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"Gottheit" vs. "Gott" u. a.
Paßwächter:
Ich kann ebenfalls nur dringend empfehlen, den von Lichtschwerttänzer oben verlinkten Text von Devereaux zum Polytheismus zu lesen.
Für die, die das nicht möchten, gibt es dankenswerterweise eine Art TL;DR:
--- Zitat ---- Polytheistic religion is less about ethics or worldview and more about achieving practical results, by venerating, pleasing or appeasing the right gods.
- Because many gods can produce practical results for you – both good and bad! – you cannot pick and choose, but must venerate many of the relevant gods.
- A society learns how to do this by doing: successful practices are codified into tradition and repeated, creating a body of knowledge about the gods which is carried on through generations by tradition.
--- Ende Zitat ---
Übersetzung:
(Klicke zum Anzeigen/Verstecken)- Polytheistische Religion hat weniger mit Ethik oder Weltanschauung zu tun und mehr damit, praktische Ergebnisse zu erzielen, durch Verehren, Gefälligkeiten oder Beschwichtigen der richtigen Götter.
- Weil viele Götter praktische Folgen für dich bewirken können - sowohl gut wie schlecht! -, kannst du dir nichts aussuchen und wählen, sondern muß viele der relevanten Götter verehren.
- Eine Gesellschaft lernt, wie das geht, durch Handeln: erfolgreiche Praktiken werden als Traditionen festgeschrieben und wiederholt, woraus gesammeltes Wissen über die Götter entsteht, das über Generationen hinweg als Tradition weitergegeben wird.
Das heißt:
--- Zitat ---D. h. man kann sich innerweltlich nicht über die Götter selbst, sondern nur über indirekte Erfahrungen mit ihnen oder ihren Dienern und Mythen, Geschichten o. ä. unterhalten.
--- Ende Zitat ---
Wenn Devereaux richtig liegt (und es gibt allerhand, was dafür spricht, daß er richtig liegt), dann ist das falsch. Das, worüber man sich innerweltlich unterhält, ist ein Beziehungsgeschehen, und zwar gerade im mediterranen Polytheismus ein direktes Beziehungsgeschehen.
--- Zitat ---I want to start with a key observation, without which much of the rest of this will not make much sense: rituals are supposed to be effective.
--- Ende Zitat ---
Und wenn es kein Ritualgeschehen gibt – dann wäre zu prüfen, ob es sich beim Betrachteten überhaupt um etwas handelt, was mit „Götter“ oder „Gottheiten“ richtig bezeichnet ist.
Ich plädiere also für die Variante:
--- Zitat ---Von daher ist der Ansatz, dass die Charaktere von der Rolle der Götter in ihrer Welt erzählen und gar nicht versuchen, einen direkten Vergleich zu den Acht herzustellen, vielleicht sinnvoller.
--- Ende Zitat ---
Ein Gedankenspiel dazu:
(Klicke zum Anzeigen/Verstecken)Jammert es „Macht #0“, umgangssprachlich auch „Unbewegter Beweger“ oder „Big Bang“ genannt, herkömmlicherweise nicht als „Gott“ tituliert zu werden? Schert es „Macht #1a“, auch als „1. Hauptsatz der Thermodynamik“ bekannt, „Macht #1b“, auch als „2. Hauptsatz der Thermodynamik“ bekannt, sowie „Macht #1c“, auch als „3. Hauptsatz der Thermodynamik“ bekannt, wenn irgendwo in einem Ätna so ein Hephaistos seinen Hammer schwingt und darob als „Gott“ bezeichnet wird, ein schaumschlagender Poseidon Wellen macht oder ein Blitzewerfer mit Heimatadresse „Olymp“ sich gar als der „Erste der Götter“ aufspielt, sie selbst aber anders tituliert werden? Sie sind kategorial verschieden. Poseidon, Hephaistos und Zeus sind selbst aus dem Kosmos abgeleitete Wesen. Der „Unbewegte Beweger“ dagegen ist, woraus der Kosmos abgeleitet ist, inklusive der Themodynamischen, die ihn (also den Kosmos) wesentlich bestimmen. Daran können lokale Einflußhaber bzw. „Naturmächte“ vielleicht hier und da etwas rütteln (und somit „Wunder wirken“), aber nicht im Grundsatz. Hephaistos kann Funken sprühen lassen, aber er kann nichts dagegen tun, daß die Funken abkühlen und nur Asche bleibt. Poseidon mag Schaum schlagen und Wellen auftürmen können, aber er kann nicht Flüsse gewohnheitsmäßig den Berg hinauffließen lassen, weil er in dem, was er tun kann, doch den Gesetzmäßigkeiten der Thermodynamischen Folge leisten muß.
Der „Unbewegte Beweger“ inkorporiert solche „Naturmächtchen“ ungerührt; sie haben ihren Platz, ohne daß er sie auch nur zur Kenntnis nehmen müsste – er hat ihnen als „Big Bang“ einen Daseinsraum unter dem Regime der Thermodynamischen geschaffen, jetzt mögen sie darinnen tun und lassen, was ihnen die Thermodynamischen an Optionen einräumen. Jene verlangen von Göttern wie von den anderen Weltbewohnern ausgesprochen strikte Folgsamkeit: ihre Verkündiger, auch als „Physiker“ bezeichnet, versichern mit größter Überzeugung, daß Menschen an den Hauptsätzen nicht rütteln können, sondern alle Möglichkeiten nur innerhalb derer Grenzen bestehen. Dabei sind die Macht #-heiten von Ignoranz und Erkenntnis gleichermaßen ungerührt, Lobgesänge und Schmähgedichte rühren sie nicht. Ungehorsam muß nicht einmal verboten werden, weil er schlicht unmöglich ist. Das, was ist, erweist ihnen (mehr oder weniger) absoluten Gehorsam, ohne daß es ihnen auch nur im geringsten etwas ausmachen würde, dann das, was ist, kann gar nichts anders als im Rahmen des Gesetzten zu bleiben.
Der Gnarzpriester kann also gerne seine Wunderchen demonstrieren, wo und wie er mag. Er kann es nur innerhalb des Kosmos, den die Macht #-heiten bestimmen. Wenn alles Volk staunend bewundert, was der Gnarzpriester als Ausweis seines lokalen Einflußhaberchens zu demonstrieren imstande ist – es ist doch eingehegt in den Festlegungen der Macht #-heiten.
Entsprechend könnte man die fiktiven „Verkündiger“ an Scientizisten anlehnen, die andere Religionen als etwas betrachten, was sich kontingent entwickeln kann, was aber letztlich über Marotten nicht hinausgeht. Die Macht #-heiten haben nichts gegen solche Marotten innerhalb der Gegebenheiten, denen auch jene ja nolens-volens absoluten Gehorsam zollen. Sie sind viel zu unerheblich. Was andererseits nicht heißt, daß so ein lokales Machthaberchen nicht doch ein gewisses Potential hat, Dinge so oder so zu gestalten, und man sich darum näher mit ihm befassen sollte. (Siehe dazu v.a. auch Teil IV der Polytheismus-Reihe.)
Edit:
--- Zitat ---Ich glaube "zurechtdefinieren, wie's gerade in den Kram paßt" trifft das schon recht gut.
--- Ende Zitat ---
Auch hier: Devereaux lesen!
Wenn man nicht gerade eine komplett neue Religion rund um ein Nudel-Cthulhu o.ä. ins Leben ruft, bekommt man es mit Tradition zu tun. Und selbst die Neogenesen verheddern sich offenkundig in Traditionen.
Haukrinn:
--- Zitat von: Paßwächter am 7.05.2025 | 10:23 ---Das heißt:Wenn Devereaux richtig liegt (und es gibt allerhand, was dafür spricht, daß er richtig liegt), dann ist das falsch. Das, worüber man sich innerweltlich unterhält, ist ein Beziehungsgeschehen, und zwar gerade im mediterranen Polytheismus ein direktes Beziehungsgeschehen.
--- Ende Zitat ---
Ja und nein, da wäre rituelle Handlung von Erzählung, die wir im Polytheismus ja auch zu Hauf haben, zu trennen. Legendenwerk und Mythen untermauern natürlich die Nähe zu den Göttern, deshalb ist das schon wichtig. Das gilt insbesondere für die Götter, deren Wirkungsbereiche man im Alltag vielleicht nicht so häufig berührt. Neben dem direkten Beziehungsgeschehen gibt es damit weitere Anknüpfungspunkte. Der Zweck unterscheidet sich aber sicherlich von dem, was man in einer Buchreligion findet.
--- Zitat von: Paßwächter am 7.05.2025 | 10:23 ---Und wenn es kein Ritualgeschehen gibt – dann wäre zu prüfen, ob es sich beim Betrachteten überhaupt um etwas handelt, was mit „Götter“ oder „Gottheiten“ richtig bezeichnet ist.
--- Ende Zitat ---
Das wäre tatsächlich eine irrelevante Frage. Ob Kulthandlung oder nicht ist ja eine situative Entscheidung, keine kategorative. Die Unterscheidung in Götter, Geister, Dämonen, Elfen, Ahnen ist daran kaum festzumachen (und im polytheistischen Weltbild, vor allem bei "normalen" Vertretern, die keine explizite und dauerhafte Rolle im Kult wahrnehmen, auch unnötig). Übergänge sind da auch in der Mythenwelt oft fließend und nicht selten eine bloße Frage der Perspektive oder des Aufbaus einer Geschichte.
Ritualistik erlaubt auch keine Kategorisierung. Dem Hofkobold werden auch Opferriten zuteil, und Uropa und Uroma kommen da ebenfalls nicht zu kurz. Eigentlich ist das auch Teil des Pragmatismus, von dem Deveraux spricht.
nobody@home:
--- Zitat von: Ainor am 7.05.2025 | 08:40 ---Wieso? Schau dir an wie weltweit über dasselbe reale Ereigniss gesprochen/geschrieben wird. Ich glaube "zurechtdefinieren, wie's gerade in den Kram paßt" trifft das schon recht gut.
--- Ende Zitat ---
Im realen Leben hat's ja eben recht offensichtlich keine Götter, die Möchtegern-Ketzer kurzerhand per warnendem Blitzschlag oder ähnlichen recht unmißverständlichen Omen zurechtweisen könnten (oder wenn es sie i-wo doch geben sollte, geht ihnen Anbetung entweder völlig am göttlichen Allerwertesten vorbei oder aber sie haben so viel Angst vor was-auch-immer, daß sie sich einfach nicht aus der Wir-tun-so-als-wären-wir-gar-nicht-da-Deckung trauen). :) Entsprechend läßt sich dieses Denkschema schlecht in eine Fantasywelt mit "echten" Göttern übertragen, die zu solchen Dingen dann eben doch fähig sind...gerade Religion sollte da eigentlich nur so und nicht anders funktionieren, wie und als es den Großen Chefs des Universums (tm) gefällt.
Entsprechend gälte dann für den in diesem Faden angenommenen Fall von religiösen Totalisolationisten, daß es wohl ihre Götter selbst sein müssen, die mächtig genug sind, alle anderen Götter derselben Welt aus ihrem Revier herauszuhalten. Damit hätten wir dann aber auch gleich einen wesentlich größeren Konflikt als bloß einen rein grammatischen oder kulturellen...
Feuersänger:
Da möchte ich nobody beispringen bzw in die gleiche Kerbe hauen: Devereaux spricht nicht von realen Göttern in einer Fantasywelt, sondern von Fantasygöttern in einer realen Welt.
Somit haben seine Aussagen absolut
NULL
zwingende Relevanz für ein Fantasysetting in dem die Götter real sind.
Fantasy-Polytheismus kann vollständig genau so funktionieren, wie ein Settingdesigner sich das vorstellt.
Ainor:
--- Zitat von: nobody@home am 7.05.2025 | 11:24 ---Im realen Leben hat's ja eben recht offensichtlich keine Götter, die Möchtegern-Ketzer kurzerhand per warnendem Blitzschlag oder ähnlichen recht unmißverständlichen Omen zurechtweisen könnten (oder wenn es sie i-wo doch geben sollte, geht ihnen Anbetung entweder völlig am göttlichen Allerwertesten vorbei oder aber sie haben so viel Angst vor was-auch-immer, daß sie sich einfach nicht aus der Wir-tun-so-als-wären-wir-gar-nicht-da-Deckung trauen). :) Entsprechend läßt sich dieses Denkschema schlecht in eine Fantasywelt mit "echten" Göttern übertragen, die zu solchen Dingen dann eben doch fähig sind...gerade Religion sollte da eigentlich nur so und nicht anders funktionieren, wie und als es den Großen Chefs des Universums (tm) gefällt.
--- Ende Zitat ---
Aber sind es denn in der typischen Fantasy wirklich die "Großen Chefs des Universums" die andauernd elektrische Ermahnungen verteilen? Ich sehe da eher diskrete Supermächte die Sterbliche mit Magie bewaffnen und Stellvertreterkriege führen.
--- Zitat von: nobody@home am 7.05.2025 | 11:24 ---Entsprechend gälte dann für den in diesem Faden angenommenen Fall von religiösen Totalisolationisten, daß es wohl ihre Götter selbst sein müssen, die mächtig genug sind, alle anderen Götter derselben Welt aus ihrem Revier herauszuhalten. Damit hätten wir dann aber auch gleich einen wesentlich größeren Konflikt als bloß einen rein grammatischen oder kulturellen...
--- Ende Zitat ---
Naja, vielleicht lohnt es sich nicht Propheten an irgend so eine Insel am Ende der Welt zu schicken um zu versuchen dorthin zu expandieren.
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