurrt der Sheriff, „Sie machen einzig und allein, was Sie für richtig halten. Ich sage nur, sollte ein Querschläger Steven Gabriel das Licht ausblasen, dann werden meine Law Dogs besseres zu tun haben, als deswegen genauer zu ermitteln. Viel besseres!“
„Und das allgemeine Tohuwabohu soll unser Schaden nicht sein?“, vermutet Byrd mit freudigem Blick.
„Soll Ihr Schaden nicht sein, ganz recht!“, nickt J.P. Coleman.
„Na, sollen wir einschlagen, Pardners?“, fragt Byrd mit breitem Grinsen seine Freunde, „Das würde doch unsere arme May B. nachträglich sowohl ehren als auch erfreuen, wenn wir uns hier tatkräftig betätigten! Was sagt Ihr?“
Bevor jedoch einer antworten kann, sagt Coleman, „Hier werden keine Hände geschüttelt und nix. Sie schlendern jetzt ganz unbeteiligt aus meinem Office wieder raus. Wenn Sie agieren, dann merke ich das schon. Ich erfreue mich dann womöglich daran, aus großer Ferne.“
„Aber wenn nicht …?“, fragt Mallory unsicher.
„Wenn nicht, dann merke ich das auch. Dann marschiert morgen oder übermorgen nämlich Steven Gabriel hier auf, und fordert die Inhaftierten zu seinem vermaledeiten Schauprozess. Das hat die Sweetrock alles schon angeleiert, Sie haben die Galgen auf dem Town Square ja gesehen. Und dann wird Gabriel leider merken, dass er sie nicht kriegt, auch wenn er sich auf den Kopf stellt. Und er wird merken, dass Recht und Gesetz vermaledeit nochmal jetzt stärker ist in dieser Stadt als die Kaufkraft der Sweetrock Mining Company.“
Marcus Perriwinkle ist etwas blass um die Nase, als er leise einwendet, „Aber derartiges Auftreten könnte auf eine weitere Straßenschlacht hinauslaufen! Wir haben Jim MacNeil eben doch gehört.“
„Hol‘s der Teufel“, sagt Coleman gedämpft, „Wir sind bereit.“
Sein Gesicht ist ebenso finster wie das der umstehenden Deputies im Raum. Ihr Schweigen hat eine erschreckende Intensität.


Während dieses konspirativen Gesprächs im Sheriff’s Office geht am anderen Ende der Straße der erste Schultag weiter.

Fragen wir doch mal das Orakel: Vielleicht bedeutet dessen Voraussage, dass es um Geraldines Gelingen im Verlauf des Tages besser bestellt ist als am Morgen? Die Orakelkarten sagen, socially Deceive social Enemies. Oha. Gibt es da wen, der Geraldine in die Pfanne hauen will, oder bekommt sie ihrerseits Gelegenheit dazu? Die Orakelwürfel sagen, ersteres, und spezifizieren, dass es um den Vertretungslehrer geht. Dieser verflixte Mister Delarney hat gar keinen guten ersten Eindruck von Geraldine bekommen, er weiß ja nicht, wie eifrig und wohlmeinend sie eigentlich ist, sondern er hat sie innerlich sofort in seine Störenfried-Schublade gesteckt! Wenn er also seine Schülerin in die Pfanne hauen will, worum geht’s denn da? Das Orakel weissagt: Future Plans. Das betrifft doch sicherlich die eigentlichen Arbeitgeber des Vertretungslehrers, die Sweetrock. Oder vielleicht stattdessen die Nordstaaten, denen er sich verpflichtet fühlt? Nehmen wir mal letztere. Dann so:

„… Und da sich Mont … morency …“
„Montmorency!“, nickt Geraldine eifrig, um bei der richtigen Aussprache ihres Namens zu helfen.
„Still jetzt, also, da sich Montmorency als so gelehrig erwiesen hat, soll sie die Gelegenheit bekommen, sich am morgigen Schultage erneut hervorzutun. Als Ansporn für Euch anderen alle, Ihr Kinderchen! Montmorency, Du wirst einen einseitigen Aufsatz schreiben über das Vorankommen unseres Präsidenten Ulysses Grant, und welche militärischen Ziele er verfolgt, um den Bürgerkrieg zu gewinnen!“
„Ja, aber …“
„Sehr gut. Und Du wirst diese Hausaufgabe morgen vor der Klasse vorlesen!“
Geraldine bekommt hektische, pinke Flecken im Gesicht, um ihre vielen Sommersprossen herum. Das scheint ja beinahe zu viel der Ehre! Etwas besseres hätte Mister Delarney gar nicht sagen können, wenn’s nach ihr ginge.
„Das mache ich sehr gerne, Sir, aber …“
„Mache Deine Sache ja gut!“, schmunzelt der Vertretungslehrer, mit Lachfältchen um die Augen, die dabei unvorhergesehen erscheinen.

Darin liegt natürlich Delarneys vom Orakel prophezeiter Betrug, denn er hat geschnallt, dass Geraldine geradewegs aus dem ländlichen Kanada hierher gekommen ist, und trotz ihrer großen Schnauze den US-Kindern gegenüber im Nachteil ist was ihren Bildungsstand zum Bürgerkrieg betrifft! Er lässt sich aber seinen Winkelzug nicht anmerken.



Ein winterlicher Abend im Waisenhaus, nach Schulschluss


Das Kinderheim von Gomorra ist in jeder Hinsicht so trist wie man es vermuten würde: Eine große Blockhütte mit dünnen Wänden, und aus allen Zimmern erhebt sich Geplärre und Gequengel. Und jede Woche werden es mehr, denn das Fehlen von Sicherheitsvorkehrungen in den vielen Sweetrock-Minen fordert einen schrecklichen Todeszoll, und so manch ein Siedler-Nachkomme steht plötzlich ohne Vater und Mutter da, in einer Stadt, die längst noch keine Strukturen aufgebaut hat zum Stopfen überzähliger Mäuler. Es gibt in Gomorras Waisenhaus nur zwei Ammen, und beide werden nur mit ein paar traurigen Cents bezahlt für ihre Mühen. Sobald die Bälger also halbwegs laufen können, werden sie sich selbst überlassen, wo immer es nur geht.

Und lausekalt ist es natürlich in diesem Scheiß-Waisenhaus, das braucht nicht dazu gesagt zu werden. Es gibt nur einen ollen Ofen im Erdgeschoss, dadurch sind Aufenthaltsraum und Küche die einzig halbwegs warmen Zimmer, und da tobt um sechs Uhr abends daher besonders heftig die Anarchie der Zwerge. Man hört die Rauferei bis hier oben, in das hölzerne Stiegenhaus.



Hausaufgaben machen im Treppenhaus


Geraldine fühlt sich meistens berufen, die Ammen dabei zu unterstützen, für Ordnung zu sorgen. Immerhin ist sie eine der Größten, und hält sich obendrein für die Stärkste. Heute aber, nach ihrem ersten Schultag in der neuen Stadt, hat sie das dringende Bedürfnis, sich dem Trubel ausnahmsweise zu entziehen, jetzt, nach der allgemeinen Abfütterung. So tut es auch Katie Maurice, also sitzen die beiden Mädchen auf den Stufen und hoffen, dass man sie nicht so schnell hier findet.
Im Licht der funzeligen Kerze tuschelt Geraldine im Flüsterton, „… Ich dachte, ich verliere die Nerven, als Mister Delarney mir diese Auszeichnung zukommen ließ!“, schwärmt sie gerade, indem sie erneut von ihrer Schiefertafel aufschaut, um ihre Freundin anzusehen. Allzu viel hat sie übrigens bisher noch nicht hingeschrieben mit ihrem Stücklein Kreide.
„Ich dachte anfänglich, er ist unnötig streng, oder ach, dass er mich vielleicht auf Anhieb nicht mag! Aber, Katie Maurice, am Ende ist meine Rechnung ja doch noch aufgegangen, trotz all der Widrigkeiten des Schicksals am Morgen! Wirst sehen, wenn ich meine Sache gut mache, werde ich im Handumdrehen Klassenbeste.“
Katie wirft einen vielsagenden Blick auf die fast unbeschriebene Schiefertafel.
„Ja ja, ich weiß schon. Aber ich muss mich doch auch so abmühen mit der Kreide, ich darf nur mit der spitzen Kante schreiben, um möglichst kleine Buchstaben hinzubekommen. Ich muss immerhin die ganze Tafel füllen.“
Die beiden sehen sich in die Augen. Katies Schweigen wirkt auf Geraldine etwas enervierend, das andere Mädchen kann doch sonst so plapperhaft sein. Und Katie kennt sie eben mittlerweile sehr gut …
„… Du fragst Dich, wie ich es anstellen will, oder?“
Katie Maurice nickt, mit einem etwas verhaltenen Lächeln. Die Spur von Mitleid in ihrem Blick wirkt eher provozierend auf Geraldine.
„Ich weiß aber so einiges über Präsident Grant. Täusche Dich da mal nicht! Die beiden amerikanischen Präsidenten Grant und Davis: Verstrickt in ihren höllischen Konflikt um Sklaverei, Baumwolle, Fabrikschlote, Eisenbahnen, und Ghost Rock, in dem es kein Erbarmen und keine Gewinner gibt! Und die Nordstaaten wollen ja … sie wollen, allem voran … nun, den Krieg gewinnen, das ist schon mal sicher!“
Katie Maurice kichert.
„Wir könnten Luca fragen, er hat doch im Krieg gekämpft. Nur eben für die falsche Seite. Oder Mister Perriwinkle, er ist ein Gelehrter. … Leider ist’s schon etwas spät für einen Spaziergang, und die olle Amme wird uns keinesfalls raus lassen, es ist ja längst rabenschwarze Nacht dort draußen! Du bist doch Amerikanerin, meine liebste Katie Maurice! Weißt denn Du nicht noch mehr Details über Deinen Präsidenten? Ich selbst bin erst seit einem Monat in Eurem Lande! Und es gab ehrlich gesagt bisher Wichtigeres, als Geschichtsunterricht nachzuholen und Veteranen zu befragen! Man darf nicht vergessen, dass dieses Kalifornien noch umkämpft ist, und gar nicht zur Union gehört. Wenn‘s nicht gar an die Südstaatler fällt. … Hm, Luca muss uns helfen. Ich hab’s: Wir passen ihn einfach morgen vor Sonnenaufgang ab, bevor wir uns auf den Schulweg machen müssen!“
Katie mustert Geraldine fragend.
„Dieser Aufsatz wird fertig, und ich werde ihn glänzend der Klasse vortragen! Koste es, was es wolle!“