Pen & Paper - Rollenspiel > Pen & Paper - Rollenspiel- & Weltenbau
Rückzug-Spielmechaniken: Was gibt es da?
sma:
Ich mache eine Regel dafür verantwortlich, dass sich Spieler so ungern zurückziehen wollen: "Attack of Opportunity". Diese Regel muss weg.
Die an sich korrekte Vorstellung, dass in einer Schlacht zweier Armeen dann die größten Verluste entstehen, wenn eine Seite sich unorganisiert zur Flucht wendet und die andere Seite z.B. mit Reiterei nachsetzen kann, führt im Rollenspiel, wo es ja meist um Zweikämpfe geht, dazu, dass sich eigentlich jeder überlegt, "ich könnte fliehen und einen Treffer kassieren" oder "ich könnte selbst angreifen, vielleicht sogar gewinnen und einen Treffer kassieren" und dann erkennt, dass die zweite Option fast immer die bessere ist. Also wird nicht geflohen.
Ein weiteres Problem ist, dass Spieler annehmen, dass alle NSCs genau so unbarmherzig wie ihre eigenen Charaktere sind, weil man ja keine potentiellen Gegner in seinem Rücken leben lässt und das sonst nur zu zukünftigen Problemen führt. Vielleicht hatten sie mal einen schlechten SL, der gegen sie gespielt hat, vielleicht haben sie nicht erkannt, dass ja gerade diese "Probleme" das sind, was das Spiel überhaupt ausmacht. Hier muss man umdenken und Regeln können helfen.
Eine Idee wäre, die "Menschlichkeit" bzw. das "Gewissen" der SCs zu simulieren.
Sagen wir, sie haben einen Wert für ihre Heldenhaftigkeit, gegen den man z.B. würfeln kann, um dem Tod von der Schippe zu springen. Starten wir mit 5. Jedes Mal, wenn ein SC ein denkendes empfindsames Wesen tötet (egal aus welchem Grund), wird mit 1W6 gewürfelt und ist der Wert größer, sinkt der Wert um 1. Um den Wert zum Überleben einzusetzen, muss man mit 1W6 kleiner-gleich würfeln. Heldentaten können den Wert auch wieder steigern.
Man kann natürlich auch eine erfolgreiche Flucht garantieren. Bei 13th Age (wurde ja schon erwähnt) garantieren die Regeln, dass eine Flucht immer gelingt, zu einem Preis, den die SL dann festlegt.
Bei Trail of Cthulhu oder dem Yellow King RPG gibt es explizit eine Fertigkeit um zu fliehen. Wer keinen Kämpfer spielen will, kann zumindest durch einen hohen Wert hier versuchen, dass Überleben des eigenen Charakters zu verbessern. Wie man es dann ausspielt, ist der eigenen Kreativität überlassen. Vielleicht prüft der Wert, ob man rechtzeitig das Auto starten kann. Vielleicht prüft er, ob man genug Konditition für eine wilde Flucht hat oder im letzten Moment ein gutes Versteck findet.
Cthulhu Dark geht noch einen Schritt weiter und sagt, dass eine erfolgreiche Flucht der einzige Weg ist, wie man den Kontakt mit einer Mythos-Kreatur überleben kann. Im Kampf (den man ja so dramatisch beschreiben kann wie man möchte) stirbt man unausweichlich. Aber als SL würde ich immer zulassen, dass das Opfer eines Charakters reicht, damit die andere entkommen können.
Allgemein ist glaube ich wichtig, dass ein Kampf nicht zwangsläufig nur mit dem Tod einer Seite enden muss. Gerne kann man ja auch Meta-Ebene festlegen, dass ein wie auch immer besiegter Gegner garantiert nicht (also in diesem Abenteuer) mehr gegen die SCs handeln wird, egal ob er niedergeschlagen oder auch nur so stark gedehmütigt oder verschreckt oder bestochen wird.
Oder man kann es im Setting vereinbaren. Wer bei RuneQuest einen Gegner tötet, statt ihn gefangen zu nehmen und von seinem Stamm auslösen zu lassen, lässt sich extrem viel Geld entgehen. Um das deutlich zu machen, weiß auch jeder SC, was er seinem Stamm wert ist, was hoffentlich dazu führt, dass der Spieler erkennt, dass der SC auch für die NSCs lebendig mehr wert ist als tot.
Das wilde Tiere z.B. bis zum Tod kämpfen, ist eine Unart, die entstanden ist, weil es ja für getötete Gegner XP gibt. Diese Regel muss natürlich auch sofort verschwinden bzw. derart verändert werden, dass auch der vertriebene Berglöwe die selben XP bringt wie der erschlagene. Und wer dem Tier die gesamten Rationen der Gruppe vorwirft, hat auch den "Encounter" geschafft, um den Preis, dass die Gruppe nun hungern wird.
IMHO müssen Kämpfe eigentlich so entworfen werden, dass sie keinen Spaß machen. Dann wird man als Spieler auch versuchen sie zu vermeiden. Wenn man sie aber sucht, weil es der zentrale Spaßbringer des Spiels ist, dann ist es auch nicht verwunderlich, dass Spieler nie einen Rückzug in Erwägung ziehen.
Ich mag ja Systeme, wo mit möglichst einer gerne auch abstrakten Probe eine Situation entscheiden wird, weil dann dieser eine Wurf auch eine Bedeutung hat.
So könnte eine Anführen-Probe für eine koordinierte Flucht sorgen. Die SL entscheidet, dass dabei jeder einen Ausrüstungsgegenstand verliert. Der Barbar entscheidet, dass er einem Gegner den Schild entgegenschleudert, was den aus der Bahn wirft. Der Händler wirft eine handvoll Münzen in die Gegner, von denen einige sofort anfangen, diese aufzusammeln und der Barde läuft durch die Wildnis, was seine schöne gerade neu gekaufte Kleidung ruiniert, die ansonsten Vorteil beim nächsten Auftritt gegeben hätte.
Gesonderte Flucht-Regeln braucht es glaube ich nicht. Die Situation ist jetzt keine andere als der Versuch, in einer Taverne durch einen Auftritt die Schlägerei zu stoppen oder auf dem überfüllten Markt einen Taschendieb nicht aus den Augen zu verlieren.
Jenseher:
Bei AD&D 2.5E gibt es nach dem Combat & Tactics (TSR2149) „Withdraw“. Man zieht sich umsichtig aus dem Kampf zurück und es gibt keine „Attack of Opportunities“. Es gibt natürlich auch Regeln für mögliche Verfolgungsjagden (die auch richtig gut sind).
In der Zeit, wo ich auf meiner eigenen Welt gemeistert habe, hat sich die Gruppe einige Male (also alle paar Sitzungen) aus Kämpfen zurückgezogen oder sich neu positioniert. Und wir haben natürlich nie mit Figürchen gespielt.
YY:
@sma:
Puh, das ist ein ziemlich gehaltvoller Beitrag, aus dem man einen kalorienreichen Zitatesalat machen kann ;D
--- Zitat von: sma am 23.08.2023 | 19:38 ---Ich mache eine Regel dafür verantwortlich, dass sich Spieler so ungern zurückziehen wollen: "Attack of Opportunity". Diese Regel muss weg.
--- Ende Zitat ---
AoO ist für mich auch ein rotes Tuch, aber ich würde nicht so weit gehen, die als zentrale Ursache für die "Nicht-Flucht" zu betrachten.
Einen gewissen übergeordneten Effekt des "Mikro-Anreizes", sich in jeder einzelnen Runde nicht zurückzuziehen, sehe ich schon, aber das geht mMn oft ins Irrationale. Also in der Form, dass die Notwendigkeit zur Flucht eigentlich offensichtlich ist und als Gegenargument kommt dann "aber dann krieg ich ja eine AoO!" ::)
--- Zitat von: sma am 23.08.2023 | 19:38 ---Ein weiteres Problem ist, dass Spieler annehmen, dass alle NSCs genau so unbarmherzig wie ihre eigenen Charaktere sind, weil man ja keine potentiellen Gegner in seinem Rücken leben lässt und das sonst nur zu zukünftigen Problemen führt.
--- Ende Zitat ---
Ja, das ist eine Frage der Spielumgebung, in der sich viele Spieler lange bewegt haben.
Man kann sich auch wieder umgewöhnen, aber das braucht ein bisschen guten Willen auf allen Seiten.
--- Zitat von: sma am 23.08.2023 | 19:38 ---Allgemein ist glaube ich wichtig, dass ein Kampf nicht zwangsläufig nur mit dem Tod einer Seite enden muss. Gerne kann man ja auch Meta-Ebene festlegen, dass ein wie auch immer besiegter Gegner garantiert nicht (also in diesem Abenteuer) mehr gegen die SCs handeln wird, egal ob er niedergeschlagen oder auch nur so stark gedehmütigt oder verschreckt oder bestochen wird.
--- Ende Zitat ---
Njaaahweißichnicht :)
Ich mag so knallhartes "Was die SC (nicht) machen, machen auch die NSC (nicht)" überhaupt nicht, weil es das SC-Verhalten zu sehr auf die Metaebene zieht.
Dabei geht es noch nicht mal so sehr darum, dass die SC sich auch verhalten dürfen wie die Axt im Wald, sondern andersrum, dass sie auch dann das Richtige(tm) tun, wenn sie nicht unmittelbar und garantiert was davon haben.
--- Zitat von: sma am 23.08.2023 | 19:38 ---Oder man kann es im Setting vereinbaren. Wer bei RuneQuest einen Gegner tötet, statt ihn gefangen zu nehmen und von seinem Stamm auslösen zu lassen, lässt sich extrem viel Geld entgehen.
--- Ende Zitat ---
Genau so was ist ein Paradebeispiel dafür, wie man das Ganze sinnvoll im Setting verankert. Davon hat man nämlich jenseits aller Metabetrachtungen einen ganz konkreten Nutzen.
Und so lässt sich auch mehr oder weniger automatisch hervorheben, wie unzivilisiert und gefährlich Gegner sind, die das aus irgendwelchen Gründen nicht so halten.
--- Zitat von: sma am 23.08.2023 | 19:38 ---IMHO müssen Kämpfe eigentlich so entworfen werden, dass sie keinen Spaß machen. Dann wird man als Spieler auch versuchen sie zu vermeiden. Wenn man sie aber sucht, weil es der zentrale Spaßbringer des Spiels ist, dann ist es auch nicht verwunderlich, dass Spieler nie einen Rückzug in Erwägung ziehen.
--- Ende Zitat ---
Ich spiele recht gerne ziemlich tödliche Systeme und da sind die Kämpfe für mich immer noch das Salz in der Suppe.
Da ist dann aber auch ein überlebter Kampf per se schon ein halb bis dreiviertel gewonnener...
Und man versucht natürlich, weniger zu kämpfen, aber das klappt so oft nicht, dass man trotzdem auf seine Kosten kommt, wenn man Kämpfe mag.
Kämpfe dürfen vor allem zwei Dinge nicht sein, damit man auch mal flieht: leicht und harmlos.
Erfüllt ist das z.B. dann, wenn man versuchen muss, die Startbedingungen sehr weit zu den eigenen Gunsten zu drehen. Dann geht man auch mal einen Kampf freiwillig ein, weil er nur ein gewisses Restrisiko hat.
Sobald ein Kampf aber halbwegs auf Augenhöhe stattfindet, versucht man i.d.R., sich zu verkrümeln und das Ganze später unter günstigeren Bedingungen noch mal zu wiederholen.
Das betrifft dann aber wieder beide Seiten und so kommt auch mal ein quasi einvernehmlicher Kampfabbruch nach einem ersten Schlagabtausch zustande.
--- Zitat von: sma am 23.08.2023 | 19:38 ---Gesonderte Flucht-Regeln braucht es glaube ich nicht. Die Situation ist jetzt keine andere als der Versuch, in einer Taverne durch einen Auftritt die Schlägerei zu stoppen oder auf dem überfüllten Markt einen Taschendieb nicht aus den Augen zu verlieren.
--- Ende Zitat ---
Spezialisierte Flucht-Regeln finde ich schon in Ordnung, aber gerade nicht so, wie das viele Systeme machen: als "Nachtanzen" von Verfolgungsjagden aus Film und Videospiel - das funktioniert für mich nämlich eher selten.
In einem alten Flucht-Faden hatten wir mal angerissen, dass man z.B. in der ingame-Realität verankert einen Preis bezahlen kann wie das Wegwerfen von Schild und Rüstung vor bzw. während der Flucht. Da ist es dann auch nachvollziehbar, dass ein Verfolger selten unmittelbar nachsetzen kann, aber seine Ziele erreicht hat er dann eben trotzdem und es fehlen dem Geflüchteten die Mittel für eine aussichtsreiche Rückrunde.
Ansonsten sollte Flucht mMn regelmäßig entweder ein stetiger Wechsel von weiträumiger Bewegung und Kampf sein (mit einem entsprechenden An- und Abschalten der Kampfregeln) oder vor allem eine "push your luck"-Angelegenheit, bei der der Verfolgte festlegen kann, welches Risiko er gehen will und der Verfolger stets entscheiden muss, ob er das mitgeht. Das greift dann natürlich wieder nur da, wo man überhaupt ansatzweise gleichauf ist, was die Manövrierfähigkeit und Geschwindigkeit angeht.
schneeland:
Weil es, wenn ich das richtig gesehen habe, noch nicht erwähnt wurde:
1a) Ältere D&D-Editionen bieten die Mechanik des Moralwurfs zu bestimmten Zeitpunkten (erster Treffer, halbe Trefferpunkte, Anführer tot, etc.), um zu bestimmen, wann ein Monster überhaupt wegläuft
1b) Wenn's dann ums Weglaufen geht, gibt es die Möglichkeit, Schätze und Proviant wegzuwerfen, und damit die Monster von der Verfolgung abzulenken
2) Savage Worlds bietet die Möglichkeit, in den Verfolgungsmodus zu wechseln - dazu wird eine gewisse Menge von Karten ausgelegt und über verschiedene Proben (hauptsächlich Rennen, aber eben auch was sonst so passt, z.B. Beschießen des Verfolgerfahrzeugs) versucht man Abstand zu gewinnen; wenn man genug Abstand hat, ist die Flucht gelungen. Das Ganze wird verkompliziert je nachdem, auf welchen Karten man landet.
Alexandro:
--- Zitat von: Maarzan am 23.08.2023 | 16:05 ---Idealerweise wird ein Rückzug bereits vor dem Angriff geplant - und begonnen, bevor man Leute zurücklassen muss.
--- Ende Zitat ---
In der Realität ist es umgekehrt: um Rückzug zu verhindern muss der Gegner aktiv werden*, für den Rückzug selber musst du erstmal nichts machen, außer wegzulaufen (wie gut das Weglaufen funktioniert ist wieder eine andere Sache, aber dazu müssen Gegner erstmal Verfolgung aufnehmen).
*aktiv werden heißt...
-vor dem Kampf: durch Auswahl des Kampfortes (geographische Hindernisse, die Rückzüge erschweren)
- während des Kampfes: durch Positionierung der eigenen Truppen (und Einkesseln funktioniert nur dann richtig gut, wenn man schonmal in Überzahl ist und/oder besser ausgerüstet)
- während der gegnerischen Flucht: durch die Entscheidung ob man überhaupt die Verfolgung aufnimmt (was bedeutet eine vorteilhaftere Kampfposition aufzugeben, und potentiell in eine Falle zu rennen)
Das habe ich noch in keinem (simulationistischen oder nicht-abstrakten gamistischen) Spielsystem gut abgebildet gesehen.
Auf der narrativen Seite liefert Urban Shadows recht gut: man braucht eine Gelegenheit um zu fliehen (die man normalerweise hat, außer der Gegner hat dafür gesorgt, dass man sie nicht hat - in diesem Fall muss man (mit Gewalt, Täuschung oder übernatürlichen Kräften) eine Gelegenheit erschaffen, welche das Fluchthindernis überwindet), dann wird gewürfelt wie kontrolliert oder überstürzt das passiert - im überstürzten Fall kann es sein, dass man während der Flucht verletzt wird, den Fluchtweg improvisieren muss, man Ausrüstung verliert, oder etwas ähnliches.
Navigation
[0] Themen-Index
[#] Nächste Seite
[*] Vorherige Sete
Zur normalen Ansicht wechseln