Wir haben den Midgard 6 Schnellstarter "Die Umstürmten" gespielt (zumindest angefangen). Und wir waren positiv überrascht.
Ich habe vor knapp 40 Jahren mit Midgard begonnen und bis Anfang der 1990er gespielt. Danach waren andere Systeme interessanter und nach einem kurzen Versuch vor ein paar Jahren, nochmal Midgard 3 auszuprobieren, war klar, dass man manche Dinge besser in guter Erinnerung behält als sie tatsächlich noch mal neu zu spielen.
Midgard 6 fühlt sich für mich, der damit nach 30 Jahren nochmal auf Midgard blickt, immer noch vertraut an, ist aber angenehm vereinfacht und sanft modernisiert. Es gibt immer noch LP und AP, man würfelt gegen Zielwert 20, es gibt kritische Erfolge und Misserfolge (auch wenn "stolpert und verstaucht sich den Fuß" jetzt durch verliere 4 AP ersetzt wurde), Fertigkeiten spielen die zentrale Rolle, Grad statt Stufe, keine festen Klassen, und zu viele unnötige Abkürzungen.
Uns gefiel, dass Attribute verschwunden sind, die Fertigkeiten auf 24 eingedampft wurden und die kleinen Zauber Spaß machten. Die Schicksalsmünzen funktionieren wie Bennies von Savage Worlds. Und die einfache Vor- und Nachteilmechanik ist seit D&D 5E offenbar ein Industriestandard, der gut funktioniert.
Die Beispielcharaktere sind allgemein interessant gebaut, mit Gaben, Markeln und einigen Macken, die das Rollenspiel fördern. Es wird klar, dass es im Spiel nicht nur um Kämpfen geht, was ich sehr begrüße. Im Gegenteil, durch die konstanten LP bleiben Kämpfe immer gefährlich, egal wie erfahren die Charaktere sind.
Früher waren Midgard-Charaktere Nichtskönner. Dies Gefühl hatten wir bei den Beispielcharaktere nicht. Das mag daran gelegen haben, dass sie bereits Grad 3 sind. Oder aber, dass die vergleichenden Erfolgswürfe die Notwendigkeit, immer mindestens eine 20 zu würfeln auf "sei besser als dein Gegner" abmildern.
Der Schnellstarter ist (wie auch der umfangreichere Playtest Guide, den ich nur kurz durchgeblättert habe, aber nicht lesen wollte weil zu umfangreich) modern und übersichtlich layoutet. Für meinen Geschmack hätte er noch stärker bebildert sein können. Und es würde nicht schaden, einige Tabellen mehrspaltig darzustellen.
Die Regeln sind auf ~20 Seiten zusammengefasst, inklusive der Beschreibung der Zauber der fünf Beispielcharaktere. Das finde ich beherrschbar und noch nicht abschreckend lang. Wir mussten ein paar Mal nachschauen, wie genau EWs und VEWs im Kampf funktionierten, doch dann flutsche es. Ein oder zwei Beispiele wären hier gut gewesen.
Die Weltbeschreibung im Schnellstarter ist quasi nicht existent (im Playtest Guide findet man 4 Textseiten voll mit weiteren Infos, damit man zumindest mal weiß, woher die Charaktere kommen) und fokussieren sich auf eine "Archipel der Winde" genannte Region aus einem Dutzend benannter Inseln, von denen aber nur eine relevant ist und dort auch nur eine Stadt, von der es eine schicke Grafik mit 16 Schauplätzen gibt, deren Stadtviertel jeweils beschrieben sind.
Dennoch stellt sich da bei mir noch keine Vorstellung von der vorherschenden Kultur ein. Ich weiß, dass man Vergleiche "ähnlich zu Griechenland" auf jeden Fall vermeiden will, aber so ist es jetzt einfach generische Fantasy-Suppe. Wie warm ist es da denn? Wie sind die Leute gekleidet? Wie sieht es da aus? Wie wirkt sich die ganze Magie-Artefakt-Technologie denn auf den Alltag aus? Und wenn es da so nett und freundlich ist und alle sich den schönen Künsten widmen, wovon leben die? Handelszölle? Und warum kommen da überhaupt Schiffe hin? Die Insel liegt doch JWD.
Der Schnellstarter überschüttet mich dabei mit Eigennamen und schafft es leider nicht, diese übersichtlich genug zusammenfassen. Ich musste beim Leiten laufend blättern und habe dennoch die Hälfte davon wieder vergessen. Aber ich bin auch extrem schlecht mit Namen. Und Apropos Namen: Man soll sich mit einigen Zauberschülern anlegen, doch gerade da fehlt alles: Keine Namen, keine Beschreibung, nichts außer Generischer Gegner Nummer 1 bis 5.
Das PDF bemüht sich, ab und zu einen Seitenhinweis zu geben, aber dass sind nie Hyperlinks, was nicht verstehe, wieso das nicht selbstverständlich ist. Wenn das euer Layoutprogramm nicht kann, benutzt ein besseres.
Es hilft allerdings, das PDF in Notebook ML zu laden und dann Fragen zu stellen. Geht schneller als blättern. So konnte ich mir auch spontan weitere NSCs bauen lassen, auch wenn ich die nicht gebraucht habe.
Das Abenteuer hat ca. 30 Seiten und könnte theoretisch ohne Kampf auskommen. Am Anfang wird zum Ausprobieren eine Kneipenschlägerei provoziert, den meine Spieler aber – wissend dass die kommen sollte – extra vermieden haben.
Wir sind mit dem Abenteuer noch nicht durch. Ich würde sagen, man braucht wohl 3 Sessions, je nachdem wie tief die Spieler in die Welt eintauchen wollen oder wie effektiv sie ermitteln. Die Geschichte ist recht gradlinig und benötigt große Mengen Information-Dump, aber eigentlich kein Zutun der Spieler, sprich, es gibt nichts zu schlussfolgern. Damit ist es IMHO kein gutes Ermittungsabenteuer. Mal wird einfach von A nach B und C geschickt.
Ich habe mir übrigens Selura's Lied mit Suno gebastelt.
Merkwürdig finde ich, dass es zwar heißt, die Sage sei bekannt, aber ist die Sage denn identisch zu dem Gedicht? Ich meine, das beschreibt ja in erster Linie Gefühle. Eine Sage wäre IMHO etwas anderes.
Wie auch immer, irgendwie kann man's retten. Von den Regeln waren wir jedenfalls recht angetan und positiv überrascht, wie spielbar sie waren. Beim Setting gibt es noch eher Fragezeichen, weil bis auf jede Menge Namen aktuell noch wenig konkret ist.