Warnung: Dies ist ein GNS-Thread. Und ein Rant. Und ich werde Kraftausdrücke verwenden.[/i]
Gestern kamen wir im Chat mal wieder auf mein mangelndes Verständnis von Narrativismus à la Forge zu sprechen. Der Grund, warum ich solche Schwierigkeiten damit habe, dürfte m.E. darin liegen, dass ich den Fehler mache, einen Sinn darin zu suchen.
Das Problem: Narrativismus ist, wie die Experten bestätigen werden, nicht gleich Story.
Was ist Narrativismus?Narrativismus (tm) ist Prämisse. Prämisse ist eine offene Frage von grundsätzlicher Bedeutung für die Protagonisten. Daran schließt sich an: Narrativismus ist, wenn die Protagonisten Entscheidungen zu treffen haben. Jede Szene muss entweder eine solche Entscheidung beinhalten, oder darauf hin arbeiten, oder deren Auswirkungen beleuchten. Es geht um schwierige persönliche Entscheidungen, wie in "Bang". Also nicht einfach nur ob sie aus dem Fenster springen oder ihr Glück mit der Feuertreppe versuchen. Sondern Entscheidungen, mit denen sie eine ganz grundsätzliche Aussage darüber treffen, was für eine Art Mensch sie sind.
Was ist Story?Story ist eine gute Geschichte. Was macht eine gute Geschichte aus? Schwere Frage. Es geht mir hier nicht um künstlerischen Wert, sondern um Unterhaltsamkeit. Ich orientiere mich mal an dem Stand der Literaturwissenschaft, wie er bei James N. Frey in bezug auf "spannende Romane" wiedergegeben wird.
Das bedeutet zunächst mal interessante Charaktere, einen zentralen Konflikt und einen dramatischen Spannungsbogen, den die Veränderung der Protagonisten durch den zentralen Konflikt bildet. Hinzu kommen Dinge wie glaubwürdige Motivation, Komplikationen, interessante Schauplätze, Atmosphäre, Dialoge mit Witz, Ausschöpfen der Maximalkapazität der Charaktere, poetische Gerechtigkeit (oder auch mal echte Tragik), keine flache Melodramatik, und noch ein paar andere Kleinigkeiten.
Prämisse und KonfliktIch habe die Prämisse in Sachen Geschichte zunächst rausgelassen, weil sie dort eine ganz andere Bedeutung hat als beim Narrativismus. Bei der Geschichte
ist die Prämisse die Veränderung der Protagonisten durch den zentralen Konflikt. Sie ist
keine Fragestellung von elementarer Bedeutung. Die Veränderung im Sinne einer guten Geschichte kann jede Entwicklung eines Charakters zwischen zwei Polen sein. Sie muss überhaupt nichts mit essentiellen Entscheidungen zu tun haben, sondern kann so banal sein wie "am Anfang hat sie Krebs, am Ende ist sie geheilt". Oder etwas vielschichtiger: "Am Anfang ist er ein reicher, unglücklicher Mann, am Ende ist er arm und glücklich."
Der zentrale Konflikt in einer Geschichte ist der Motor, der diese Entwicklung vorantreibt. Er besteht aus einem Ziel, das den Charakter antreibt, und einem Widerstand, der ihm entgegen gesetzt wird. Solche Konflikte gibt es auch im narrativistischen Rollenspiel, aber sie haben nichts mit der Prämisse zu tun. Prämisse im Nar-Sinne ist nur ein innerer Konflikt des Charakters zwischen zwei Handlungsalternativen, wobei für beide Alternativen gute Gründe sprechen und durch die Wahl des Charakters eine fundamentale Aussage getroffen wird. Wir erkennen: Diese Definition ist viel enger!
Wenn ich im Folgenden das Wort Prämisse benutze, meine ich es so, wie es die Forge definiert.
Geile Geschichte, aber leider wieder nur Sim und Gam, sorryEs gibt eine Menge spannende, beliebte Geschichten, in denen Entscheidungen im Sinne des Narrativismus nicht vorkommen. Im Film sowieso. Ich hatte als Beispiele gestern "Indiana Jones" und "Stirb Langsam" genannt. Fredi wollte mir weismachen, da gäbe es Prämissen und Entscheidungen. John McClaine muss sich entscheiden, ob er in dem Hochhaus bleibt und seine Frau zu retten versucht, oder ob er abhaut.
So ein Schwachsinn!! Erstens stimmt das nicht, weil John gar nicht aus dem Hochhaus rauskommt. Die Entscheidung ist also, verkriecht er sich irgendwo, oder unternimmt er etwas. Was wäre da die Prämisse? "Lohnt es sich, sein Leben für jemanden, den man liebt, zu riskieren?" Oh bitte!!!!!
Fredi, wenn wir auf dem Treffen eine schöne narrativistische Runde spielen wollen, und ich beginne mit dem Anfang von "Stirb Langsam" - du würdest mich Auslachen. Das wäre doch kein Narrativismus. Durch Gänge schleichen, Gegner ausschalten, ach komm schon. Zeig mir doch mal die Szene in "Stirb Langsam", in der Johns Spieler die Prämisse angespielt hat. Das war dann wohl die allererste Szene in dem Film, oder was?! Und danach geht's eigentlich nur noch darum, die fiesen Ganoven platt zu machen. Also echt. Wäre "Stirb Langsam" das Ergebnis einer Rollenspiel-Session, es wäre Gam pur gewesen. Und es ist eine super Geschichte.
Voll Nar, aber scheiß GeschichteOkay, funktioniert es denn anders herum? Wenn man narrativistisch spielt, hat man dann auch die Garantie, dass eine gute Geschichte dabei heraus kommt? Sind es wirklich die besten Geschichten, die sich um schwierige, moralische Entscheidungen drehen? Das dürfte wohl reine Geschmackssache sein.
Tatsache ist, dass die Nar-Definition keinerlei Aussage über Spannungsbogen, Maximalkapazität der Charaktere, Atmosphäre usw. trifft. Es wird Konflikte geben - eine bestimmte Art von Konflikten -, und eine Entwicklung der Charaktere - eine bestimmte Art von Entwicklung. Das sind, zugegeben, wichtige Grund-Bausteine für eine gute, spannende Geschichte.
Intuitiv werden die Spieler oft den Rest für eine gute Geschichte liefern. Bei dieser Art von Spiel
keinen Spannungsbogen hinzukriegen, dürfte ein Kunststück sein, das den wenigsten gelingt. Aber es ist durchaus denkbar, dass den ganzen Abend voll die Prämisse angespielt wird, es jedoch kein bisschen Atmosphäre und keinen einzigen guten Dialog gibt, dass die durch das Spiel erzählte Geschichte voller Platitüden und Klischees steckt, kurz, dass diese Geschichte keinem Leser oder Fernsehzuschauer gefallen würde.
Nar alleine macht also noch keine gute Geschichte. Man könnte vielleicht sagen: Gutes Nar-Spiel macht eine gute Geschichte. Eine bestimmte Art von guter Geschichte. Es gibt aber auch andere gute Geschichten, z.B. die meisten Geschichten, die überhaupt je erzählt wurden. Die sind dann kein Nar, sondern Sim/Gam.
Und das ist immer noch kein Nar!Soweit, so gut. Und jetzt kommt die Krönung. Im Narrativismus geht es um besondere Entscheidungen, erinnern wir uns? Aber: Wenn die Entscheidungen
aus dem Charakter heraus getroffen werden, der Spieler also einfach nur sich in den Charakter hinein versetzt und dann aus dessen Sicht die Entscheidung trifft, dann ist es Simulationismus. "Exploration: Character", um genau zu sein. Wenn der Spieler die Entscheidung wegen der Story trifft, dann hat er GNS nicht verstanden (s.o.)
Aber wenn er die Entscheidung trifft, um
durch sein Spiel die Antwort auf die Frage zu geben, die die Prämisse stellt, dann weißt du, dass er mindestens 1 Jahr intensiv die Forge studiert hat.
Ok, was soll diese Scheiße?! Schneiden wir jetzt dem Spieler den Kopf auf und gucken rein, was für eine Motivation ihn getrieben hat? Selbst wenn wir es täten, würden wir bei einem normalen Nicht-Forgianer wahrscheinlich nur so was finden wie "Hey, es wäre doch jetzt cool, wenn mein Charakter sich so entscheiden würde." Das müsste dann wohl reichen. Andererseits zeige man mir den Spieler, der eine Entscheidung
nur aus dem Charakter heraus trifft und nicht danach, was er cool fände. Dabei dürfte es sich um eine relativ seltene, vorwiegend in Skandinavien anzutreffende Erscheinungsform handeln.
Aber die Sache mit dem Kopf aufschneiden funktioniert ja nun nicht so richtig. Und den Spieler fragen? Der weiß die Antwort doch selber nicht! Aber zum Glück gibt es was viel besseres:
Instance of Play. Was ist das nun wieder? Der Guru sagt:
Instance of Play
Sufficient time spent on role-playing necessary to identify all features of System in operation. According to the Big Model, once these features are identified and evaluated in terms of a given group's Social Contract, then Creative Agenda (or its absence) may also be identified. In practice, an Instance of play is rarely shorter than a full session, and may be much longer.
Hä?! Ich lese den Satz noch mal. Und noch mal. Also. Mit anderen Worten: Das wird man dann schon irgendwann sehen. *tock*
Noch mal von vorn: Also es kann von außen gleich aussehen, nur das eine Mal ist es Nar, das andere Mal ist es Sim. Je nachdem, warum der Spieler es tut. Wer weiß, vielleicht tut er es heute aus dem einen und morgen aus dem anderen Grund, je nachdem, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Öhm ja. Gut, dass wir mal drüber gesprochen haben.
FazitDas Problem an GNS ist der verdammte Narrativismus. Es ist schon fast unmöglich, festzustellen, ob überhaupt Narrativismus vorliegt. Erschwerend kommt das Forge-Dogma des kohärenten Spiels hinzu. Das führt dann wohl dazu, dass Spieler, statt einfach nur durch ihr Spiel eine gute Geschichte zu erzählen, irgendwelchen Phantomen von "problematic human issues", "adressing premise" und "giving the answer through play" hinterher jagen. Damit sie auch ja
richtig spielen. Ich persönlich halte das für einen riesen Haufen Dung.
Ron Edwards ist offenbar der Meinung, dass diese Art von Geschichten, Geschichten mit einer Aussage, Geschichten, in denen elementare Entscheidungen im Mittelpunkt stehen, die besten Geschichten sind. Das ist aber sein ganz subjektives Empfinden und völlig ungeeignet, es für ein Rollenspiel-Modell zu verwenden, das für
alle Spieler Sinn machen soll. Hinzu kommt, dass diese Art von Geschichten definitiv nicht die einzige Art von Geschichten sind, die sich großer Beliebtheit erfreuen.
Mit dieser Nar-Definition landen "Storytellers", die eine andere Art von Geschichten bevorzugen, automatisch in den Kategorien Sim oder Gam, obwohl diese Kategorien ihnen gar nicht gerecht werden. Das finde ich, hm, wie drücke ich das am besten aus? Bescheuert.